Ich mach mir die Welt. Harry Gatterer

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Название Ich mach mir die Welt
Автор произведения Harry Gatterer
Жанр Социальная психология
Серия
Издательство Социальная психология
Год выпуска 0
isbn 9783990405628



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Empfehlung: Seien Sie aufmerksam, wenn Sie das nächste Mal eine Prognose nutzen!

      Wahrscheinlichkeiten sagen viel über Vergangenheit und Gegenwart aus. In der Wahrscheinlichkeit sehen wir, was wir heute an Daten und Modellen zur Verfügung haben. Die Zukunft wird dadurch nicht vorweggenommen. Diametral dazu arbeiten wir im Zukunftsinstitut mit dem Begriff der Möglichkeiten. Wahrscheinlichkeit liefert Prognosen, Möglichkeit nutzt Potenziale. Für mich persönlich war der Begriff der Möglichkeit immer faszinierend. Er beinhaltet gar nicht erst den Versuch, die Zukunft in statistischen Werten zu erfassen. Der Möglichkeitsraum ist erst mal unbegrenzt groß. Er wurzelt in Potenzialen. Wir können in der Gegenwart feststellen, welche Potenziale wir haben, und daraus Möglichkeitsräume konstruieren. Diese sind nicht in Zahlen und Daten zu fassen. Möglichkeiten sind diffuser und offener. Aber sie erzeugen einen Kontext, einen Denkraum, in dem sich Zukunft entfalten kann. Möglichkeitsräume lassen mehr Freiheiten und determinieren nicht unser Denken – wie Prognosen es tun. Sie öffnen es. Wenn wir uns mit Möglichkeiten beschäftigen, brauchen wir einen Blick für das pozentiell Mögliche.

      Häufig treffen wir dies in der Kunst an. Jeder Film, den wir sehen, ist reine Fiktion. Geschichten sind immer erfunden. Selbst wenn diese auf wahren Begebenheiten beruhen, liegt es in der Hand von Drehbuchautoren und Regisseuren, eine Interpretation der Story zu finden. Filme sind Erfindungen und beschreiben Möglichkeiten. Insbesondere Filme, die in einer Zukunft spielen, wie Science-Fiction das zeigt. In Serien und Filmen von Star Trek beispielsweise werden Szenen gezeigt, die in einer fiktiven Zukunft spielen. Als Zuschauer staunen wir über die Kreativität und gleichen das Gesehene mit unseren Erfahrungen ab. Wir erweitern dadurch unseren Möglichkeitsraum. Werden wir in einer kommenden Zeitepoche in Raumschiffen per Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall rasen? Jedenfalls können wir es für möglich halten. Jeder, der schon einmal Star Trek gesehen hat, weiß, wie das aussehen könnte. Die Fiktion eröffnet uns einen Blick für Zukünftiges. Sehr häufig höre ich auch, dass die Autoren von Star Trek ohnehin die Zukunft vorhergesehen hätten. Ihre Kommunikatoren erinnern uns an das, was wir heute Handy nennen. Auch so etwas wie iPads kamen schon vor. Nun ist also die Frage: Haben die Autoren die Zukunft vorhergesehen? Oder haben sie Fiktionen und damit den Möglichkeitsraum für Handys geschaffen?

      Für mich liegt die Antwort zu dieser Frage genau in der Mitte. Wer sich mit Sience-Fiction beschäftigt, muss ein Gespür für das Mögliche entwickeln. In der Fantasie malt sich ein Autor eine Zukunft aus und dockt diese an die Lebensbedingungen der Menschen im Heute an. Menschen haben schon lange telefoniert und dafür immer Kabel gebraucht. In Star Trek konnten sie den Kommunikator ohne Kabel benutzen. Diese Möglichkeit war potenziell vorstellbar und die Produzenten haben es umgesetzt. So wie viele Dinge, die wir im Hier und Jetzt erleben, wurden schon in unterschiedlichen Formen fiktiver Zukunftsdarstellung gezeigt.

      In der aktuellen Version der Serie, Star Trek Discovery, wird die gesamte Crew inklusive dem Raumschiff per »Spur Drive« in eine Parallelwelt befördert. Dort finden sie all die Menschen und Charakteren wieder, die sie auch in »ihrer« Welt kennen. Nur hier, in der parallelen Realität, werden die Rollen vertauscht, die Welt hat sich anders entwickelt. Die potenziell vorhandenen Möglichkeiten haben sich anders realisiert. Die Idee, die die Drehbuchautoren aufgreifen, stammt aus der Quantenphysik. Dort gibt es eine Viele-Welten-Interpretation. Also im Grunde genau diese von Star Trek umgesetzte Vorstellung, dass es parallel zu unserer Realität ein Vielfaches an existierenden Welten gibt.

      Diese Theorie ist umstritten. Aber das sagt noch nichts aus, vor allem dann nicht, wenn man daraus Fiktionen baut, wie das ein SciFi-Drehbuchautor tut. In dem Fall können wir nur erkennen: Potenziell ist diese Vorstellung nicht abwegig.

