Bonzentochter. Michaela Martin

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Название Bonzentochter
Автор произведения Michaela Martin
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783944224121



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seine Entscheidung, gutheißen konnte ich diese trotzdem nicht. Dennoch fand ich, meinem Vorurteil zum Trotz, Klaus gleich sympathisch, wenn ich mich auch nicht gleich in ihn verliebte.

      Klaus gestand mir ein paar Wochen später, dass es bei ihm Liebe auf den ersten Blick gewesen war, wovon ich selbst aber nichts merkte. Das mag daran gelegen haben, dass ich, zumindest noch mit halbem Herzen an meinem Freund Jürgen hing, der allerdings im fernen Marburg studieren wollte. Die Beziehung zu Jürgen dauerte schon fast zwei Jahre und hielt überhaupt nur deshalb so lange, weil wir ständig getrennt waren. Ich lebte bis zum Abitur in der Nähe von Frankfurt, er in Marburg. Jürgen und ich passten einfach nicht zusammen, das wussten alle anderen von Anfang an und wir beide ahnten es inzwischen auch. Nach dem Abitur war uns jedenfalls klar geworden: Keiner liebte den anderen so sehr, als dass er auf seinen Lieblingsstudienort verzichtet hätte. Meiner war München, was jeder verstehen konnte, und seiner eben Marburg, warum auch immer. Heute weiß ich, der Grund hieß Gesine und wurde 18 Monate später seine erste Ehefrau. So weit waren wir aber im Oktober 1972 noch nicht und deshalb tat sich Klaus erst einmal schwer mit mir, obwohl er sich von Anfang an sehr anstrengte.

      Nachdem wir unsere vollständigen Immatrikulationsunterlagen persönlich bei der zuständigen Verwaltungsstelle eingereicht hatten, beschlossen wir, zur Belohnung erst einen Kaffee trinken und danach ins Kino zu gehen. Es war „Der Diktator“ von Charly Chaplin. Der Film ist heute noch Kult und gefiel uns beiden sehr. Wir stellten eine erste Gemeinsamkeit fest, unsere Begeisterung für Kino. Am späten Nachmittag trennten wir uns mit den Worten: „Man sieht sich!“

      Zugegeben eine sehr optimistische Form der Verabredung in Anbetracht der Tatsache, dass München rund eine Millionen Einwohner hat und circa 20.000 davon Studenten sind. Aber es stellte sich sehr bald heraus, dass Klaus nicht umsonst bei der Bundeswehr gewesen war, denn er ging in der darauffolgenden Woche generalstabsmäßig vor. Ich hatte ihm erzählt, dass ich im Münchner Osten zur Untermiete wohnte und deshalb immer mit der Straßenbahn der Linie 4 und der U-Bahn zur Uni fuhr. Also was tat mein Bundeswehr geschulter neuer Verehrer Klaus? Er informierte sich darüber, wann die Grundkurse für Juristen stattfanden und stellte sich dann an die Straßenbahnhaltestelle Perusastraße und wartete auf mich. Am dritten Tag hatte er Erfolg. Er stand schon an der Haltestelle, als ich kam und strahlte mir entgegen. Ich freute mich auch, ihn so unerwartet und bald wiederzusehen, denn ich kannte noch nicht so viele Menschen in München, mit denen ich mich so anregend unterhalten konnte wie mit Klaus. Leider hatte Klaus an diesem Tag viel Pech gehabt. Er hatte seinen Haustürschlüssel am Morgen zu Hause liegen lassen und konnte deshalb nicht in seine Studentenbude, bis sein Vermieter von der Arbeit nach Hause kam. Das konnte aber noch leicht zwei bis drei Stunden dauern. Es regnete fürchterlich und wir waren beide trotz Schirm schon ziemlich durchnässt. Deshalb schlug ich ihm spontan vor, mit zu mir nach Hause zu kommen: „Ich koche uns einen Tee oder Kaffee und wir quatschen einfach. Wir kriegen die Zeit schon rum, bis dein Vermieter nach Hause kommt.“

      Klaus war sichtlich dankbar über meinen Vorschlag, denn er sagte sofort zu, wenn auch unter dem kleinen Vorbehalt: „Aber du musst mir versprechen, dass ich nächste Woche einmal für dich kochen darf, als kleines Dankeschön dafür, dass du mir heute Asyl gewährst.“

      Klaus hatte instinktiv meinen schwächsten Punkt getroffen, nämlich meine große Leidenschaft für gutes Essen. Meine beiden Eltern konnten sehr gut kochen, ich hingegen leider nicht. Das Essen in der Mensa war ungenießbar und das in den Münchner-Kneipen unbezahlbar. Deshalb litt ich unter einer starken Unterversorgung an warmen Mahlzeiten, seitdem ich in München lebte. Ich war für jedes Angebot, das diesen leidigen Zustand unterbrach, sehr dankbar.

      Erstaunlicherweise bin ich nie auf die Idee gekommen, Klaus zu fragen, warum er an diesem Tag an der Haltestelle Perusa-straße der Linie 4 stand. Er fuhr nämlich immer mit der S-Bahn in eine ganz andere Richtung und das wusste ich auch. Als er mich viele Wochen und warme Mahlzeiten später über seine Strategie aufklärte, war ich sehr gerührt, vor allem aber sehr geschmeichelt über so viel Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Jürgen endgültig der Vergangenheit an, sodass ich mich auch gefühlsmäßig einem neuen Mann zuwenden konnte. Seit über fünf Jahren sind wir jetzt ein Paar, seit drei Jahren leben wir zusammen und seit einem Jahr zu dritt mit meiner kleinen Schwester Sylvie.

