Название | Roter Herbst in Chortitza |
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Автор произведения | Tim Tichatzki |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783765575082 |
Er verabschiedete sich von seinen Eltern in dem festen Glauben, dass die Zukunft ihm recht geben würde und sie letztlich alle von seiner Entscheidung profitieren würden.
Getreidebrigaden
Osterwick 1920
Es überraschte Kalinin und seine Männer zu erfahren, dass ihr Einsatzgebiet noch immer nicht vollständig unter bolschewistischer Kontrolle stand. Hätten sie es gewusst, sie hätten sich anders vorbereitet. Nur durch gute Planung und optimale Ausrüstung konnte man eigene Verluste in Grenzen halten. Doch leider schien das nur den wenigsten Kommandeuren klar zu sein. Und so schickten sie ihre Soldaten jeden Tag aufs Neue in schier aussichtslose Gefechte.
Viel zu viele Menschen verloren ihr Leben, nur weil sie unter unfähigen Befehlshabern dienten. Kalinin ärgerte sich darüber, konnte es aber nicht ändern. Er konnte nur die Verantwortung für seine eigenen Männer übernehmen, sich möglichst unsichtbar zwischen den Frontlinien bewegen und sich, so gut es ging, absichern, dass ein auf der Karte als erobert ausgewiesenes Gebiet auch wirklich unter ihrer Kontrolle stand.
Als sie sich mit ihren drei Lastwagen Osterwick näherten, spürte Kalinin, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Sie kamen zum ersten Mal in ein deutsches Dorf. Hoffentlich waren die Bewohner wirklich so friedlich, wie man allenthalben von ihnen hörte. Seine Anspannung wuchs, als sie in Reichweite der Maschinengewehre gelangten. Er konnte diesen Punkt mittlerweile auf den Meter genau bestimmen. Mehr als einmal waren sie bei ihrer Fahrt durch die ukrainischen Dörfer von einer Salve empfangen worden, hatten auf diese Weise bereits drei Männer verloren. Doch diesmal blieb es zu ihrer aller Erleichterung still.
Sie fuhren in das Dorf hinein, überquerten eine Holzbrücke, die über einen Bach führte, ohne dabei auf eine einzige Barrikade zu stoßen. Die ersten Höfe kamen in Sicht, große Wirtschaften, auf denen sowohl Viehzucht als auch Ackerbau betrieben wurden. Kalinin starrte mit großen Augen aus dem Fenster seines Lastwagens. Die Dächer der Häuser ragten fast zehn Meter in die Höhe und waren nicht wie sonst üblich mit Stroh gedeckt, sondern mit sauber gebrannten, in perfekten Reihen ausgelegten Ziegeln. So etwas hatte er bisher nur in größeren Städten gesehen.
Weiß getünchte Zäune trennten die Grundstücke voneinander ab, auf denen Akazien und allerlei Obstbäume wuchsen. Selbst die Bürgersteige verliefen exakt entlang der Straßen, ohne jedweden Versatz, über den die Passanten üblicherweise stolperten. Kalinin konnte den Gedanken nicht verdrängen, selbst gerne an solch einem Ort leben zu wollen. Er besann sich auf seinen Auftrag und gab den Männern ihre Befehle. Immer noch in höchster Alarmbereitschaft sprangen die Tschekisten von den Pritschen ihrer Lastwagen, verteilten sich im Dorf und trieben die Bewohner aus ihren Häusern. Sie befahlen ihnen, sich innerhalb einer Viertelstunde auf dem Kirchplatz einzufinden.
Willi spürte, dass etwas nicht stimmte, als seine Mutter ihn rief. Er wollte sich mit Maxim gerade auf den Weg zur Tränke machen, zu einem kleinen, aufgestauten Teich am Rande des Dorfes, wo es sich vortrefflich angeln ließ. Sie hatten sich dafür die Erlaubnis des Pächters eingeholt. Doch als Willi die Dringlichkeit in der Stimme seiner Mutter hörte, ließ er seine Angelrute fallen und rannte zurück ins Haus.
„Was ist passiert?“, fragte er. Alle waren damit beschäftigt, ihre Schuhe zu schnüren oder ihre Jacken zuzuknöpfen. Niemand schien seine Frage zu hören.
„Was ist passiert?“, fragte Willi etwas energischer.
„Wir sollen uns alle auf dem Kirchplatz versammeln“, murmelte sein Vater undeutlich.