      Was wir daraus für unser eigenes Leben lernen: Möglichkeitsräume handeln mit Potenzialen. Sie spielen mit unserer Fantasie und erzeugen Vorstellungen der Zukunft. Und genau das ist die Zukunft: ein Raum voller Möglichkeiten. Welche der Möglichkeiten sich realisieren wird, kann niemand sicher sagen. In vielen Fällen macht es keinen Sinn, aus den Möglichkeiten Wahrscheinlichkeiten zu machen. Wie wahrscheinlich ist es, dass wir die Viele-Welten-Realität erleben werden? Dennoch helfen diese Art Theorien und Vorstellungen des Möglichen, uns in eine Zukunft hineinzubewegen. Die Zukunft ist per se unbekannt. Sie ist nicht fertig und kann von nichts und niemandem errechnet werden. Daher benötigen wir Denkweisen, um uns der Zukunft zu nähern oder um die Zukunft zu gestalten. Das Arbeiten mit Möglichkeiten ist ein wesentliches Mittel: Was wir für möglich erachten, kann sich realisieren. In der Geschichte gibt es viele Beispiele. Eine ehemalige Entwicklerin bei Apple hat über die Kultur von Steve Jobs gesagt: »Es gab bei Apple keine Vorstellung davon, dass etwas nicht möglich sei.«

      Wie findet man den Zugang zum Raum der Möglichkeiten? Mit einem ausgeprägten Sinn für Beobachtung, einem Verständnis für Zusammenhänge und Mut. Eine wesentliche Grundlage ist Gabe der Beobachtung: Frei von Wertung und ohne Kommentare. Das ist anspruchsvoll in einer Welt, die einen dauernd zum Bewerten und Kommentieren einlädt. Das Wahrnehmen und Erkennen von Möglichkeiten setzt einen Geist voraus, der offen ist. Wertungen verschließen das potenziell Mögliche.

      Dazu hatte ich ein schönes Erlebnis: Auf einer Trendreise mit 20 UnternehmerInnen nach Berlin stand auch ein Besuch des Institute for Healing Architecture auf dem Programm. Dieses an der Technischen Universität angesiedelte Institut beschäftigt sich mit der Frage, wie Architektur dem Menschen helfen kann, gesund zu werden – und zu bleiben. Eine spannende Frage. Vor allem, wenn man weiß, dass immer mehr Menschen an psychischen Krankheiten leiden oder Schlafprobleme haben. Außerdem bewegen wir Mitteleuropäer uns über 90 % unserer Zeit innerhalb von Räumen. Der Einfluss der Räume auf unseren Gesundheitszustand ist durchaus relevant.

      Wir erreichen das Institute for Healing Architecture. Die Räume wirken nüchtern, geradezu unwirtlich. Es empfing uns eine junge Frau, sie stellte sich als wissenschaftliche Assistentin vor. Die Frau Professor war kurzfristig indisponiert. Wir bewegten uns durch das Institut in Richtung Konferenzraum. Dort fiel uns auf: Die meisten Schreibtische waren leer. Die Assistentin erwähnte, dass fünf ihrer sieben Kollegen krank seien. Die Räume waren kahl eingerichtet, man fühlte sich nicht besonders wohl. Und die Zimmerpflanzen, allesamt Ficus Benjamini, trugen kaum mehr Blätter. Es war gespenstisch in diesem Institut, das für Heilung sorgen soll.

      Nach einem detailreichen wissenschaftlichen Vortrag saßen wir in diesem Konferenzraum, kühl, still und ratlos. Allesamt haben sich mehr von diesem Besuch erwartet. In dem Moment wurde mir klar, dass ich die Gruppe auf die Beobachtungsfähigkeit hinweisen muss. Die räumlichen Erlebnisse haben uns zu sehr beeindruckt, als dass wir darin noch Potenziale sehen könnten. Enttäuschung wäre die Folge. Gleichzeitig ist das Thema der Healing Architecture mit enormem Potenzial ausgestattet. Die Notwendigkeit, unsere Häuser und auch Stadtteile gesund zu bauen, ist heute enorm groß. Auch wenn es in diesen Räumen des Instituts nicht direkt erlebbar war: Man hatte sich dort viel Kompetenz in genau diesen Fragen aufgebaut. Die Beispiele, an denen gearbeitet wird, und die akribischen Publikationen beweisen dies. Mir wurde klar: Wir sollten versuchen, das Potenzial des Moments zu erkennen. Dadurch bewegen wir uns im Raum der Möglichkeiten. Als ich der Gruppe dies gespiegelt habe, hat sich ad hoc die Stimmung gedreht. Den Menschen wurde bewusst, das hier kann zu einem ganz wichtigen Moment der Reise werden. Wir blicken in ein Zukunftspotenzial, das erst wenige kennen. Dieser Moment wurde zu einem der Highlights der Reise. Nicht aufgrund einer Sensation oder einer Euphorie, sondern weil es der Gruppe gelungen ist, ihre Beobachtung auf das Potenzial des Moments zu lenken. Werten verschließt die Tür zum Möglichen. Oft zu schnell. Halten Sie sich diese Türe offen: Der Preis ist gering. Beobachten und das Geschwader an Meinungen, Begründungen und Assoziationen im Kopf einfach ziehen lassen.

      Das Erkennen von Potenzial ist nicht selbstverständlich – gerade in einer Welt der Sensationen und Newsstürme. Stellt man im Silicon Valley ein Software Update, ist das wie bei einem Rockkonzert. Showtime, viel Licht und enormes Getöse. Unweigerlich schaut man hin. Unweigerlich glaubt man Zeuge