Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

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Название Hygienearzt in zwei Gesellschaften
Автор произведения Dietrich Loeff
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783938555286



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im Dorfe Meesiger (nahe dem bekannten Kummerower See) abzuhalten. Das durften nach DDR-Recht Ärzte tun, wenn keine medizinischen oder hygienischen Gründe dagegen sprachen. Als Konkurrenz zu anderen Ärzten galt das nie; alle hatten mehr als überreichlich zu tun und bezogen als Staatsangestellte ein Festgehalt. Unter den damals schwierigen Wegebedingungen in Mecklenburg, waren Außensprechstunden die einzige Möglichkeit für beschränkt mobile Patienten, überhaupt in eine Arztsprechstunde zu gelangen.

      Nach der Sprechstunde in Meesiger waren noch die bestellten Hausbesuche zu fahren. Hausbesuche in dieser Zeit und Region sind ein besonderes Thema und erfordern eine Abschweifung mit Vorgriff. Der Arzt wurde immer von einem Kraftfahrer gefahren. Dessen Hilfe war auch unerlässlich. Die Dörfer hatten weder Straßennamen noch Hausnummern, die Wegbeschreibungen der um Besuch bittenden Patienten oft nur Eingeweihten verständlich. Hieß es zum Beispiel „das fünfte Haus an der Straße“, musste man berücksichtigen, dass die Häuser der vor nunmehr 17 Jahren zugezogenen Umsiedler selbstverständlich nicht mitgezählt wurden. Sie waren halt noch nicht so recht integriert, jedenfalls nicht ins Denken der Alteingesessenen. Gummistiefel waren unentbehrlich. Angeblich kamen in Mecklenburg die Kinder schon damit auf die Welt – daher ihre oft argen Senk-Spreiz-Plattfüße. Schwierige, nasse, verschneite Straßen und verschlammte Lehmwege erforderten das ganze Können von Berufskraftfahrern und oft musste der Arzt noch schieben helfen, um durch eine Schneewehe zu kommen.

      Mich kutschierte oft ein Fahrer, der es bis 1965 auf fünfzig (!) Jahre unfallfreies Fahren brachte, dabei gehörten risikoreiche Militäreinsätze im Ersten Weltkrieg und viele Jahre als Fahrlehrer zu seiner Biografie. Fragte man die Anrufer, die um einen Arztbesuch baten (oft die Gemeindesekretärin, denn die wenigsten Einheimischen hatten ein eigenes Telefon und manche älteren Herrschaften waren auch unsicher bei seiner Bedienung), nach dem Straßenzustand, wurde der auch bei schlechtester Witterung fast immer als gut beschrieben. Mehr Klarheit schuf die Zusatzfrage, ob das Brotauto heute durchgekommen sei. Außerdem unterrichteten wir Poliklinik-Ärzte uns in der entsprechenden Jahreszeit täglich gegenseitig über Wege- und Straßenpassierbarkeit. War der Weg für PKW durch Schnee unpassierbar, wurde der Anrufer aufgefordert, über die Dorf-LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) zu einer vorgegebenen Zeit an einem vereinbarten Punkt einen Traktor oder geländegängigen LKW bereitstellen zu lassen. Fast immer geschah das auch.

      Einmal – wieder bei meiner Außensprechstunde in Meesiger – wurde ich um einen Hausbesuch in der kleinen Siedlung Gravelotte gebeten, die am Ufer des Kummerower Sees lag und deren Mittelpunkt eine Ausflugsgaststätte für Dampfer aus Demmin war. Aber es war klirrender Winter und der Hohlweg zwischen dem Dorf Meesiger und der kleinen Häusergruppe von Schnee zugeweht. Ein Bauer bot mir seinen Pferdeschlitten an und erwähnte stolz, dass seine Pferde noch vor zwei Jahren auf der Trabrennbahn Hoppegarten gelaufen seien. Selbstredend nahm ich sein Angebot an und er zeigte mir, was seine Rösser noch konnten. Wir fegten querfeldein durch den Schnee, dass es stiebte und zurück ging es rasant über das dicke Eis des Kummerower Sees. Hausbesuche sind zwar Arbeit, aber diese Fahrt hat mir unvergessliche Freude gemacht.

      Die Wegeverhältnisse bestimmten zwischen Herbst und Frühjahr auch oft die Reihenfolge der Besuchsfahrten. Zuerst und möglichst noch bei Tageslicht waren die entlegenen und schwer zugänglichen Orte und einzeln stehenden Häusergruppen (in Mecklenburg hießen sie Ausbauten) aufzusuchen, danach die über feste, freie Straßen erreichbaren Patienten, sicher zu jeder Tageszeit erreichbare Adressen in der Kleinstadt Demmin zuletzt. Übrigens hatte der Chefarzt der Poliklinik Demmin, Dr. Engel, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen anderen Ausweg aus den schwierigen Straßenverhältnissen und dem Fehlen von Autos gewählt. Er ritt zu seinen Patienten, oft Abkürzungen querfeldein und dadurch mit vertretbarem Zeitaufwand. Die Pferdeliebe färbte dann auf seinen Sohn ab, einen Schüler meiner Frau. Er wurde in den sechziger Jahren DDR-Meister im Geländeritt. Der Wettkampf fand in Demmin statt, also auf seiner eigenen Trainingsstrecke.

