Название | Roter Herbst in Chortitza |
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Автор произведения | Tim Tichatzki |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783765575082 |
Seine äußere Erscheinung unterschied ihn von den Jungs seines Alters wenigstens genauso stark wie sein Auftreten, und so verwunderte es nicht, dass er bei den Mädchen des Dorfes schon bald größte Aufmerksamkeit genoss. Sie suchten jede sich bietende Möglichkeit, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl es ihnen eigentlich nicht gestattet war, sich mit Jungen ihres Alters abzugeben. In manchen Familien konnte dies sogar ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen, was sie aber nicht daran hinderte, ständig um Maxim herumzuscharwenzeln.
Eines Vormittags, die Kinder befanden sich in der Schule und Heinrich auf den Feldern, nahm Maria all ihren Mut zusammen und ging hinüber zur Scheune, wo die Orlows ihr Lager aufgeschlagen hatten. Juri legte gerade ein Bündel Reisig zum Trocknen aus. Als er Maria bemerkte, unterbrach er seine Arbeit, erhob sich ungelenk, nahm seine Mütze ab und begrüßte sie gewohnt freundlich.
„Juri, darf ich dir eine Frage stellen?“, kam Maria unvermittelt zur Sache.
„Natürlich, Frau Bergen. Ich hoffe, dass meine Antwort zufriedenstellend ist“, antwortete Juri überrascht.
„Wo ist deine Frau, Juri?“
Diese Frage hatte er nicht erwartet. Einen Moment lang wirkte er verlegen. „Wer sagt, dass ich verheiratet bin, Frau Bergen?“
„Maxim ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten und er versteht es, mit gleicher Freundlichkeit zu beeindrucken wie du. Er ist unverkennbar dein Sohn. Ein Mann wie du setzt aber keinen Sohn in diese Welt, ohne ihm die Wärme einer liebenden Familie zu geben.“
Sie merkte, dass ihre Worte viel respektloser klangen als beabsichtigt. Und auch aus Juris Gesicht wich für einen kurzen Augenblick die Freundlichkeit.
„Es tut mir leid“, sagte sie, hastig bemüht, den Schaden wiedergutzumachen. Sie wandte sich zum Gehen.
„Wir lebten in einem kleinen Dorf, ganz in der Nähe von Jusowka“, begann Juri. „Sie hieß Daria und wir hatten drei Kinder. Maxim ist der Älteste. Vor einem guten Jahr kamen sie nachts in unser Haus. Sie beschuldigten mich, den Weißen Informationen zukommen zu lassen, was natürlich nur ein Vorwand war, um ihren Vorgesetzten die eigene Tüchtigkeit bei der Bekämpfung der Gegenrevolution vorzugaukeln. Sie holten fast jede Nacht unschuldige Menschen aus ihren Betten. Immer mit der gleichen Begründung: Ihr spioniert für die Weißen. Sinnlos, diese Anschuldigung entkräften zu wollen. Selbst wenn man aufseiten der Revolutionäre stand, so zählte in dieser Nacht nur das Urteil der Tschekisten2.
Sie wollten uns einschüchtern, indem sie die Männer stundenlang verhörten. In der Regel beließen sie es bei ein paar Blutergüssen und harmlosen Prellungen. Doch diesmal nahmen sie Daria mit. Ich wusste nicht, wohin man sie brachte, geschweige denn, was man ihr vorwarf. Also ging ich am nächsten Morgen nach Jusowka, um bei der Miliz Anzeige zu erstatten. Aber es geschah nichts, obwohl ich mich jeden Tag nach ihrem Verbleib erkundigte. Zwei Wochen vergingen, dann kamen die Männer zurück. In der Hand hielten sie den von mir unterschriebenen Beschwerdebericht. Sie erklärten mir, dass ich Daria nie mehr wiedersehen würde, und schlugen dann so lange mit ihren Knüppeln auf mich ein, bis ich das Bewusstsein verlor.“
Juri erzählte seine Geschichte mit äußerster Ruhe und fester Stimme. Er blickte dabei zu Boden. Maria konnte seinen Schmerz nur anhand der Tränen erahnen, die ihm die Wangen hinunterliefen. Sie wollte ihn gerne in den Arm nehmen und trösten, doch das traute sie sich nicht.
„Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie Maxim und ich vor unserem brennenden Haus auf der Straße sitzen. Die Tschekisten haben es beim Verlassen angezündet und der Junge konnte uns gerade noch rechtzeitig aus den Flammen retten. Von ihm erfuhr ich auch, dass sie die Mädchen mitgenommen haben. Ich weiß bis heute nicht, wo sie sind.“
Seine Stimme brach bei dem Gedanken an seine beiden Töchter und es dauerte einen Moment, bis er fortfuhr zu erzählen.
