Schnee von gestern. Florian Asamer

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Название Schnee von gestern
Автор произведения Florian Asamer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990403327



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setzte. Ging man auf Nummer sicher und entschied sich für ein faderes Zimmer, das man aber dafür fix hatte? Oder ging man aufs Ganze, bewarb sich um einen Platz in einem Zimmer mit einer begehrten Partie, mit der Gefahr, plötzlich ins schlechteste Zimmer zu müssen, wenn das Topzimmer ein Sechs- statt ein Achtbettzimmer zugewiesen bekam. Von solchen Zufälligkeiten hing der Erfolg oder Misserfolg bei einem Skikurs ganz wesentlich ab.

      Vor allem aber auch von der Gruppenzugehörigkeit. Doch die wurde nicht durch wochenlanges Mauscheln samt Bestechungsversuchen im Dunkeln entschieden, sondern beim sogenannten Vorfahren am helllichten Tag. Dazu musste man nach einer langen Anreise mit einem Bus gleich nach der Ankunft in voller Skimontur antreten. Da die Liftkarten aber erst ab dem nächsten Tag gültig waren, fand das Vorfahren meist auf dem Schlusshang der Talabfahrt statt, den wir zu Fuß hinaufgehen mussten. Nachdem der Lift schon abgedreht worden war, steckte dort am steilsten Stück des Hanges einer der Turnlehrer ein paar Tore aus, und wir mussten vor den Augen der Schulskikursbetreuer, aber vor allem auch vor den Augen aller Parallelklassen, die mit auf Skikurs waren, vorfahren. Und diese vier Schwünge entschieden über Leben und Tod. Denn speziell in Westösterreich war die Zugehörigkeit zur „Ersten Gruppe“ schon ziemlich wichtig für den Rang in der Hackordnung der Klasse. Hier und bei der Zimmereinteilung konnte sich also schon am ersten Tag entscheiden, ob die Skiwoche ein Flop oder ein Highlight wurde.

      Dass der Skikurs nichts für Weicheier war, bewahrheitete sich meist schon am zweiten oder dritten Tag. Denn es galt, vor allem auch für weniger sportliche Mitschüler, mit den Kräften hauszuhalten. Denn in der Nacht spielte es sich in den und zwischen den Mehrbettzimmern ziemlich ab. Die Höhenluft und das straffe Tagesprogramm sorgten dafür, dass die Aufsichtspersonen fest schliefen – übrigens auch nicht immer in den eigenen Betten, was wir allerdings erst viel später erfuhren. Was uns erhebliche Freiheiten gab: Da machte mehr als eine heimlich beim ADEG gekaufte Flasche Lambrusco die Runde. Flaschendrehen gehörte danach ohnehin zum Pflichtprogramm. Und ein gängiges Burschenritual war, das Waschbecken (gerne auch vor Publikum) als Toilette zu nützen. Wie gut, dass es noch keine Smartphones gab.

      Am nächsten Tag mussten wir trotz aller nächtlichen Aktivitäten pünktlich um neun Uhr auf der Piste sein. Die Müdigkeit ließ die Kälte noch kälter erscheinen.

      Höhepunkt jedes Schulskikurses war der letzte Abend vor der Heimreise, der sogenannte „Bunte Abend“. Da spielte jedes Zimmer einen Sketch vor, in dem sich meist über Anwesende lustig gemacht wurde. Die Lehrer wirkten zu diesem Zeitpunkt meist schon etwas geschlaucht. Danach gab es „Disco“, und wer noch nicht verknallt war, war es spätestens nach dem obligaten Lied aus „La Boum“. Wir dachten wirklich, es sei der schönste Abend unseres Lebens.

      Skifahren im Teenageralter war das Fischen in einem Pool ungeahnter Möglichkeiten. Es war bereits ein Erfolg, es auf eine Liftfahrt mit einem unbekannten gut aussehenden Wesen zu bringen. Selbstverständlich ohne ein Wort zu wechseln.

      Schon der Doppelsessellift war eine Revolution für zwischenmenschliche Kontakte, den Durchbruch aber brachte der Dreiersessellift, der Gruppen zwang, sich aufzuteilen. Darauf achtete schon der Liftwart, der herrisch und in meist unverständlichen, aber stets unfreundlichen Worten für Ordnung sorgte. So lernte man einander also kennen. Durch geschicktes Anstellen konnte man dem Schicksal durchaus nachhelfen: Das Warten wurde zu einer einzigen strategischen Annäherung an ansehnliche Objekte. Wobei schon beim Anstellen klar war, wer „lässig“ war, wie das damals hieß, und wer nicht. Den coolen Skifahrer erkannte man an seiner Haltung. Es war der, der die Stöcke vorne in die Bindung steckte (zwischen Schuh und Vorderbacken) und sich unbeeindruckt vom Gedränge um ihn herum auf die unter die Achseln geklemmten Griffe lehnte. Gegen diesen Typ hatten es alle schwer, die schon bei leichtem Gefälle ins Rutschen kamen und verzweifelt mit vielen Entschuldigungen anderen über die Skier fuhren, um sich am Ende ziemlich unwürdig an irgendeinem Pfosten festzuklammern.

