Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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bemüht, die diesen Zusammenhang aufs Neue aufdeckt. Bei HerderHerder, Johann Gottfried liest man: „Es ist fast unvermeidlich, daß eben das Höhere, Weitverbreitete unsres Jahrhunderts auch Zweideutigkeiten der besten und schlimmsten Handlungen geben muß, die bei engern, tiefern Sphären wegfielen. Eben daß niemand fast mehr weiß, wozu er würkt: das Ganze ist ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wohin? aber wie gewaltsam! rauschen – weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme?“235 Thomas MannMann, Thomas schreibt im Schlusssatz seiner Erzählung Schwere StundeSchwere Stunde (1905): „Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist“236. Und George BatailleBataille, George hat in der Erzählung Madame EdwardaMadame Edwarda seines Obszönen WerksObszönes Werk (dt. 1972) exakt den Zusammenhang zwischen Textbegehren und Körperbegehren beschrieben, wenn man das Rauschen in der Muschel als ein Echo des BegehrensBegehren lesen will: „Schließlich kniete ich nieder, ich schwankte, und ich legte meine Lippen auf die lebendige Wunde. Ihr nackter Schenkel liebkoste mein Ohr: mir war, als hörte ich das Rauschen einer Meereswoge, das gleiche Geräusch, das man vernimmt, wenn man das Ohr an eine große Muschel legt“237. Natürlich ist dies alles ein metonymisches Sprechen, da es ja nach den zuvor gemachten Einschränkungen nicht mit Prädikationen heißen kann ‚der Text ist …‘ oder ‚der Diskurs ist …‘. Doch es bleibt schwierig, einer Substanzialisierung des Text- und Diskursbegriffs zu entgehen. Vielleicht sollten wir es mit Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich LucindeLucinde (1799) halten: „Lieber erst den Diskurs, und hernach die Götter“238. Was die LiteraturLiteratur längst schon vollzogen hat, beginnend mit den großen Dichtern der frühen klassischen ModerneModerne von MallarméMallarmé, Stéphane, über BennBenn, Gottfried bis hin in unsere Tage zu Friederike MayröckerMayröcker, Friederike und Ernst JandlJandl, Ernst, das mangelt der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, nämlich die Abkehr vom Sinnverständnis, der Verzicht auf ein Gefangensein und Befangensein im Sinndenken. Wer wollte beispielsweise angesichts von Kurt SchwittersSchwitters, Kurt UrsonateUrsonate (1932) noch von SinnSinn reden? Dieser Text ist nicht unsinnig, nicht sinnlos, sondern sinnfrei. AnagrammatischesAnagrammatik LesenLesen lässt die Einsicht zu, dass Literatur nicht meint, was sie ist, sie spielt mit, nein sie lebt nachgerade von der Abweichung. Über diese Erkenntnis konstituiert sich das, was wir auf einer anderen Diskursebene die Fiktionalität der Texte nennen.

      Digressives Lesen ist eine notwendige Voraussetzung für anagrammatisches Lesen. Denn ein TextText ist das Produkt dessen, wovon er abweicht, was er nicht enthält, was er verschweigt, was er in die Peripherie drängt, was er der Verschiebung unterwirft. Wir sprechen gerne davon, ‚auf den Text selbst zurückzukommen‘. Das aber heißt, auf das zurückzukommen, was im Text als Abwesenheit markiert ist. Und diese Rückkehr zum Text ist kein geschichtlicher Zusatz, sondern verändert den Text notwendigerweise. Der Ort der Sinnproduktion ist im herkömmlichen philologischen Verständnis das schreibende Subjekt. Anagrammatisches Lesen kehrt dies um, demnach ist das Subjekt eine Metapher für die Abwesenheit von Sinn, kunstvoll camoufliert als Sinnschöpfungsinstanz. Das anagrammatische Lesen verzichtet auf die Operation einer Subjektwerdung des Textes, denn gerade hierin erweist sich die grundlegende Differenz zwischen fiktionalen Texten und den Diskursen der abendländischen Philosophie. Es geht keineswegs darum, die Instanz eines schöpferischen Individuums von Texten infrage zu stellen. Selbst wenn DerridaDerrida, Jacques in seinem Buch Die Schrift und die DifferenzDie Schrift und die Differenz (1967) schreibt, „das ‚Subjekt‘ der Schrift existiert nicht, versteht man darunter irgendeine souveräne Einsamkeit des Schriftstellers“239, so bedeutet das nicht, dass er oder andere Theoretiker die Existenz der schreibenden Hand leugneten. Sondern, um in diesem Bild zu bleiben, die Hand, welche schreibt, wird stets geschrieben von einer Hand, die schreibt. Maurits Cornelis EscherEscher, Maurits Cornelis hat dieses Paradoxon in einer Lithografie mit dem Titel Zeichnende HändeZeichnende Hände (1948) bildlich exakt dargestellt.

