Ich mach mir die Welt. Harry Gatterer

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Название Ich mach mir die Welt
Автор произведения Harry Gatterer
Жанр Социальная психология
Серия
Издательство Социальная психология
Год выпуска 0
isbn 9783990405628



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im statistischen Sinne zu tun. Ob das Risiko, das wir versichern, für uns wirklich schlagend wird, kann niemand wissen. Es ist ausschließlich ein statistisches Modell. Aber: Ist die Prognose, dass eine spezifische Versicherung Sinn macht, daher falsch? Nein. Auf Basis unseres aktuellen Wissens und den uns zur Verfügung stehenden Modellen ist sie richtig. Die Qualität einer Prognose liegt nicht darin, dass sie sich bewahrheitet. Sie soll uns helfen, im gegenwärtigen Zeitpunkt ein Bild der Lage vom Heute und einem möglichen Morgen zu geben. Noch mal der Regenschirm: Das Einzige, was eine Prognose hier kann, ist, uns darauf zu sensibilisieren, dass es Sinn macht, über den Regenschirm grundsätzlich nachzudenken.

      Gute Prognosen helfen zu verstehen, was wir überhaupt entscheiden sollten. Im Alltag ist das den meisten Menschen nicht klar. Auch vielen Profis nicht. Sehr häufig verlassen sich heute Manager auf Prognosemodelle und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Sogar immer mehr: Denn das Versprechen von technischen Prognosetools klingt großartig. Ganz automatisch und ohne Zutun sollen aus großen Datenmengen wahrscheinliche Entwicklungen sichtbar werden. Aber nimmt uns das Entscheidungen ab? Unsere Welt ist komplex. Es ist schwierig, Entscheidungen zu treffen. Da ist es nur verständlich, dass man gerne Systeme hätte, die uns die Entscheidung abnehmen. »Das hat ja der Computer errechnet, also machen wir das.« Aber so funktioniert die Welt leider nicht. Wenn es darum geht, dass Sie Ihre eigene Zukunftskompetenz erhöhen, dann ist diese Erkenntnis wesentlich: Prognosen helfen nicht, Entscheidungen zu treffen. Sie helfen nur zu verstehen, was überhaupt entschieden werden sollte.

      Die populärste Prognose unserer Zeit ist die der Erderwärmung. Wiederum werden auf Basis von statistischen Daten und komplexen Modellen Wahrscheinlichkeiten errechnet. Die Erderwärmung wird, so die Prognosen, in einem Korridor von plus 2 Grad bis plus 5 Grad im Jahr 2100 zu messen sein. In einem Bericht der Vereinten Nationen (IPCC-Sachstandsbericht) wird davon ausgegangen, dass die angestoßene Erderwärmung für über Tausend Jahre irreversibel bleiben wird. Eine 2019 erschienene Studie des Crowther Lab der ETH in Zürich zeigt die Veränderungen für 520 Metropolen der Welt im Jahr 2050. Wien soll dann ein Klima wie Skopje haben, Hamburg wie San Marino und New York wie Virginia Beach.

      All diese Aussagen sind Prognosen. Keine davon kennt die Zukunft wirklich. Dass all diese Aussagen nach heutigem Stand valide sind, steht außer Zweifel. Laut einer Untersuchung von John Cook et al. gibt es mehrere Hunderttausend Studien zum Klimawandel, das Team untersuchte knapp 11.000 davon, wovon wiederum 97 % den wissenschaftlichen Konsens der Erderwärmung stützen. Die Entwicklung der Erderwärmung ist eine Prognose, die einen wuchtigen Unterbau hat. Wir alle erahnen sehr besorgt die Auswirkungen. Und trotzdem: Das Jahr 2050 oder 2100 ist noch nicht da. Die Auswirkungen auf diese Jahre sind Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Auch hier wird nicht die Zukunft vorweggenommen. Wiederum liefert uns eine Prognose auf den Tisch, welches Spektrum an Entscheidungen wir haben. Es liegt letztlich an uns selbst, aus diesen Prognosen Ableitungen zu treffen. Greta Thunberg hat eine Entscheidung getroffen. Sie kämpft für einen radikalen Wandel. Donald Trump hat sich ebenfalls entschieden: Er pfeift auf den Klimawandel. Am Ende ist es unsere Verantwortung im Leben, die Schlüsse selbst zu ziehen. Darauf kommt es an. Egal ob Sie Topmanager, Präsident oder Schülerin sind. Es geht schlicht um Ihr Leben.

      Die Bloomberg-Journalistin K Oanh Ha wollte mittels eines Gentests herausfinden, welche Krankheiten sie in Zukunft erwarten kann. Dabei hat die in Hongkong lebende Ha ein Experiment gewagt: Sie ist nicht nur zu einem Genlabor gegangen, sondern gleich zu zwei. Eines davon ist das Unternehmen 23 and Me. Ein amerikanisches Labor, gegründet von der Exfrau des Google-Gründers Sergey Brin. Das Unternehmen hat nach eigenen Angaben mittlerweile 10 Millionen Kunden und eine Sammlung von einer Milliarde genetischen Datenpunkten. Das andere Labor liegt in China, in Chengdu. Es heißt 23 Mofang und ist ein Startup, das gerade versucht, den aufkommenden Gen-Boom in China für sich zu nutzen. Das chinesische Labor hat nach eigenen Angaben rund 700.000 Kunden.

