Erinnerungen. Bruno Kreisky

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Название Erinnerungen
Автор произведения Bruno Kreisky
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990402665



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Sozialisten nicht genug beachtet sind. Nur zögernd nehmen wir das Neue in unser Bewusstsein auf, und dennoch ist es die neue Ökonomie, die unser Handeln und also die Politik der gesamten Arbeiterklasse der Welt bestimmen muss, wenn sie nicht verhängnisvolle Irrtümer begehen soll.«

      Victor Adler hätte der erste Außenminister der Republik werden sollen, und vielleicht wäre es ihm gelungen, einen besseren Stand der Dinge herbeizuführen. Man machte sich damals Hoffnungen, dass wenigstens die deutschsprachigen Teile Böhmens, Ungarns und Jugoslawiens bei Österreich bleiben würden, so dass Österreich ein Staat von zehn Millionen gewesen wäre. Das, was Hitler die »Volksdeutschen« nannte, waren zum Teil »Volksösterreicher«, und deshalb war es durchaus richtig, dass wir manche nach 1945 zusammen mit denen, die aus den Balkanländern kamen, aufgenommen haben, obwohl wir dadurch in der von den Sowjets besetzten Zone große Schwierigkeiten hatten.

      Einen Tag nach dem Tod Victor Adlers, am 12. November 1918, kam die Nachricht vom Ausbruch der Revolution – was man halt damals Revolution genannt hat. Wir merkten das vor allem daran, dass die gefürchtete Polizei mit den Pickelhauben nicht mehr durch den Park ging, um uns vom Rasen zu vertreiben, wenn wir dort mit einem sogenannten »Fetzenlaberl«, das aus schön zusammengewalkten Strümpfen bestand, Fußball spielten. Die »Stadtschutzwache«, wie ein Teil der Polizei von nun an hieß, wurde an diesem Tag auf die Republik vereidigt, und wir sind ins Gras hinein wie die jungen Hunde. Am nächsten Tag waren die Polizisten schon wieder da, mit rot-weiß-roten Armbinden, und der Schutzmann ist genauso durch den Park gegangen wie der k. k. Polizist all die Jahre zuvor. In einer Ecke des Parkwächterhäuschens kamen wir zusammen und berieten die Lage; kurz und bündig wurde beschlossen, das sei ja gar keine Revolution, denn es habe sich gar nichts geändert.

      Noch eine andere Geschichte möchte ich an dieser Stelle erwähnen. Am 12. November 1918 wurde ja nicht nur die Republik ausgerufen, die den Sozialdemokraten immer ein besonderes Ziel gewesen war, sondern auch erklärt, dass Österreich ein Teil des Deutschen Reiches sei. In der Ersten Republik hatten die Sozialdemokraten diesen Tag als Nationalfeiertag proklamiert. Aber als sich nach 1945 die Frage stellte, ob der alte Nationalfeiertag wieder zu Ehren gelangen solle, habe ich mich sehr entschieden dagegen gewehrt. Sicherlich, so argumentierte ich damals, es ist der Gründungstag der Republik, aber gleichzeitig ist es auch der Tag gewesen, an dem wir freiwillig den Verzicht auf unsere Selbständigkeit als Staat erklärt hatten. Wir müßten einen anderen Tag als Nationalfeiertag wählen. Die meisten gaben mir recht und meinten, der 15. Mai wäre das beste Datum, der Tag, an dem wir unsere Unabhängigkeit erklärten. Andere plädierten fur den 27. April 1945, den Tag der Ausrufung einer provisorischen Regierung. Am Schluss einigte man sich, was viele heute nicht mehr wissen, dass es der Tag sein solle, an dem das österreichische Parlament die immerwährende Neutralität beschlossen hat. Dies setzte indirekt natürlich voraus, dass der letzte fremde Soldat österreichischen Boden verlassen hat.

      Mit dem Sturz der Monarchie also wurde die Republik gegründet. Aber es war ein Staat, der nicht leben und nicht sterben konnte, ein Staat, den eigentlich niemand wollte. Die einen trauerten um ein versunkenes Reich, die anderen träumten vom Aufgehen in einem neuen Reich aller Deutschen, und in der Mitte befand sich nichts. Die Mehrheit war dafür, den Status eines Sonderbundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches anzustreben. Aber Österreich schien den Menschen nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich nicht lebensfähig zu sein.

      Nachdem die Inflation sich ausgetobt hatte, kam es zu einer kurzfristigen Retablierungskonjunktur. Joseph Schumpeter, einer der bedeutendsten österreichisch-amerikanischen Nationalökonomen, war von März bis Oktober 1919 Staatssekretär für Finanzen. Aus seiner Zeit ist den älteren Österreichern jedoch nur ein glorreicher Ausdruck geblieben: Krone ist Krone, womit die endgültige Enteignung und Armut der Österreicher besiegelt war. Wie viele Finanzminister der galoppierenden Inflation musste auch Schumpeter eines Tages seinen Hut nehmen. Meistens ernteten die Nachfolger die Früchte. In Österreich war es Viktor Kienböck, von 1922 – 1924 und 1926 – 1929 Finanzminister. Kienböck ist sehr alt geworden und hat noch unter dem Dollfuß-Schuschnigg-System eine Rolle gespielt; 1932 – 1938 war er Präsident der Nationalbank. In den Überlegungen, die wir vor der Machtergreifung Hitlers anstellten – unter der Voraussetzung, dass es wider Erwarten doch zu einer Volksbefragung käme –, ging es auch um die Frage, wen von den Bürgerlichen wir akzeptieren könnten. Ich vertrat damals die Auffassung, es könne kein anderer als Viktor Kienböck sein, der im Westen einen außerordentlich guten Ruf bei den für uns so wichtigen Bankiers genieße und in Österreich selbst zwar als verlässlicher Konservativer gelte, aber niemals eine Sünde wider die Demokratie begangen habe. Die Sozialdemokraten erhoben deshalb auch keine Einwände, als Kienböck nach 1945 wieder zur Verfügung stand und zum Vizepräsidenten der Nationalbank bestellt wurde.

