Erinnerungen. Bruno Kreisky

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Название Erinnerungen
Автор произведения Bruno Kreisky
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990402665



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anderen Bezirk zur Schule ging, war man vor solchen Kontrollen sicher. Denn die Verwaltung war so knauserig, dass sie es einem Schuldiener nicht gestattete, mit der Straßenbahn in einen anderen Bezirk zu fahren.

      Mein Freund Tandler, der im III. Bezirk wohnte und dort aus der Schule geflogen war, ging jetzt bei uns im IV. Bezirk zur Schule, ich dagegen ging in den III. Bezirk. Dort, am ehemaligen Polytechnikum, wurde vor allem ein ausgezeichneter Mathematikunterricht gegeben, was mir bei meinem späteren Studium der Nationalökonomie zugute kam. An dieser Schule bin ich ohne Schwierigkeiten bis zur Matura gekommen.

      Es waren drei verschiedene Mittelschulen in acht Jahren gewesen, und so habe ich überdurchschnittlich viele Mitschüler gehabt. Alles in allem verbinde ich keine sehr angenehmen Erinnerungen mit der Schulzeit, aber auch, abgesehen von der ehemaligen Kadettenschule, keine extrem negativen. An einige Schüler, auch an den einen oder anderen Professor, denke ich gern zurück, zum Beispiel an meinen Französischlehrer, Professor Rudolf Verosta – er war der Vater einer meiner späteren Mitarbeiter im Außenministerium –, der sich immer aufs neue erregte, wenn er das kleine rote Emailquadrat, das Abzeichen der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler, an meinem Revers erblickte: »Kreisky«, hat er immer gesagt, »lernen’S nix, werden’S Parteisekretär!«

      Man fragt mich oft, wann ich eigentlich den Weg zur Politik gefunden habe. Viele verbinden damit offenbar die Vorstellung, ich müsse schon seit früher Jugend die Absicht gehabt haben, Berufspolitiker zu werden. Nichts ist unrichtiger als das. Ich bin wie viele meines Alters sehr früh zur Konfrontation mit politischen und parapolitischen Ereignissen gedrängt worden. Als Österreicher und Wiener habe ich in besonderem Maße zum »passiven Material« der Weltgeschichte gehört, denn alles Unglück, das es zwischen den Weltkriegen gab, hat sich irgendwie in Österreich und da besonders in seiner Hauptstadt Wien manifestiert. Das Elend in Wien war so allgegenwärtig, dass es sich jedem Fremden geradezu aufdrängte. Die Stadt war voll von bettelnden Leuten, voll von Invaliden aus dem Krieg, und vielen Menschen sah man an, dass sie einmal bessere Zeiten gesehen hatten.

      Das heruntergekommene Bürgertum manifestierte sich auch dadurch, dass viele Witwen, vor allem Kriegerwitwen, ihre großen herrlichen Wohnungen untervermieteten. Die Wohnungskosten waren niedrig, dank des bei den Hausbesitzern so ungemein verhassten Mieterschutzes. Es gibt so manchen, der glaubt, dass einige Prozente der sozialdemokratischen Wählerschaft allein dem Umstand zu verdanken waren, dass die Sozialdemokraten die beste Gewähr für die Erhaltung des Mieterschutzes gewesen sind. Unter den vielen zehntausend Mitgliedern der sogenannten Mietervereinigung, einer zwar nicht offiziellen, aber de facto sozialdemokratischen Vereinigung, waren eine ganze Reihe von Oberstenwitwen und hohen Beamten, die sich dieser Organisation nur angeschlossen hatten, weil sie um ihre Wohnungskosten bangten. Dasselbe galt für den Kleinrentnerschutzverband, eine andere de facto sozialdemokratische Vereinigung, die einen allerdings vergeblichen Kampf um eine einigermaßen erträgliche Kompensation für ihre Kriegsanleihen führte.

      Die Arbeiterviertel, in denen die armseligen Mietskasernen standen, waren zu Vierteln des Elends und der Entbehrung geworden. Alles das kam aus einer Gleichartigkeit des Schicksals, das eben keine Unterschiede kannte: der Krieg, die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die besondere Wucht der Krise. Sie begann als strukturelle infolge des Zusammenbruchs der Monarchie und wurde durch die konjunkturelle potenziert, die sich 1929 aus der Weltwirtschaftskrise ergab. Die Arbeitslosigkeit war eine Dauererscheinung, vor allem darauf zurückzuführen, dass die geschlossene und wohlabgerundete mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft, die die Österreichisch-Ungarische Monarchie darstellte, zerschlagen war. Ende der zwanziger Jahre wurde Österreich mit Recht „der arme Mann an der Donau“ genannt. Die österreichische Wirklichkeit mit allen ihren Facetten führte dazu, dass viele mit Politik nichts zu tun haben wollten. Sicher gab es auch für mich die Versuchung, mich in einem der vielen Berufe zu versuchen, die mir offenstanden, aber ich konnte mich dazu nicht entschließen, weil ich zu sehr von den politischen Ideen erfasst wurde, und je mehr ich die Zusammenhänge begriff, um so stärker fühlte ich mich verpflichtet, in der Politik zu wirken.

