Wagners Antisemitismus. Dieter David Scholz

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Название Wagners Antisemitismus
Автор произведения Dieter David Scholz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783534736157



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Korrespondenz und andere private Dokumente seines Denkens heranzuziehen sein.

      Von ganz zentraler Bedeutung für die Ermittlung der weltanschaulichen, politischen und künstlerischen Intentionen Wagners, aber auch für die Ermittlung der bisher meist unterschätzten Rolle seiner Frau im Prozess des entstehenden, so folgenreichen „Wagnerismus“ sind die Tagebücher der Cosima Wagner. Sie sind bis heute nicht umfassend unter dem Aspekt des Wagner’schen Antisemitismus ausgewertet worden. Genau dies macht sich vorliegende Arbeit zum Ziel: die Analyse und Auswertung der Cosima-Tagebücher als einer der wichtigsten Quellen der Wagner-Forschung. Die Enthüllungen der Tagebücher Cosimas machen in mancherlei Hinsicht Revisionen bisher als gültig erachteter Erkenntnisse und Urteile notwendig. Sie sind nicht zuletzt Schlüssel auch zum Verständnis der Wirkung, d.h. der bewussten ideologischen Auslegung und Beanspruchung des Wagner’schen Werks nach seinem Tod durch Cosima und den „Bayreuther Kreis“. Es wird schließlich zu zeigen sein, dass die Weichen für eine Inanspruchnahme des Wagner’schen Werks durch die Nationalsozialisten gestellt wurden durch Cosimas bornierten und starren Antisemitismus, der sich erheblich unterscheidet von dem ihres Gatten.

      Nach der „Pionierarbeit“ Cosimas, ihrer Mythen- und Legendenbildung, der ideologischen Zementierung eines antisemitisch-völkischen Wagnertums und der Weihung Bayreuths zum Gralstempel einer in ihrem Sinne verstandenen Wagner-Gemeinde durch Cosimas Bayreuther Kreis hatte ihre Schwiegertochter Winifred leichtes Spiel, die Freundschaft Adolf Hitlers und seine Begeisterung für das Werk Wagners zu gewinnen, woraus dann jener deutschtümelnde, falsche, aber folgenreiche Wagner-Kult der Nationalsozialisten hervorging, der die Grundlage aller nach 1945 kursierenden Vorurteile und Missverständnisse in Sachen Wagner bildet.

       I. Der Antisemitismus Richard Wagners in Forschung und Wagner-Literatur. Ein Problemaufriss

      Allgemeines

      Wer sich auf die Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus in Forschung und Literatur einlässt, sieht sich einer Reihe ungewöhnlicher Schwierigkeiten gegenübergestellt. Man muss sich grundsätzlich darüber im Klaren sein, worauf unlängst auch John Deathridge1 hingewiesen hat: dass es heute fast unmöglich ist, einen vollständigen Abriss auch nur eines speziellen Aspekts der Wagner-Forschung zu erstellen.

      Dies hat mehrere Gründe: Schon rein quantitativ ist die Literatur über Wagner nahezu unerschöpflich und wächst weiterhin an2, woraus der Zwang zur qualitativen Auswahl und quantitativen Beschränkung der Publikationen hinsichtlich ihres forschungsgeschichtlich und problemgeschichtlich repräsentativen Werts erwächst.

      Die Wagner-Literatur weist eminente Widersprüche auf, die zusammenfassende Aussagen verhindern: Für die einen ist Wagner exponierter Wegbereiter des modernen, ja des Hitler’schen Antisemitismus, für die anderen bloß ein ungefährlicher Mitläufer antisemitischer Zeitströmungen. Die Forschung hat sich bis heute noch nicht auf einen allgemein geltenden Konsensus einigen können.

      Eine wirklich sachlich-neutrale Auseinandersetzung mit dem Thema ist wegen emotionaler Befangenheit und differierender ideologischer Standpunkte und Interessen vieler Autoren noch immer mehr Wunsch als Wirklichkeit.

      Problematisch ist auch die Tatsache, dass sich die Wagner-Forschung keineswegs auf Publikationen innerhalb einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin beschränkt. Literaturwissenschaftler, Musikwissenschaftler, Politologen, Soziologen, Psychologen, Theaterwissenschaftler und Historiker haben sich des Themas angenommen. (Ganz zu schweigen von den unzähligen Autoren einer bloß biographisch-belletristischen oder journalistisch-polemischen Wagner-Literatur.)3

      Es kann für den Großteil heutiger Wagner-Literatur, einschließlich der wissenschaftlichen, immer noch als gültig betrachtet werden, was Moshe Zimmermann vornehmlich für die belletristische Literatur des 19. Jahrhunderts formulierte: „Für den Antisemitismus als Vorurteil war die Literatur stets ein Bezugsobjekt – ein Feld, wo Freund und Feind sich gegenseitig bekämpften und einander ihre Existenzberechtigung streitig machten!“4

      Die Auseinandersetzung mit Richard Wagner, die „Wagnerfrage“5, war immer auch eine Auseinandersetzung mit der „Judenfrage“, selbst wenn sie nicht explizit gestellt wurde – jedenfalls seit der Erstveröffentlichung seiner berüchtigten Schrift über „Das Judentum in der Musik“ (1850)6, die Wagner in aller Öffentlichkeit unmissverständlich als Antisemiten auswies und mit der er sich buchstäblich ins Buch der Geschichte des deutschen Antisemitismus hineinschrieb.