      Die Resultate der beiden Gentests haben Ha sehr überrascht: Die chinesischen Auswertungen waren wesentlich ambitionierter und umfangreicher. So hat dieser Test Angaben zu einer hohen Wahrscheinlichkeit von schlaffer Haut geliefert. Inklusive Hinweisen, welche Creme von Estée Lauder Ha zukünftig nutzen sollte. Wie auch einen Hinweis, auf eine hohe Wahrscheinlichkeit, 95 Jahre alt zu werden. »Lächerlich«, sagt dazu Eric Topol, ein Genetiker am Scripps Research Translational Institute in La Jolla, Kalifornien, »es gibt keinen Weg, eine konkrete Jahreszahl zur Lebenserwartung zu bestimmen.« Dennoch wird es gemacht, zumindest im chinesischen Labor! Erneut mein Hinweis: Es ist eine Prognose, eine Wahrscheinlichkeit – ganz offensichtlich eine nicht besonders seriöse. Aber auch in der Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen haben die beiden Tests überaus unterschiedliche Ergebnisse gebracht. Das amerikanische Labor hat eine überdurchschnittliche Neigung zu Depressionserkrankungen festgestellt, was dem chinesischen Labor nicht aufgefallen ist. Beide Labors haben eine überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit für Diabetes bei Ha festgestellt. Die Auswertung von 23 and Me lag dabei auf 48 %, die des chinesischen Pendants 23 Mofang sagt 26 %. Was sollen wir nun glauben? Welche Prognose stimmt, und hilft diese Prognose? Die Journalistin Ha hat von beiden Laboren einen Onlinezugang erhalten, in dem ihre Daten abgebildet werden. Verwundert stellte sie fest, dass sich diese Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf Diabetes im Laufe von ein paar Wochen änderten – ohne dass Sie einen neuen Test gemacht hätte. Der Gründer des chinesischen Start-ups meinte dazu: »Es besteht die Möglichkeit, dass Sie später Resultate bekommen, die das Gegenteil von den heutigen Analysen ergeben.« Was nun? Wir machen einen Gentest, erhalten Aussagen über Wahrscheinlichkeiten und müssen damit rechnen, dass sich diese total verändern – obwohl sich unsere Gene nicht verändern! Wie kann das sein? Der Hintergrund sind die zur Verfügung stehenden Daten sowie die Rechenmodelle und Algorithmen. Im Laufe der Zeit ändern sich diese und damit ändern sich die möglichen Prognosen und Aussagen der Tests.

      Wieder gilt in Sachen der eigenen Zukunftskompetenz: Jede Prognose ist nur eine Prognose. Sie ist so gut, wie die im Moment dafür herangezogenen Informationen und Modelle funktionieren. Prognosen sind immer gegenwarts- und vergangenheitsorientiert. Keine Prognose nimmt uns eine Entscheidung ab. Je besser die Prognose, desto mehr hilft sie uns, zu verstehen, welche Entscheidung wir überhaupt treffen können. Verwechseln wir Prognosen daher nicht mit Zukunft! Prognosen sind in Zukunft verpackte Vergangenheit.

      Einen wichtigen Lerneffekt hatte dieses Gentest-Experiment zusätzlich für die Journalistin Ha. Bei den Tests wurden auch ihre ethnischen Grundlagen untersucht. Ha ist gebürtige Vietnamesin, deren Familienstamm bis nach China zurückreicht. Aufgewachsen ist sie in Amerika. Der amerikanische Test hat ihr diese Mischung bestätigt. Der chinesische nicht: Laut diesem ist sie zu 63 % Han-Chinesin, zu 22 % Dai-Chinesin und zu 3 % Uigurin. Die vietnamesischen Wurzeln wurden nicht erkannt. Das chinesische Labor gleicht seine Daten ausschließlich mit der chinesischen Bevölkerung ab. Uiguren sind ein unterdrücktes Volk in China, und die Frage, die sich Ha nun stellen muss: Wer wird jemals die Daten dieses DNA-Tests erhalten? Ist sie dadurch in China noch sicher?

      Wenn wir uns auf Prognosen einlassen, ist es wichtig, so viel wie möglich über die Prognostiker und ihre Modelle zu erfahren. Denn der Hintergrund jeglicher Prognose vermittelt ein Weltbild. An den beiden Gentests können wir die Differenz zwischen chinesischem und amerikanischem Weltzugang erahnen. Aber selbst jede Wetter-App ist auf Basis von gewissen Weltbildern und Anschauungen gemacht. Daher lohnt es sich, immer hinter die Kulissen von jenen zu blicken, deren Prognosen wir verwenden. Wer sind diese Menschen, was machen sie, und wie hat dies wiederum Einfluss auf deren Prognosen? Die Systemtheoretikerin Elena Esposito fasst die Antwort darauf so zusammen: »Eine Vorhersage, die aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung abgeleitet wird, ist also keine (mehr oder weniger gelungene) Vorherbestimmung der Zukunft, sondern ein permanenter Prozess auf der Grundlage provisorischer Prognosen, die kontinuierlich überprüft und angepasst werden müssen. Aber das lässt sich machen, und so wird es möglich, sich auf die Zukunft vorzubereiten, während man sie konstruiert.« Esposito forscht selbst in einem großen Projekt über die Zukunft der Prognostik. Deren