„Hilfe aus der Nachbarschaft konnten wir nicht erwarten, da sie im Dorf die Nachricht verbreiteten, ich sei ein Spion der Weißen. Niemand wollte danach noch etwas mit uns zu tun haben. Deshalb sind wir seit fast einem Jahr auf Wanderschaft. Wir leben von der Hand in den Mund. Maxim lässt es sich nicht anmerken, redet kaum darüber, aber ich weiß, wie schwer ihn der Verlust seiner Mutter und seiner beiden Schwestern getroffen hat. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob wir es schaffen. Es war eine schreckliche Zeit.“
Juri hob den Blick, schaute Maria mit geröteten Augen an. Auch sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie scherte sich nicht länger darum, was andere denken oder sagen könnten, ging auf Juri zu und nahm ihn tröstend in den Arm. Beide bemerkten nicht, wie das Nachbarsmädchen die leere Milchkanne abstellte, bevor es sich leise zurückzog.
2Tscheka ist die Abkürzung für die „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Hiervon abgeleitet entstand der propagandistische Ausdruck „Tschekisten“ für die Mitarbeiter der Inlandgeheimdienste.
Anton Kalinin
Moskau 1919
Der Winter kommt früh dieses Jahr, dachte Anton Kalinin, als er sich in den schützenden Hauseingang zurückzog. Doch der Wind fand seinen Weg in jeden noch so versteckten Winkel, sodass es ihn drei Streichhölzer kostete, bis er seine Zigarette endlich zum Glimmen brachte. Er fluchte über diese Verschwendung, waren doch selbst solch banale Gebrauchsgegenstände nicht mehr ohne Aufwand zu bekommen. Eigentlich mochte Kalinin dieses Wetter. Er stammte aus Sibirien, wo man schon als Kind lernte, den nahenden Schnee zu riechen. Er freute sich auf die Kälte, den Schnee, der den Schmutz auf Moskaus Straßen, die Zerstörung und die Verwahrlosung wenigstens für ein paar Monate zudecken würde. Es war nicht das Wetter, das ihn so übellaunig machte.
Aus dem Haus, das seine Männer durchsuchten, drang der Lärm von zerberstenden Möbeln. Sind es wirklich die Kapitalisten, die das Land ins Chaos stürzen, oder zerstören wir uns selbst?, fragte sich Kalinin zum wiederholten Mal. Ein Kleiderschrank flog aus dem ersten Stock und landete krachend auf der nassen Straße. Immer häufiger gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf, aber er war schlau genug, sie für sich zu behalten.
Er schaute einer feinen Bluse nach, die vom Wind davongetragen wurde, stellte sich einen kurzen Moment die Frau vor, die darin vermutlich sehr attraktiv ausgesehen haben musste. Zugleich spürte er Verachtung in sich aufsteigen. Verachtung für jene Menschen, die ihr Geld lieber für teure Kleidung ausgaben, während der Rest der Bevölkerung hungerte. Feinde der Revolution. Ein eitriges Geschwür, das es herauszuschneiden galt, bevor es sich noch weiter ausbreiten konnte.
Noch vor einem Jahr, als er der Tscheka beitrat, da hatten ihn diese Parolen beeindruckt. Seinen Zorn entfacht, ihn angestachelt, jedem Angehörigen der russischen Adels- und Aristokratenklasse eine Kugel in den Kopf zu jagen. Schon während des Großen Krieges hatte er so viele Menschen getötet, dass er irgendwann keinerlei Regung mehr dabei empfand. Erst das Töten im Namen der Revolution gab ihm wieder einen Sinn. Doch der anfängliche Eifer verflog so schnell, wie er kam, wich stattdessen einem kalten Pragmatismus, der ihn seine Aufträge bald nur noch professionell und emotionslos erledigen ließ. Und je besser er sie erledigte, desto größer waren die Privilegien, die er in Anspruch nehmen durfte.
Anton Kalinin hatte nicht vor, auch nur ein einziges Mal für Brot anzustehen, wie all die gebeugten Gestalten, die sich täglich in die Schlangen vor den Geschäften einreihten, um nach Stunden des Wartens doch nur vor leeren Regalen zu stehen. Lief er Gefahr, seine Vorteile zu verlieren, so musste er lediglich ein paar Verhöre mehr durchführen, seine Quote etwas übererfüllen, und schon standen ihm wieder alle Türen offen. Türen, von denen die Moskowiter dieser Tage nicht einmal ahnten, dass es sie überhaupt gab. Kalinin schnippte seine Zigarette auf die Straße und betrat das Haus.