Tödlicher Orient. Inka Claussen

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Название Tödlicher Orient
Автор произведения Inka Claussen
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960085683



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ein erschöpfter Wesenheim zu sich selbst. Gemächlich fährt der Zug durch die Wüstenlandschaft. Plötzlich spürt Wesenheim eine gewisse Unruhe aufkommen. Gleichzeitig verlangsamt der Zug seine Fahrt. Was ist los? Als er aus seinem Fenster hinausschaut, sieht er eine große Staubwolke auf sich zukommen. Unruhe macht sich im gesamten Zug breit. Die Staubwolke kommt immer näher. Otto meint in ihr Umrisse von Gestalten auf Kamelen zu erkennen.

      Ein langgezogener Pfeifton ertönt und die ersten Reisenden fangen an zu schreien. Auch Otto ergreift eine gewisse Panik. Sind das Beduinen, vor denen man ihn schon in Konstantinopel gewarnt hat? Raue und unbarmherzige Gesellen sollen das sein. Sie erkennen keine Autorität an, selbst nicht die des Sultan-Kalifen. Nur ihren Stammesältesten fühlen sie sich verpflichtet. Immer wieder attackieren sie die Züge der Hedschasbahn, plündern sie aus, töten und verletzen die Reisenden, manchmal, so heißt es, nehmen sie auch Geisel. Nur gegen viel Geld lassen die Beduinen sie wieder frei; zumindest die Glücklicheren von ihnen. Andere verschwinden in der Wüste und tauchen nie wieder auf.

      Oh je, denkt Otto, wenn die mich entdecken, dann bin ich geliefert. Entweder töten sie mich auf der Stelle, da ich mich als Ungläubiger in diesem ausschließlich muslimischen Gebiet aufhalte – das Schreiben des Sultan-Kalifen wird nicht viel helfen, wenn sie denn überhaupt lesen können. Oder ich bin bestenfalls eine begehrte Geisel. Keine sonderlich beruhigende Alternative.

      Schon sind die Reiter klarer zu erkennen. Mit weißen Burnussen gewandet, elegant auf den Kamelen reitend, nähern sich ungefähr vierzig bis fünfzig Bewaffnete dem Zug. Mit schrillem Kreischen ziehen nun die Bremsen an, die Reisenden werden aus ihren Sitzen gerissen und durcheinander gewirbelt, einige schlagen mit den Köpfen gegen die Waggonwände und bluten aus ihren Wunden. Gleise sind ausgerissen. Kommt der Zug noch rechtzeitig zum Stillstand oder wird er entgleisen? Otto versucht, so gut es geht, sich in seinem Sitz zu halten. Mit großer Mühe gelingt es ihm. Schließlich kommt der Zug – anscheinend noch rechtzeitig – zum Stehen.

      Für Sekunden, die Otto aber sehr viel länger vorkommen, herrscht vollkommene Ruhe. Doch dann sind Gewehrschüsse zu hören. Rotes Mündungsfeuer zerreißt die gespannte Ruhe. Menschen beginnen zu schreien und Panik macht sich breit. Raus aus dem Zug, so die spontane Reaktion. Aber wohin nur? Ringsherum gibt es nichts als Wüste und eine unbarmherzig brennende Sonne. Aber das ist den Menschen egal. Schwankend und mit weichen Knien, genauso wie damals während des Erdbebens, hebt sich Otto aus seinem Sitz und verlässt den Salonwagen.

      Nun ist neben den Gewehrschüssen auch das Schreien der heranreitenden Beduinen zu hören. Markerschütternd! Das Rattern der Gewehrfeuer wird immer lauter. Otto spürt den Luftzug im Gefolge der vorbeizischenden Kugeln. Die Kugeln sind sehr real. Otto hört den dumpfen Einschlag des Geschosses, als ein Mitreisender getroffen wird. Der Mann greift zum Loch in seinem Bauch und sieht Otto mit einem Ausdruck gekränkten Erstaunens an, als wolle er fragen, ob ihm dies wirklich passiere. Dann schreit er auf vor Schmerz. Der Mann wird sterben und es gibt nichts, was Otto für ihn tun kann.

      Was soll nur werden? Unwillkürlich gleitet seine Hand in seine Reisetasche, die er mit festem Griff umklammert hält, und er holt seine Pistole der Marke Luger P 08 heraus. Immerhin, auch das deutsche Wertarbeit. Mit seiner Dienstpistole in der Hand, geladen mit acht 9 mm Parabellumgeschossen, fühlt er sich schon gleich wohler. Sie wird ihm so oder so gute oder auch letzte Dienste leisten. Eigentlich sind viele der Reisenden unbewaffnete Pilger, die nichts anderes im Sinn haben, als die Kaaba, ihr Heiligtum in Mekka, aufzusuchen, eine leichte Beute also.

      Friedliche Menschen. Diese Beduinenbande scheint nicht einmal auf gläubige Muslime Rücksicht zu nehmen. Wie wird es dann erst dem ungläubigen Otto ergehen? Otto wirft sich hinter den Bahndamm in Deckung und sieht, wie sich die Beduinen immer weiter nähern. Eine hoffnungslose Lage. Nur noch wenige Minuten, dann liegt sein Schicksal in anderen Händen. Wichtig ist, so schießt es Otto durch den Kopf, dass er noch eine Patrone in seiner P 08 aufspart. Für alle Fälle.