      War die Anfahrt bewältigt, konnten gelegentlich noch andere Hindernisse auftauchen. Ich erinnere mich noch an einen kalten Winterabend, an dem ich am Zaun eines Grundstücks vergeblich rief, den großen, aggressiv aussehenden Hund wegzubringen. Licht brannte noch im Hause, aber niemand hörte mich. Der Kraftfahrer veranstaltete ein Hupkonzert, doch ebenso vergeblich. Schließlich bombardierte ich den Hofhund mit harten Schneebällen, bis sein Lärm den Hausbewohnern unerträglich wurde und sie nach ihm sahen. Erst dann konnte ich mich bemerkbar machen und den Patienten im Hause ungefährdet aufsuchen.

      Kein Land der Welt kann seine Mittel verschwenden. So bemühte sich auch die DDR um die „wissenschaftlich begründete wirtschaftliche Arzneiverordnung“. Dazu gab es in Abständen Weiterbildungen oder Einzelbeiträge auf Veranstaltungen mit umfassenderer Thematik.

      Ich verordnete den Patienten bei Husten und zum Ausschwitzen von Erkältungsinfekten gern unterstützend diverse Tees, meist 100 Gramm, manchmal sogar 200 Gramm. Bei der nächsten entsprechenden Weiterbildung stellte der Kreisapotheker bei seinen Darlegungen auch riesige Tüten auf den Tisch. „Es gibt hier wohl Kollegen, die noch keine Mengenvorstellungen bei ihren Tee-Rezepten haben. 100 Gramm – das ist sooo viel! 25 bis 30 Gramm reichen völlig“. Ich wechselte mit dem Referenten heimlich verständnisvolle Blicke und damit war der Fall erledigt. Das war das einzige Mal, dass ich mit der „DDR-Staatsmedizin“ eine kritische Berührung hatte.

      Am 23. Dezember 1961 heirateten wir. An die Hochzeitsfeier in Großräschen, die meine Schwiegereltern wunderbar ausgerichtet hatten, erinnere ich mich im Gegensatz zur Verlobungsfeier noch sehr gut. Die Wirtsleute hatten zunächst Furcht: „O Gott, es kommen Berliner! Noch dazu junge Ärzte. Werden die denn mit unserem Essen zufrieden sein?“ Wir konnten sie sehr bald vollständig beruhigen. Die gesamte Feier war von Anfang bis Ende traumhaft schön. Meine Mitstudenten aus unserer Staatsexamens-Prüfungsgruppe waren überwältigt, machten jeden Spaß dankbar mit und alle Gäste feierten mit Hingabe. Speisen und Getränke brauchten sich vor guten Restaurants in Ostberlin wahrlich nicht zu verstecken – eher umgekehrt!

      Meine Frau überzeugte mich nun von ihren Kochkünsten. War ich vor der Ehe ein schlanker, ja fast dünner Mensch, gewann ich bei Brunhildes guter Pflege bald an Gewicht und habe jetzt seit Jahrzehnten mäßiges Übergewicht. Klage ich darüber, droht mir meine bessere Hälfte mit schlechterem Essen. Dann enden meine Vorsätze zur Gewichtsverminderung sehr schnell. Gerade im Alter muss man ja bei manchen anderen Genüssen kürzer treten. Dazu sagte schon ein erfahrener Zahnarzt am Ärztestammtisch Demmin: „Je älter man wird, desto lieber isst man.“ Leider hat er bis heute Recht behalten, jedenfalls bei mir – zum Schaden meines Bauchumfanges.

      1963 und 1965 kamen meine zwei Söhne Reinhard und Peter zur Welt. Manche Frauen lächeln hier und da etwas, wenn wir Männer vor und bei der Entbindung aufgeregter sind, als die werdenden Mütter selbst. Wenn sie es doch verstehen könnten: Es ist das Gefühl, der geliebten Frau in einer schwierigen Lage nicht helfen zu können. Die Anwesenheit des Partners im Kreißsaal war damals noch völlig unüblich. Er musste zu Hause auf den erlösenden Anruf warten, vorausgesetzt er hatte überhaupt einen Telefonanschluss. Ich versuchte es mit Selbstironie und benachrichtigte meine Mutter hinterher mit dem Telegramm: „Gestern 23:10 Uhr Reinhard geboren. Kind und Eltern wohlauf.“