Ich mach mir die Welt. Harry Gatterer

Читать онлайн.
Название Ich mach mir die Welt
Автор произведения Harry Gatterer
Жанр Социальная психология
Серия
Издательство Социальная психология
Год выпуска 0
isbn 9783990405628



Скачать книгу

Dazwischen einen Raum des stillen Wahrnehmens von Zusammenhängen zu finden, ist nicht leicht, aber für die Zukunft essenziell: Leidlich erfahren habe ich das vor mehr als zehn Jahren, als ich in einer solchen Unschärfe das Thema »Sharing« am Radar hatte. Ich hatte zu dieser Zeit viel mit der Tourismusindustrie zu tun. Mehrfach versuchte ich meine Trend-Wahrnehmung mit Menschen aus der Branche zu besprechen, das ging dann wiederholt etwa so:

      »Sharing wird vermehrt zu einer Haltung und einer Kultur. Gerade junge Menschen springen auf diese Idee an. Sie wollen Dinge benützen, nicht besitzen.«

      »Ich versuche zu verstehen, was Sie mir sagen. Nur kann ich mit dem Blick auf unsere Branche da keine Zukunft erkennen. Im Gegenteil: Das hat mit uns nichts zu tun.«

      »Aber es handelt sich um einen Wandel in der Haltung. Es werden Angebote folgen, auch wenn diese heute noch nicht klar sind.«

      »Das sehe ich anders. Das wird an uns vorübergehen.«

      In einem »Stern«-Interview vom 19. September 2013 hat Nathan Blecharczyk, einer der Gründer von Airbnb, im Grunde dasselbe gesagt: »Uns hat niemand ernst genommen.« Heute sieht das anders aus. Nach Angaben des Unternehmens vermittelt Airbnb zwei Millionen Übernachtungen täglich! Man kann nicht mehr behaupten, dass dies nichts mit der Tourismusindustrie zu tun hat. Aber wie heißt es so schön: Im Nachhinein ist man immer klüger. Aber darum geht es hier. Wie gelingt es, dass man in seinem eigenen Leben nicht nur im Nachhinein klüger ist? Das Erkennen von Kontexten und Zusammenhängen ist eine essenzielle Qualität genau dafür. Verschaffen Sie sich Blick für Potenziale. Üben Sie sich im Erfassen von Kontexten – das sind Grundsteine für das Arbeiten mit Möglichkeiten.

      Die dritte Zutat zum Erkennen von Möglichkeiten ist der Mut. Oder genauer formuliert: der Zukunftsmut. Zukunft erfordert, dass wir uns auf das Ungewisse und Unsichere einlassen. Die Zukunft per se ist unbekannt. Prognosen helfen uns dabei zu erkennen, welche Entscheidungen heute anstehen könnten. Aber sie sagen nicht die Zukunft voraus. Potenziale geben uns Hinweise darauf, welche Möglichkeiten sich in Zukunft realisieren könnten. Doch diese sind keine Garantie. Also bleibt uns Menschen der Mut. Dabei ist Mut nicht mit Wagemut zu verwechseln. Mutig ist jeder Mensch, der sich über seine gewohnten Komfortzonen hinwegsetzt und sich selbst überwindet. Mut hat nichts zu tun mit Heldentum. Es ist eine klare Entscheidung für sich und seine Zukunft. Peter Sloterdijk hat dafür einen ganz hervorragenden typologischen Begriff entwickelt. Er spricht von »Zukunftsprovokateuren«. Damit meint er Menschen, die sich auf die Zukunft einlassen wollen. Der potenzielle Möglichkeitsraum ist groß, aber eben nicht schicksalshaft vorgezeichnet. Um Möglichkeiten zu erkennen, sollte man sie auch ergreifen wollen. Denn ob es eine Möglichkeit ist oder nicht, ergibt sich oft erst durch das Tun oder durch das Provozieren von Zukunft. Potenziale zu erkennen, ist das eine. Sie zu entfalten, das andere.

      Boyan Slat, ein junger Mann aus den Niederlanden, wollte eigentlich Astronaut werden, doch stattdessen hat er ein Verfahren entwickelt, um das Meer von Plastik zu befreien. Die vorausgehende Beobachtung hatte er bei einem Familienurlaub in Griechenland im Jahr 2011. Bei Tauchgängen fiel ihm der Müll auf, er wollte etwas tun. Das Potenzial entdeckte er dann im Labor. Er entwickelte ein Verfahren, um das Plastik aus dem Meer zu fischen. Niemand hielt es für möglich. Aber er fasste Mut und fing an. Heute hat er sein eigenes Unternehmen – The Ocean Cleanup. Und er reinigt. Ein wahrer Zukunftsprovokateur.

      Nicht jeder Mensch ist zu jeder Zeit dazu in der Lage oder auch bereit. Die Möglichkeiten herauszufordern, ist keine ganz simple Aufgabe. Nicht umsonst verbreitet sich eine vermehrte Diskussion über Fehler. In einer Null-Fehler-Umgebung werden wir uns nicht dem Möglichen zuwenden, sondern immer nur dem statistisch Belegten. Doch Wahrscheinlichkeiten, so haben wir gelernt, zeigen nicht die Zukunft. Sie helfen uns, rückwirkend zu behaupten, nichts Falsches gemacht zu haben. Wer mutig ist, wird auch Fehler machen. So viel steht fest. Daher ist es schlau, sich auf Fehler einzustellen. Zum Leben gehört die Ungewissheit. Sie ist unser ständiger Begleiter. Ungewissheit ist die Quelle des Möglichen.