      Was die neuen Grenzen Österreichs konkret bedeuteten, konnte ich in meiner eigenen Familie in sehr drastischer Weise erleben. In der Familie meiner Mutter drüben in Mähren gab es die neue starke Tschechenkrone; die österreichische Krone dagegen war furchtbar inflationiert. Drüben die Stabilität und der erhalten gebliebene Reichtum aus der Monarchie, hier die Armut und Austerity der neuen Republik. Dazwischen lagen Berge – unüberwindbare Höhen.

      Auch mein Vater war von dieser Tragödie beruflich betroffen. Er war in leitender Stellung in einem der großen Textilkonzerne der Monarchie, der seine großen Fabriken in Böhmen und Ungarn hatte, in kleinen Orten, die Strakonitz oder Güns-Köszeg hießen. Zu diesem Konzern gehörte auch – eine kleine Ironie der Geschichte – eine Fez-Fabrik. Es gab derer zwei in Europa: eine in Österreich-Ungarn, wo man die roten Feze herstellte, und eine kleinere in Frankreich. Kurz nach dem Krieg hatte Kemal Atatürk das Tragen des Fezes verboten, und damit ging ein großer Markt verloren. Einige Länder, die seinerzeit von den Türken besetzt waren, blieben diesem Kleidungsstück allerdings treu, und erst vor kurzem begegnete ich einigen sehr reichen Libanesen an der Côte d’Azur, die mit ihrem Fez in allen Restaurants respektvolles Erstaunen weckten.

      Das einzig Versöhnliche der Zeit nach 1918 war, dass für Leute wie meinen Vater, die im wirtschaftlichen Leben tätig und ununterbrochen unterwegs waren, die neuen Grenzen sehr bald kein Hindernis mehr darstellten. Der weit verstreute Besitz der meist in Österreich ansässigen Gesellschaften ist merkwürdigerweise nicht konfisziert worden. Es waren eben bürgerlich-nationale Revolutionen, die sich in den Nachfolgestaaten vollzogen, und man war im eigenen Interesse sehr darauf bedacht, die Zusammenhänge aus den Zeiten der Monarchie nicht zu zerstören. Die Zentralen blieben in Wien.

      Die neue Tschechoslowakei war das industrielle Kernland des alten Österreich gewesen. Brünn, wo mein Vater die Fachschule für Weberei besucht hatte, war so etwas wie ein österreichisches Manchester, Reichenberg im Sudetenland ein industrielles Zentrum, und in Ostrau gab es die großen Kohlengruben. Von allen diesen wirtschaftlichen Ressourcen war die österreichische Republik abgeschnitten.

      Am Anfang der Republik stand die totale Hoffnungslosigkeit.

      Was sollte man mit diesem wirtschaftlichen Trümmerhaufen denn machen, in dem es nur Berge gegeben hat und viele Wiener? Wien hatte einst eine Schwesterstadt in Prag, eine Schwesterstadt in Budapest gehabt, und selbst Agram war Wien in gewisser Hinsicht vergleichbar gewesen. Mit einem Mal sollten nun Graz, Linz und Salzburg die Funktion dieser Metropolen übernehmen und ein Gegengewicht zu Wien herstellen, Städte, in denen es nur ein Kleinbürgertum, das zum großen Teil sehr deutschnational war, und die Klerikalen gab. Wien war plötzlich von allem abgeschnitten, es war eine tote Stadt, der Wasserkopf Österreichs, wie es geheißen hat.

      Diese Jugenderfahrung war mit im Spiel, als mir nach 1945 sehr schnell klar wurde, dass Wien eine neue Funktion finden müsse, damit die Stadt nicht zur Provinz verkümmere. Nicht zuletzt aus solchen Erwägungen ist Wien dann zum Sitz zahlreicher internationaler Behörden geworden, und heute – im Jahre 1986 – ist es im Begriff, Genf zu überflügeln. Die Diplomaten und die internationale Bürokratie fühlen sich wohl in dieser Stadt, und allmählich gibt es wieder das, was man die Wiener Atmosphäre nennt. Zum großen Teil ist das den Ausländern zu verdanken, die allerdings weiterhin als Fremde hier leben, denn in Wien ist die Xenophobie zu Hause. Vor einiger Zeit war ein Plakat zu sehen: Ein österreichischer Bub in Lederhosen sagt zu einem großen Mann, einem typischen Gastarbeiter: »Ich haaß Kolaric, du haaßt Kolaric, warum sogns’ zu dir Tschusch?«