      Anstehende Mädchen zu taxieren war für aufs Aussehen fixierte Burschen gar nicht so einfach. Denn unter einer Anorakwolke, die fast bis zu den Knien reichte, war die Figur darunter nur schwer auszumachen. Und nicht einmal, ob das Gesicht den Schönheitsanforderungen entsprach, ließ sich wegen monströser Hauben und unförmiger Skibrillen verlässlich sagen. So haben wir unsere blauen Wunder erlebt: Da schälten sich aus entstellenden Daunenhaufen zarte Schönheiten heraus, umgekehrt waren gute Skifahrerinnen, die uns auf der Piste begehrenswert erschienen waren, in Zivilkleidung plötzlich völlig entzaubert.

      Wenn man sich schon kannte, begann das Was-sich-liebt-das-neckt-sich-Spiel am Skilift. Man zog sich an den Hauben, rutschte einander näher: Natürlich ging es vor allem um das Herstellen von Körperkontakt. Schaffte man es am Sessellift zwar nicht neben die Richtige, aber zumindest auf den Sessel davor, konnte man sich während der ganzen Fahrt umdrehen, nach hinten schauen und rufen. Die Objekte der Begierde waren so für zumindest die Dauer der Fahrt rettungslos ausgeliefert.

      Der Schlepplift bot ganz andere Möglichkeiten. Ein besonders perfider Streich war Burschen vorbehalten: Man öffnete unbemerkt das Schnapperl der Tyrolia-Bindung, kurz bevor das Opfer den Schlepplift bestieg. Ging dann der Bügel auf Zug, öffnete sich die Bindung und der Betreffende wurde aus der Spur katapultiert. Danach musste meist der Lift kurz abgeschaltet werden, da das Opfer mitten im Einstiegsbereich zu liegen kam. Es wurde viel gelacht und viel geschimpft. Der Liftwart drohte, uns den Skipass abzunehmen.

      Beim Schleppliftfahren gab es eine Reihe von Methoden, den Mädchen zu imponieren. Wir verließen die Spur, um uns durch den Tiefschnee schleppen zu lassen, öffneten einander die Bindung oder zogen freiwillig einen Ski aus, um uns danach publikumswirksam gegen das Hinausfallen zu wehren. Es gab auch eine Brachialmethode, um Kontakt zu knüpfen. Man ließ sich absichtlich fallen, wartete neben der Spur und versuchte, als Dritter an einem „Mädchenbügel“ mitzufahren. Was fast immer mit dem Ausfall von allen dreien endete. Diese Methode führte aber eher nicht zu irgendeinem nennenswerten Ergebnis.

      Für das Ausgehen am Abend waren wir noch zu jung. Es wurden Nummern ausgetauscht – natürlich Festnetz, oft stimmten sie nicht. Nur in den seltensten Fällen traf man sich in Zivilkleidung im Zivilleben wieder. Die Erinnerung an kalte Küsse hoch oben auf dem Sessellift schien dann wie aus einer anderen Welt. Das Fördervolumen der Lifte ist im Lauf der Jahre immer größer geworden. Am Sechsersessellift will sich niemand mehr küssen. Und beim Anstellen haben alle ihre Handys in der Hand. Und keine Augen für die anderen.

      In der Welt, von der wir erzählen, gab es noch strenge Tabus. Damit sind nicht nur die moralisch-sexuellen gemeint. Tabus lauerten noch hinter jeder Ecke. Ein großes Tabu war das Fernsehen untertags. Nur im Krankheitsfall durfte der Fernsehapparat schon am Vormittag eingeschaltet werden. Da gab es die mittlerweile zum Kult gewordenen Sprachkurse, und die Physiognomie der Russischlehrerin prägte eine ganze Bubengeneration. Danach kam der klassische Vormittagsfilm. Er brachte uns Kindern neben dem Nuscheln von Hans Moser auch Wesentliches bei. Etwa dass Heimatliebe viel mit Singen und noch viel mehr mit blühenden Bäumen und großen Dekolletés zu tun hatte. Oder dass es keinen stärkeren Mann als Bud Spencer gab. Nur bei ihm klatschten Ohrfeigen richtig laut und brachen Sessel krachend auseinander. Wir versuchten, ebenso schallende Watschen zu verteilen, bevorzugt an jüngere Geschwister, scheiterten aber trotz vieler Versuche am gewünschten Sound. Heute bringen Toneffekte keine Kinder mehr aus dem Häuschen.

      Dank der Elvis-Presley-Filme lernten wir eine Sehnsucht kennen, die wir später als Fernweh benennen konnten. Und Sissi war für die Mädchen unter uns die Prinzessin, die man selbst so gerne gewesen wäre. Der Vormittagsfilm half angeblich beim Gesundwerden, aber auch der Mutter beim Durchschnaufen. Damals wurde streng darauf geachtet, dass die fieberfreien Tage (mindestens zwei) eingehalten wurden, bevor wir wieder in die Schule durften. Unseren Kindern gönnen wir das heute nicht mehr.

      Im Normalfall durfte der Fernsehapparat frühestens um 17 Uhr eingeschaltet werden. Was prinzipiell auch nicht so schwierig war, da es ohnehin nur zwei Sender gab. Welche Auswahl uns später zur Verfügung stehen und dass es einmal eine Fernbedienung geben würde, konnten wir noch nicht ahnen. Es wurde manuell umgeschaltet, wobei diese