      Als ich Klaus meinen Eltern vorstellte, sah ich ihren Mienen sofort an, dass sie von ihm alles andere als begeistert waren. Als geübte Tochter bemerkte ich es an den Blicken, die sie sich gegenseitig zuwarfen. Dabei gab es an Klaus auf den ersten Blick überhaupt nichts auszusetzen. Gegenüber meinen Verflossenen hatte er einen sichtbaren Vorteil, er war nämlich deutlich größer als ich, mit 1,86 m überragte er mich um fast zehn Zentimeter. Er hatte keine Glatze, keinen Bauch und er kaute nicht an den Fingernägeln, die dazu noch sauber waren. Dreckige, abgefressene Fingernägel sind bei meinen Eltern ein K.o.-Kriterium. Klaus konnte perfekt mit Messer und Gabel essen, was insbesondere für meinen Vater besonders wichtig war, schließlich hatte er seinen Töchtern schon mit knapp fünf Jahren beigebracht, wie man Hähnchen mit Messer und Gabel zerteilt und isst. Ich denke heute noch mit Grauen an die vielen Übungsstunden in unserer Lieblingskneipe im Dorf. Einmal in der Woche ging es zum Hähnchenessen in unsere Dorfkneipe „Zur glücklichen Henne“. Wenn unser Vater uns in die Anatomie des deutschen Huhns einweihte und uns freundlich zum Zerlegen des knusprigen Hähnchens mit Messer und Gabel aufforderte, hielt unsere Mutter jedes Mal den Atem an. Es dauerte nicht lange und eine ihrer drei Töchter stellte die Frage nach dem „Warum“: „Warum müssen nur wir das Hähnchen mit Messer und Gabel essen? Alle anderen Menschen um uns herum essen es doch auch einfach mit den Fingern!“ Unser Vater antwortete über Jahrzehnte, so lange dauerte es nämlich, bis auch die Jüngste die Anatomie des deutschen Grillhähnchens begriffen hatte, immer gleich: „Erstens sind wir nicht „andere Leute“, sondern die Familie Schneider und die isst Hähnchen mit Messer und Gabel und zweitens werdet ihr es mir noch einmal danken, dass ihr frühzeitig anständige Tischmanieren gelernt habt.“ Aus heutiger Sicht, fast 20 Jahre später, gebe ich ihm Recht. Vor kleineren Missgeschicken blieben wir alle nicht verschont, auch unser Vater nicht. Der eine oder andere Hähnchenschenkel flog schon mal eine letzte Runde und landete auf dem Boden, statt in unserem Magen. Die anderen Gäste verfolgten das Schauspiel aus sicherer Distanz mit einer Mischung aus Mitleid und Bewunderung.

      Klaus allerdings hat eine ganz besondere Eigenschaft, die in unserer Familie nicht besonders ausgeprägt ist. Er kann gut zuhören und er quatscht nicht dazwischen, wenn sich andere Leute unterhalten, sondern wartet, bis man ihn aufmunternd anschaut. Allein wegen dieser Eigenschaft hätten ihn meine Eltern eigentlich lieben müssen. Ich vermute jedoch, dass sie ihm diese Rücksichtnahme als Schwäche auslegten. Tatsache ist, dass Klaus im Kreis unserer Familie deutlich weniger Gesprächsanteile hat als alle anderen Familienmitglieder. Wenn er allerdings zu Wort kommt, dann verschafft er sich auch Gehör. Er redet nur, wenn er gefragt wird oder wenn er etwas von „Bedeutung“ zu sagen hat. Meist sitzt er schweigend in unserer Runde, was meine Mutter zu der Bewertung veranlasste: „Der arme Klaus!“

      Ich kann es schon nicht mehr hören, immer heißt es: „Der arme Klaus, kommt bei dir nicht zu Wort!“ Der arme Klaus muss waschen, kochen, putzen, der arme Klaus dieses und der arme Klaus jenes. Ich komme mir schon vor wie eine Xanthippe. Schließlich kann ich ja nichts dafür, dass der Mann den Mund nicht aufbringt, von mir aus kann er reden, so viel er will. Ich bin mir fast sicher, dass meine Mutter inzwischen die Vorteile von Klaus zu schätzen weiß. Wahrscheinlich ist sie sogar der Meinung, dass Klaus eine nettere, liebenswürdigere Frau verdient hätte als ihre älteste Tochter, aber sie nimmt ihn nach wie vor nicht ganz für voll. Klaus ist einfach zu nett, um von meiner Familie hoch geschätzt zu werden.

      Ich nehme mir fest vor, Klaus heute Abend besonders liebevoll zu begrüßen, auch dann, wenn er mit zig Einkaufstüten vor mir steht. Auf keinen Fall darf ich heute meckern, selbst dann, wenn er wieder einmal die ganze Lebensmittelabteilung des Kaufhofes am Marienplatz aufgekauft hat und ich heute schon weiß, dass wir einiges davon spätestens am Mittwoch wegschmeißen müssen, weil wir es gar nicht alles aufessen können.

      Klaus gehört zu der ungewöhnlichen Sorte Mensch, die mit ständig wachsender Begeisterung durch die Lebensmittelabteilungen sämtlicher Einkaufshäuser Münchens geht. Dabei besteht immer die Gefahr, dass er einem wahren Kaufrausch erliegt. Er scheint geradezu magisch