Beethoven. William Kinderman

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Название Beethoven
Автор произведения William Kinderman
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990405642



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einem Punkt dieser Linie, die sich über die Sonate Pathétique, den Trauermarsch der Eroica und die fünfte Sinfonie bis zur letzten Sonate op. 111 verlängert. Eine kurze Vorschau auf Beethovens Oper illustriert die Verflochtenheit von Ästhetik und Ethik, die den Großteil seines Werks prägt. Trotz eines anderen Notenschlüssels geistert die dunkle Rhetorik der Joseph-Kantate durch die Orchestermusik zu Pizarros Kerker. Tiefe, weiche Oktaven auf F wechseln mit hohen, durchdringenden Akkorden in den höheren Registern, gekennzeichnet durch Holzbläser und Hörner. Die beiden hohen Anfangsakkorde steigen vom C zum Des – eine Phrase, die sich darauf bei den Streichern umkehrt, um zu einem bewegten Gestus zu werden, einem Seufzen voll des menschlichen Leides. Mit dem Wissen um die Kantate können wir diese Eröffnungsakkorde – beide forte – als etwas erkennen, dessen Sinn durch seine Vorgeschichte geprägt wurde. Beethoven hörte diese krassen Klänge sicherlich als einen Widerhall der »Tot, Tot«-Stimmung aus dem Eingangs- und Schlusschor seiner Kantate.

      Der letzte Akt des Fidelio umfasst – vor dem Hintergrund der Befreiungsidee – eine ansteigende klangliche Polarität von f-Moll nach C-Dur. Beethovens Wahl von f-Moll, das eine perfekte Quinte unter C liegt, hilft in diesem Zusammenhang mit, die Ahnung von Tiefe zu vermitteln. Innerhalb der Grenzen eines einzigen Schauplatzes entfaltet sich das Drama über den Zeitraum eines einzigen Tages – die Komprimierung von Zeit und Ort bündelt die Handlung des Fidelio. Pizarros Gefängnis wirft seinen Schatten auf die Behausung Roccos, des Kerkermeisters, und seiner Tochter Marzelline. Aufgrund des moralisch kompromittierten Umfelds, wie es ein politisches Gefängnis darstellt, bewegen sich ihre Existenzen in den engen Grenzen von Eigeninteresse und ambivalentem Verhalten. Unter all jenen, die hier eingekerkert sind, ist es Florestan, der im tiefsten Verlies weggeschlossen wurde – buchstäblich lebendig begraben, und zwar direkt unter den Wohnräumen von Rocco und Marzelline.

      Leonores Odyssee – ihr Abstieg in die dunklen Verliese, gefolgt vom Aufstieg in ein helles Licht, das für die Aufklärung steht – wird deutlich in jenen symbolischen musikalischen Elementen angekündigt, die Beethoven aus seiner Joseph-Kantate extrahierte. Das Misslingen von Josephs Reformen, der Verrat an den Prinzipien der Französischen Revolution oder Napoleons Rückkehr zur Tyrannei – all das ist Teil eines spannungsreichen Prozesses, der bis heute fortdauert. Der Aufstieg der Menschen zum Licht mag als politischer Vorgang problematisch bleiben, doch die negativen historischen Beispiele wie Despotismus und repressiver Machtmissbrauch erinnern daran, dass es unerlässlich ist, Zynismus zu zügeln und ethische Normen im Auge zu behalten.

      Der hymnische, feierliche Klang der Sopranarie in seiner Kantate erinnert an die beharrliche Standhaftigkeit des humanistischen Geistes in Beethovens Kunst. »Da stiegen die Menschen ans Licht« besteht aus aufsteigenden Quarten: eine sinnbildliche Form, die mit Themen in seinen späteren Instrumental- und Vokalwerken vergleichbar ist. Die steigenden Quarten sind das thematische Muster für eine Musik, die den Widerstand gegen Konflikte thematisiert. Es findet sich nicht nur im Fidelio, sondern auch im Adagio cantabile der Sonate Pathétique, in der Fuge der vorletzten Klaviersonate (As-Dur op. 110) und im »Dona nobis pacem« der Missa solemnis. Jedes dieser Themen ist unverwechselbar. Der geschmeidige Rhythmus steigender Quarten, gefolgt von schrittweisen, dolce fallenden Sequenzen, die in der Kantate eine größere Klangfolge umfassen, steht stellvertretend für die Verwirklichung einer erneuerten Gemeinschaft.