Willi merkte, dass dies keine gewöhnliche Zusammenkunft war. „Aber wer … Warum sollen wir da hingehen? Sollen nur wir kommen?“
„Willi, jetzt frag nicht so viel“, raunzte ihn seine Mutter an. „Es sind die Bolschewiken. Sie haben befohlen, dass sich das gesamte Dorf in fünfzehn Minuten auf dem Kirchplatz einzufinden hat. Geh, sag Juri und Maxim Bescheid, dass das auch für sie gilt. Schnell.“
Es gab keine Nachzügler, keine Trödler. Auf die Minute pünktlich fanden sich alle Einwohner Osterwicks wie befohlen auf dem gepflasterten Platz vor ihrer Kirche – dem Bethaus – ein. Es herrschte gespannte Ruhe. Selbst die Kinder, die sonst herumzutollen pflegten, standen dicht gedrängt bei ihren Eltern, die Blicke ängstlich auf die bewaffneten Tschekisten gerichtet.
Anton Kalinin beobachte die Menge von der Pritsche seines Lastwagens aus.
„Ihr Bauern von Osterwick. Heute ist der Tag gekommen, an dem ihr euch an der glorreichen Revolution Russlands beteiligen könnt, ohne zu den Waffen zu greifen, so wie es der Zar immer wieder von euch verlangt hat.“ Er wusste, dass die mennonitischen Siedler sich seit jeher dem Kriegsdienst verweigert hatten, und versuchte daher, sie auf andere Weise für die Sache der Bolschewiken zu gewinnen. Ein Handzeichen aus der zweiten Reihe brachte ihn aus dem Konzept.
„Ja!“, wandte sich Kalinin etwas zu schroff an den Bauern, der daraufhin einen Schritt vortrat, seine Mütze vor sich in den Händen haltend.
„Herr Major, ich bitte um Verzeihung, aber die meisten von uns sind einfache deutsche Siedler und nur wenige von uns sind der russischen Sprache mächtig. Ukrainisch ja. Deutsch natürlich auch. Aber Russisch sprechen nicht viele von uns.“ Abram Dyck, der Pastor der Mennoniten, trat wieder zurück in die Menge, hielt den Kopf gesenkt, als erwartete er für seinen Einwand eine Bestrafung.
Kalinin schaute verdutzt in die Menge. Er hatte sich im Vorfeld ein wenig mit den Sitten und Gebräuchen der Deutschen vertraut gemacht, aber es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, hier in seinem Land auf derartige Sprachbarrieren zu stoßen. Er fasste sich schnell und beorderte den Mann als Dolmetscher zu sich auf die Pritsche.
„Niemand verlangt, dass ihr zu den Waffen greift“, versuchte er den Faden wieder aufzunehmen, „aber wir benötigen eure Hilfe bei der Getreideversorgung.“ Kalinin lächelte, während er auf das Ende der deutschen Übersetzung wartete.
„Sie wollen unser Getreide klauen, aber wenn wir geschickt vorgehen, dann kommen wir vielleicht wieder glimpflich davon.“
Willi unterdrückte ein Grinsen, als er Abram oben auf dem Wagen sah. Natürlich konnten sie den Major auch sehr gut ohne Übersetzung verstehen. Aber es war ein entscheidender Vorteil, wenn sich eine Gruppe beraten konnte, ohne vom Feind verstanden zu werden. Diese List hatte ihnen bereits im Umgang mit den Weißen geholfen.
Kalinin zog eine Mappe voller Papiere aus seiner Tasche. „Genosse Lenin ist darauf bedacht, die Lasten der Revolution auf alle Schultern gleichmäßig zu verteilen.“
„Sie werden uns jetzt gleich eine Quote anbieten, die wir möglichst weit nach unten verhandeln müssen. Mir scheint, als wäre dieser Major noch sehr unerfahren. Wenn wir uns geschickt anstellen, dann wird es uns vielleicht nicht so schlimm treffen“, instruierte der Pastor seine Herde. Kalinin wartete geduldig auf das Ende der für ihn unverständlichen „Übersetzung“.
„Osterwick bewirtschaftet eine Anbaufläche von rund 60 Hektar und erntet im Jahr etwa 50 Tonnen Getreide.“ Kalinin wusste, dass seine Daten reine Mutmaßungen waren, die auf den wenigen vorhandenen Zahlen russischer Höfe basierten. Er hatte sie im Vorfeld bereits nach oben korrigiert, um sich etwas mehr Spielraum zu verschaffen.
„Sie vermuten, dass wir 60 Hektar Fläche bewirtschaften und nur 50 Tonnen Getreide ernten. Ihr müsst jetzt alle ganz erschrocken und entrüstet tun, mir auf Deutsch zurufen, dass wir zusammen nur auf 30 Tonnen kommen.“
Der