      Plötzlich hört er Schüsse. Schüsse, die aus einer anderen Richtung kommen. Dann entdeckt er die Mündungsfeuer. Aus Richtung des Zuges. Natürlich, Gott sei es gedankt oder sollte er lieber Allah sei gedankt sagen? Die Soldaten, dieser eher zerlumpte müde Haufen, scheinen den Ernst der Lage erkannt zu haben. Otto schaut vorsichtig über den Bahndamm und kann erkennen, wie die Soldaten aus den Waggons springen. Mit ihren Gewehren in Anschlag eröffnen sie das Feuer auf die heranstürmenden Beduinen. Auch sie wissen, dass sie keine Gnade zu erwarten haben.

      Anscheinend waren die Beduinen nicht auf die Anwesenheit der Soldaten vorbereitet oder aber sie haben die Entschlossenheit der Truppe unterschätzt. Nicht immer ist die Kampfmoral der Soldaten gerade in den Randgebieten des Reichs intakt, hat man in Konstantinopel des Öfteren gehört. Sich ergeben und auf Allah hoffen, ist häufig das Motto. Aber hier haben sich die Angreifer gründlich getäuscht. Die osmanischen Soldaten, vielleicht auch angetrieben von den grauenhaften Geschichten, die über die Gefangennahme kursieren, sind anscheinend gewillt, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Denn wer möchte schon mit seinem eigenen Geschlechtsteil im Mund enden?

      Mit Erleichterung und auch Respekt sieht Otto, wie sie Salve auf Salve auf die Beduinenbande abfeuern. Die ersten Kamele wie auch ihre Reiter sind getroffen und schlagen auf den Wüstenboden auf. Das aber macht die anderen nur wütender. Noch entschlossener reiten sie auf den Zug zu. Nur noch wenige Meter trennen sie von den Reisenden. Da trifft sie noch einmal eine Gewehrsalve. Die Kugeln zischen förmlich an Otto vorbei.

      Ihr Anführer wird regelrecht aus dem Sattel seines stolzen Kamels geworfen und schlägt in einer Sandwolke auf den Boden auf. Wie auf ein unsichtbares Kommando, so scheint es, machen die anderen Reiter daraufhin kehrt und preschen im Eiltempo davon.

      Erleichtert steht Otto auf. Er ist noch ganz beeindruckt von der Disziplin und Kampfmoral der Soldaten des Sultans, als sich vor ihm eine einstmals weiß gekleidete, nun aber mit roten Blutspuren versehene Gestalt mit gezücktem Krummdolch aufrichtet. Einen Moment lang herrscht Stille. Das Folgende nimmt Otto nur bruchstückhaft wahr.

      Die Gestalt stolpert und taumelt auf Otto zu, um mit einem vor Wut oder Schmerz verzerrten Gesicht seinen Dolch in den Ungläubigen zu bohren. Eine kurze Schrecksekunde verharrend, sieht Otto, wie sich der Dolch seinem Hals nähert. Ausweichen oder feuern?

      Bruchteile einer Sekunde entscheiden über Leben oder Tod. Da hört Otto, als ob er unbeteiligt ist, einen Schuss, sieht, wie der Beduine ihn mit offenem Mund anstarrt, in seiner Stellung verharrt, seinen Arm mit dem Dolch senkt, sich leicht nach rechts dreht und dann zu Boden sinkt. Eine Blutlache breitet sich schnell aus. Otto, noch mit seiner Luger in der Hand, vermag es nicht zu glauben. Spontan hat er das Richtige getan und auch noch getroffen.

      Erst jetzt macht sich Erleichterung breit. Der Spuk ist überstanden. Derweil die Verletzten, so gut es geht, versorgt werden, machen sich die Soldaten und Bahnbediensteten unterstützt von Freiwilligen der Reisenden daran, die Schienen wieder in ihre Gleise zu verlegen. Nach einiger Zeit und viel Schweiß gelingt es tatsächlich. Die Reise kann weitergehen. Erst allmählich begreift auch Otto, was vorgefallen ist, und Erleichterung macht sich bei ihm breit. Das erste wirkliche orientalische Abenteuer ist überstanden. Das Ziel der Reise ist vor Augen. Medina.

      Zwischen felsigen Hügeln hindurch fährt der Zug durch ein geöffnetes Tor in den von einer Mauer eingegrenzten Bahnhof, der dem von Damaskus gleicht, ein. Vor dem Gebäude des Kopfbahnhofs kommt er dann zum Stehen. Jeder ist froh, endlich wohlbehalten angekommen zu sein. Alle Glieder schmerzen, die Gesichter und die Kleidung sind verdreckt und verschwitzt. Die Wallfahrer sind beglückt, endlich so nahe an Mekka zu sein, danken Allah für die unversehrte Ankunft, stimmen das Lied »Gott sei gelobt« an und klatschen dazu rhythmisch in die Hände. Menschenmassen säumen den Bahnsteig und empfangen die Reisenden. Glücklicherweise ist man gerade rechtzeitig zum Maghrib angekommen, dem Gebet, das die Gläubigen zwischen Sonnenuntergang und dem Ende der Dämmerung verrichten. An diesem Ort bleibt man im Regelfall für einige Tage, bis man weiter nach Mekka reist. Die Burschen der Hausbesitzer, die Unterkünfte vermieten, zerren an den Reisenden, um sie zu der vermeintlich »besten« und »saubersten« Unterkunft ihres Lebens zu locken.

      Auch Otto verweilt zunächst einmal hier, um sich kurz auszuruhen. Nach einiger Zeit gelingt es ihm in dem Menschengewimmel seinen Diener Ali zu finden,