      Dabei gab es kaum irgendwelche besonderen Chancen. Die Sozialdemokratie war in der Opposition, hatte wenig Lust, Regierungsstellung zu erlangen, und Parlamentarier zu werden, ist uns Jungen nicht in den Sinn gekommen, weil wir davon nicht sehr viel hielten. Zum Parteiführer waren sehr wenige ausersehen. Die höchste der Ambitionen war, Journalist in der Parteipresse zu werden; es schien uns verlockend, jeden Tag die Möglichkeit zu haben, zu den Ereignissen Stellung zu nehmen. Man kann jungen Leuten von damals, die sich in die Politik stürzten, jedenfalls keinen Vorwurf machen, dass sie es der Karriere wegen getan hätten, im Gegenteil: In den dreißiger Jahren, als sich langsam der Untergang der Sozialdemokratie ankündigte, wussten viele von uns, dass der österreichische Faschismus unaufhaltsam war und dass die »Roten« allmählich in den Kerker würden wandern müssen.

      Ich habe vom reinen Politisieren und Polemisieren nie viel gehalten, sondern habe meine politische Tätigkeit unter den Jungen als eine im höchsten Maße pädagogische aufgefasst: Zusammenhänge darzustellen, das zu schildern, was geschieht hinter dem, was zu geschehen schien. Ein Glücksgefühl innerhalb meines Tätigkeitsbereiches habe ich immer dann empfunden, wenn ich den Eindruck gewann, das mit Erfolg getan zu haben.

      Meinen Eltern bin ich noch heute überaus dankbar dafür, dass sie mich sehr bald und immer wieder die raue Wirklichkeit erkennen ließen. Vielleicht war das nicht ganz im Sinne meiner Mutter und ihrer Familie, aber vom Vater und vom Großvater her hielt man es für richtig, einem »aufgeweckten Kind« die Wirklichkeit, das, was in der Welt geschieht, nicht zu verheimlichen. Denn offensichtlich waren die einen eingehüllt in ein sehr behagliches, sorgenfreies Familienleben, und andere hatten kaum regelmäßiges Essen. Das Kriegserlebnis und vor allem das Nachkriegserlebnis verstärkten mein von jeher ausgeprägtes Mitgefühl, das ich mir bis in die heutige Zeit erhalten habe.

      Meine Eltern pflegten dieses Mitgefühl und erlaubten mir gern, weniger satte Schulkameraden zum Mittagessen nach Hause mitzubringen. Unter ihnen war der kleine Dworak, ein magerer Junge mit bleichem Gesicht. Sein Vater war Schuhmacher, und zu Hause herrschte die Armut.

      Einmal habe ich meinen Vater gefragt, wieso es eigentlich reiche und arme Leute gebe und warum manche Leute so arm seien wie die Eltern vom Dworak. Mein Vater, so erinnere ich mich, meinte damals, es sei nicht wahr, dass die meisten Menschen an ihrer Armut selber schuld seien. Es gebe hierfür andere Ursachen. Das hat mich sehr beeindruckt, weil die herrschende und bequeme Auffassung die war: Wer arm ist, sei selber dran schuld, er habe es halt zu nichts gebracht. Die gewaltigste Formel meiner Jugend, die merkwürdigerweise auch von den Hausgehilfinnen benutzt wurde, war die Drohung: Wenn du nichts lernst, wirst halt nur Schuster! – Eine interessante Parenthese, wohin derartige Primitivformeln führen: Es gab in Österreich lange Zeit keine Schuhmacherlehrlinge, Schusterbuben, wie man sie in der alten Zeit genannt hat, nicht einmal für die feinsten Schuhmacher, die nur Maßschuhe erzeugten.

      Da ich nicht aufhörte, meinem Vater Fragen über die Ursache der Armut zu stellen, und er sie mir nur partiell beantworten wollte, bemerkte ich in seiner Darstellung eine leichte Voreingenommenheit gegenüber den Verwandten meiner Mutter, mit denen er zwar ein gutes Verhältnis hatte, aber als der Sohn eines Dorfschulmeisters war er gegenüber dem Reichtum der Angehörigen meiner Mutter doch ein bisschen reserviert.

      Am 21. November 1916 starb der alte Kaiser Franz Joseph. Der Leichenzug führte durch Mariahilf, und die Kinder in den Bezirken, durch die er von Schönbrunn zur Stadt hineinzog, mussten Spalier stehen. Es war ein eiskalter, grausiger Tag, und wir froren entsetzlich. Als der Trauerkondukt endlich herankam, schien es mir, als fülle sich die ganze Welt mit Schwarz. Es war eine einzige Demonstration der Schwärze, und in den Gesichtern der Menschen waren Schmerz und Sorge zu lesen; was mochte jetzt werden? Als ich nach Hause zurückkam, musste ich meinen Mantel anbehalten, weil es keine Kohlen gab. Es war ein Tag der Kälte und Düsternis in jedem Sinne, und noch in der Erinnerung hat er etwas Unheilvolles.

      Vom alten Kaiser wurde in unserer Familie mit großem Respekt gesprochen, und zwar in beiden Familien, in der mährischen Familie meiner Mutter wie in der vom Böhmischen her beeinflussten Familie meines Vaters. Sein Bild hing allerdings nur in der Familie Felix.