      Die sowohl für den Fidelio als auch für die Joseph-Kantate gültige politische Bedeutung besteht in der Idee einer verschütteten Freiheit, einem von autoritären Mächten bedrohten und unterdrückten humanistischen Vermächtnis. Schillers Marquis von Posa stirbt, nachdem er die politische Befreiung der Niederlande mit Begriffen fordert, die dem progressiven liberalen Gedankengut der 1780er-Jahre entsprechen. Der aufgeklärte Monarch Joseph II. wurde 1790 ebenso begraben wie viele seiner Reformen. Der eingekerkerte Freiheitskämpfer aus Beethovens Oper wurde nach einem Reformer gestaltet, welcher der Schreckensherrschaft zum Opfer gefallen war. Nachdem Florestan der Macht gegenüber die Wahrheit ausgesprochen hatte, fand er sich in den Tiefen von Pizarros Gefängnis lebendig begraben.

      Pizarro verkörpert – in der Sprache von Beethovens früher Kantate – das despotische »Ungeheuer des Fanatismus«. Der Gefängnisgouverneur ist besessen von seiner persönlichen Ehrenhaftigkeit, ist egozentrisch in der Abwicklung seiner offiziellen Aufgaben, eingebildet, skrupellos, korrupt und korrumpierend. Damit pervertiert er den Staat zu einem Instrument seiner persönlichen Macht. Er tobt, als Florestan versucht, seine Verstöße und Übergriffe zu enthüllen. »Schon war ich nah im Staube«, erinnert sich Pizarro, und reagiert mit Schikane und dem Versuch, seinen Kritiker zu vernichten und das zu vertuschen. Pizarros Soldaten fürchten seinen Zorn, die Gefangenen seine Späher. Pizarro versucht, Rocco zu bestechen, damit dieser den Mord ausführt. Hätte er sein Ziel erreicht, wären sowohl Rocco als auch Fidelio zu Komplizen geworden.

      Als der Chor der Gefangenen und der Bürger Don Fernando im Finale der Oper begrüßt, antwortet dieser auf die untertänige Bitte um Gerechtigkeit mit den von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geprägten leuchtenden Worten:

      Nicht länger

      Kniet sklavisch nieder,

      Tyrannenstrenge sei mir fern.

      Es sucht der

      Bruder seine Brüder,

      Und kann er helfen,

      Hilft er gern.

      Fernando hatte gedacht, Florestan sei tot. Er war verschwunden, gefoltert und dem Tod durch Pizarros Hand preisgegeben. Florestans Befreiung steht sinnbildlich auch für die Befreiung der anderen Gefangenen, ist doch Leonores mitfühlender Blick offen auch für deren Leiden. Wenn Leonore den Gefangenen die Ketten abnimmt, hören wir aus der Joseph-Kantate extrahierte Musik. Und wir erleben einen Augenblick exemplarisch vorgeführter Bürgertugenden, die Fernando in seiner Rolle als Repräsentant einer aufgeklärten Monarchie oder eines rechtens konstituierten revolutionären Staates anerkennt und achtet.

      Pizarro und Fernando sind nicht als voll ausgeprägte Individuen angelegt. Vielmehr stellen sie gegensätzliche Prinzipien dar: despotische Macht einerseits, humanistisches Mitgefühl und bürgerliche Tugend andererseits. Aufgrund dieses dualistischen Rahmens und der Tatsache, dass die Handlung von Frankreich nach Spanien verlegt wurde, lässt sich die Oper immer wieder auf aktuelle politische Zusammenhänge übertragen. Im Jahr 1945, am Ende des Dritten Reichs, schrieb Thomas Mann: »Wie durfte denn Beethovens Fidelio, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? … Denn welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den Fidelio zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen!«

      Die politische Relevanz von Beethovens Musik bleibt evident. Was ist die symbolische Bedeutung von Pizarros Zitadelle? Eine Burg, deren Gefangene kollektiv freigelassen werden, erinnert zwangsläufig an die Bastille und den Sturm auf dieses Gefängnis am 14. Juli 1789. Eulogius Schneider, immer bereit, auf die Zeitläufte zu reagieren, zitierte in einer seiner Vorlesungen an der Universität sein Gedicht, das entstanden war, als ihn die Neuigkeiten vom Fall der Bastille erreicht hatten:

      Gefallen ist des Despotismus Kette,

      Beglücktes Volk! Von deiner Hand:

      Des Fürsten Thron ward dir zur Freiheitsstätte,

      Das Königreich zum Vaterland.

      Kein Federzug, kein: »Dies ist unser Wille«,

      Entscheidet mehr des Bürgers Los.

      Dort liegt sie im Schutte, die Bastille,

      Ein freier Mann ist der Franzos!

      Die im Mittelalter errichtete Bastille mit ihren acht Türmen, die lange als Staatsgefängnis gedient hatte, war zu einem Symbol totalitärer Unterdrückung geworden. Ebenso wie die Exekution König Ludwigs XVI. oder die Einführung eines neuen Revolutionskalenders wurde auch der Abriss der Bastille 1790 als Wendepunkt einer historischen und politischen Entwicklung betrachtet. Doch nichts davon verhindert Macht und Unterjochung. Regiert der Mob, wird totalitäres Unrecht meistens durch Umstände