      Eines der eindrucksvollsten Textzeugnisse über die Bedeutung des Wortes findet sich am Beginn des Johannes-EvangeliumsJohannes-Evangelium. Die Parallele zur alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte des Beginnens als Wortschöpfung unterstreicht die Bedeutung der Arbeit am Wort: en archä än ho logos – in den Anfang eingegraben, nicht am Anfang, war das Wort, sondern im Anfang, der gewiefte Diskursanalytiker sagt nun: im Anfang war die Rede. Im Anfang war die Rede, und es war nicht die Rede vom SinnSinn. Gefangen im Käfig der Sinnsuche drapieren wir die Wände unseres engen Raums mit Phantasmen der Großwildjagd; Freiheit, Abenteuer, Wildnis – so sehen wir die Texte, die gefangen, gebändigt und verstanden gehören, schlimmstenfalls erlegt, und wir setzen in imperialer Geste den Fuß auf unsere Jagdtrophäe, lassen uns abbilden und nennen das Ganze Interpretation. Und dabei ist InterpretationInterpretation nichts anderes, als, wie Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich sagte, Kritik des Sinns,240 und Kritik bedeutet für ihn „[…] einen Autor besser verstehn als er sich selbst verstanden hat“241. Diese Ansicht hat eine lange Tradition. HerderHerder, Johann Gottfried meint 1778: „Das Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften“242. Und HamannHamann, Johann Georg schreibt in seiner Aesthetica in nuceAesthetica in nuce (1762): „Der Autor ist der beste Ausleger seiner Worte“243. AnagrammatischesAnagrammatik LesenLesen kehrt diese Perspektive um. Es verzichtet auf den Superlativ eines besten VerstehensVerstehen, eines besten Kommentars und eines besten Auslegers und setzt stattdessen das Zweifeln, das dem Erstaunen entspringt, ins Recht. Der Zweifel an der Autorität des Autors wurde und wird stets verstanden als Zweifel an der Autorität der PhilologiePhilologie als Wissenschaft, die diese Wissenschaft aber gar nicht benötigt.

      Das anagrammatische Lesen nimmt seinen Ausgangspunkt von einer sehr genauen LektüreLektüre des Textes. Anagrammatisch lesen muss heißen, unaufhörlich die Frage nach der Grenze zu stellen, nach der Grenze zwischen BeschreibungBeschreibung und DeutungDeutung. Die positivistischen Kenntnisse sind hier ebenso unverzichtbar wie es literaturgeschichtlichesLiteraturgeschichte Detailwissen ist. Nicht das Wissen ist anagrammatisch, sondern die Art seiner Anwendung. Anagrammatik ist ein Anwendungsverfahren, man kann nicht anagrammatisch wissen, aber durchaus anagrammatisch Wissen lesen. Anagrammatik betrifft also den Modus des Umgangs mit Wissen oder TextText, und nicht den Modus seiner Darstellung oder seiner Vernichtung. Die Wörtlichkeit des Textes ist natürlich der Ort seiner Ordnung, ihn nicht wörtlich zu nehmen heißt, ihn ortlos zu machen, zum Schweben zu bringen und dem ThaumaThauma, dem Zauber des Erstaunens zu folgen. LesenLesen ist keineswegs die Addition von BuchstabenBuchstaben, insofern gibt es ein wörtliches Verstehen nicht. Der Begriff anagrammatisches Lesenanagrammatisches Lesen selbst ist metonymisch zu verstehen. Zweifel können angebracht sein, ob es eine buchstäbliche Bedeutungbuchstäbliche Bedeutung eines Wortes überhaupt gibt. Das wäre eine An-sich-Bedeutung, die weit über kulturelle und gesellschaftliche Konventionen hinausginge, wesenhaft, metaphysisch, eigentlich aber mythologisch, mythopoetisch, letztlich geht es schlicht darum, Denkgewohnheiten aufzubrechen, zumindest zu erschüttern. Im Text lesen ist eine Metonymie, da es den TextText nicht gibt. Die Ordnung der Buchstaben ist nicht die Ordnung des Textes. Denn um es noch einmal zu sagen: Die Ordnung des Textes konstituiert sich nicht über die Materialität der Signifikanten, der Text ist ohne seine Leser*innen nichts. Deshalb, so wäre zu hoffen, braucht man die Literaturversteher, die nur eine andere Art von Lesern und Leserinnen sind.

      Dritte Fuge – Die KulturtechnikKulturtechnik des Wissenserwerbs wird in der AllegorieAllegorie von den zwei Nachtigallen treffend dargestellt.

      Nachdem der Nürnberger Schuhmachermeister und Dichter Hans SachsSachs, Hans (1494–1576) seine zunächst abwartende und beobachtende Haltung gegenüber der politisch-reformatorischen Entwicklung in Stadt und Land aufgegeben hatte, veröffentlichte er fünf Texte, die Partei nehmen für LutherLuther, Martin und die Reformation. Man kann davon ausgehen, dass Sachs nicht nur über sehr gute Bibelkenntnisse verfügte, sondern dass ihm die aktuellen Schriften Luthers bestens vertraut waren.

      Aus dem Jahr 1523 stammen das Meistersanglied Das Walt gotDas Walt got und das Spruchgedicht Die Wittenbergisch NachtigallDie Wittenbergisch Nachtigall. Die vier Reformationsdialoge Disputation zwischen einem Chorherren und SchuchmacherDisputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher, Ein gesprech von den Scheinwercken der GaystlichenEin gesprech von den Scheinwercken der