      In der Trendforschung beschäftigt man sich mit den vorher beschriebenen Potenzialen. Die Basis dafür bilden Beobachtungen. Dafür werden unterschiedlichste Quellen herangezogen: wissenschaftliche Untersuchungen, öffentliche Meinungsentwicklung, Datenauswertungen und Expertenwissen; ebenso wie ein ständiger Dialog mit Vordenkern und Pionieren. Die Vielfalt der Quellen ist wichtig. Es entsteht eine differenzierte Wahrnehmung der Welt. In den Korrelationen dieser Beobachtungen erkennen Trendforscher Muster. Diese werden markiert, aber noch nicht benannt.

      Hier ein Beispiel solcher Beobachtungen: 1. Immer mehr Menschen leiden daran, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht mehr selbstbestimmt einsetzen können. Die ständige Flut der Social Media fordert ihren Preis. 2. So viele Menschen wie nie zuvor besuchen Yogastudios und buchen Entspannungskurse. 3. Immer mehr Unternehmen setzen auf Maßnahmen, die nicht die Effizienz, sondern das Wohlfühlen steigern sollen. 4. Ein soziologisches Buch von Hartmut Rosa zu »Resonanz« landet auf den Bestsellerlisten.

      Diese vier Beobachtungen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, dennoch erkennt man darin ein Muster. Jede der Beobachtungen erzeugt eine Distanz zur klassischen Leistungsidee unserer Gesellschaft. Die Frage, die unscharf zu erkennen ist: Wie gelingt es Menschen, in einer Zeit der Beschleunigung ruhig und selbstwirksam zu bleiben?

      In der Trendforschung markieren wir diese Entwicklungen und schauen eine Zeit lang zu. Ohne zu werten, ohne zu kommentieren. Bis zu dem Moment, an dem klar wird, dass all diese Entwicklungen einen größeren, gemeinsamen Kontext haben. Erst dann benennen wir diese Veränderung. In dem beschriebenen Beispiel haben wir das »Die neue Achtsamkeit.« genannt: Durch die Begriffsgebung entsteht nun eine Wahrnehmung für den größeren Zusammenhang. Der Begriff »Achtsamkeit« wird zum Griff für den Möglichkeitsraum. In ihm drückt sich ein Trend aus. Wir erfassen durch den Begriff das Potenzial für Zukünftiges. Begriffe wie diese nehmen nichts vorweg. Sie sagen nicht: »So ist die Zukunft«, aber sie erzählen die Geschichten, die der Wandel bereithält, und machen Möglichkeitsräume begreifbar.

      Dieses Vorgehen lässt sich auf den persönlichen Umgang mit Möglichkeiten übertragen. Dazu ein kleiner Leitfaden:

      •Seien Sie aktiv neugierig und interessiert an dem Wandel der Welt.

      •Nutzen Sie Prognosen als das, was sie sind: Hinweise.

      •Achten Sie auf Potenziale. Diese zeigen sich meist unerwartet.

      •Seien Sie sensibel für Details. Sie machen den Unterschied.

      •Beobachten Sie die Kontexte. Überblicken Sie das größere Bild.

      •Finden Sie einen Be-Griff für das, was Sie als Potenzial erkennen.

      •Haben Sie Zukunftsmut. Provozieren Sie das Mögliche.

      Ich möchte um Ihre Faszination für Zukunft werben. Schließlich geht es um alles. Die Zukunft, die wir uns gestalten, ist die Gegenwart vom Heute und Morgen. Das trifft auf uns als Gemeinschaft zu. Das trifft auf Sie als Individuum zu. Ein wichtiges Fundament Ihrer Zukunft ist Ihre Neugierde. Wenn Sie diese wecken können, haben Sie schon viel erreicht. Darüber hinaus benötigen Sie eine gute Beobachtungsgabe, ein wahrnehmendes Bewusstsein, das über unser Alltagsbewusstsein hinausgeht. Unsere Gegenwart ist geprägt von Überforderung und Ablenkung. Wir sind eingebettet in eine Welt der Shows, Gigs und Sensationen. Daher ist es nur allzu leicht, dass man unsere Aufmerksamkeit verführt und ablenkt mit vermeintlichen Zukünften. Dann starren wir auf Produktshows aus dem Valley oder das Staatstheater in China. Und wir sagen dann: »Wow, dort ist Zukunft.« In den allermeisten Fällen ist es dies aber nicht. Wir müssten sagen: »Wow, was für eine Show.« Die wirkliche Zukunft verbirgt sich oft im Undeutlichen. Die spannenden Entwicklungen sind meist nicht die offensichtlichen. Aber gerade weil wir so eingebunden sind in ein Dauerfeuer von Prognosen und Zukunftspredigten,