      „Wagnerianer“ und „Antiwagnerianer“, die es, als Wagner-Verteidiger und Wagner-Verächter, noch immer gibt, so anachronistisch es anmutet, liefern sich in der Debatte um Wagners Judenhass seit mehr als hundert Jahren eine Auseinandersetzung, in der es nicht immer in erster Linie um historische Gerechtigkeit und sachliche Erkenntnis zu gehen scheint.

      Verwunderlich ist das nicht angesichts der unter den Deutschen (spätestens) seit der deutschen Reichsgründung 1871 stets aktuellen „Judenfrage“, denn der Name Wagner weckt noch immer negative historische Assoziationen und Ressentiments angesichts des Hitler’schen Wagnerismus; Vorbehalte, deren Ergebnisse sich schließlich in einer Reihe historisch fragwürdiger Schlussfolgerungen dokumentieren, die bis heute in der Wagner-Literatur, auch der wissenschaftlichen, existieren.

      Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus bildete ohne Zweifel die schon genannte Veröffentlichung seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ im Jahre 1850. Mit diesem Werk griff Wagner vehement in die öffentliche Diskussion der „Judenfrage“ ein, eine Frage, die (mehr noch zum Zeitpunkt der zweiten Veröffentlichung seiner Judenschrift im Jahre 1869) die Gemüter der Zeitgenossen sehr bewegte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Umfeld des Zeitpunktes der „formellen Emanzipation der meisten deutschen Juden“7, die ja durch Reichsgesetz von 1871 fürs Erste vollzogen war, in den Anfangsjahren des neugegründeten Deutschen Reiches also, flammte ein qualitativ neuer, vor allem aber die Massen bewegender Antisemitismus auf.

      Der Historiker Theodor Mommsen verurteilte ihn (1893) in vernunftgläubigem Optimismus als eine „schimpfliche Krankheit der Zeit“8, die bald vorübergehen werde. Mommsen irrte, wie die deutsche Geschichte gezeigt hat. Der Antisemitismus der Gründerzeit war der Geburtsakt des modernen militanten (Rassen-)Antisemitismus, der in Hitlers Holocaust gipfelte.

      Die Reaktionen der Zeitgenossen auf Wagners Judenartikel reichten von Äußerungen der Enttäuschung, entsetzten Aufschreien und polemischen Attacken bis hin zu betulichen Verharmlosungs- bzw. Verteidigungsschriften9.

      Zum Zeitpunkt der ersten Publikation der Judenschrift, mehr noch zum Zeitpunkt der zweiten, gab es bereits so etwas wie eine, wenn auch quantitativ noch relativ bescheidene Wagner-Literatur, die sich allerdings vornehmlich mit der Musik und den Dramen Wagners befasste.

      Seit Wagners Veröffentlichung des Judenpamphlets aber setzte eine Flut von literarischen Auseinandersetzungen mit Wagner und dem Phänomen seines Antisemitismus ein. Alle Wagner-Literatur hatte sich von nun an auch mit Wagners Judenhass auseinanderzusetzen. Und damit begann die erste von vier Phasen der literarischen Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus, die im Folgenden charakterisiert werden sollen.

      Kennzeichnend für diese erste Phase war, dass in dem Maße, in dem die, wenn auch scheinbar in fortschreitender Assimilierung sich lösende Judenfrage immer noch kontrovers diskutiert wurde, auch die Auseinandersetzung mit Wagner widersprüchlich blieb hinsichtlich einer Bewertung seines Antisemitismus. Wagnerianer und Antiwagnerianer standen sich gegenüber, aber auch Antisemiten und Philosemiten.

      Die Reaktion auf den (sehr schnell seines Pseudonyms entkleideten) Autor der antisemitischen Schrift war ungeheuerlich: Es entbrannte für Jahre, ja Jahrzehnte ein regelrechter Wagner-Streit, in dem sich Anwälte wie Ankläger Wagners eine Schlacht vor allem (wenn auch nicht nur) um Wagners Antisemitismus lieferten. Dieser stand nunmehr für Jahre beinahe im Mittelpunkt einer jeden Auseinandersetzung mit Wagner und seinem Werk. Wo der Name Wagner fiel, und das ist bezeichnend für die Wagner-Debatte nicht nur jener Zeit, wurde oft nicht mehr differenziert und nicht