Die große Illusion. Hans von Trotha

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Название Die große Illusion
Автор произведения Hans von Trotha
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783949203022



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parlamentarischen Beteiligung, schließlich als autoritärer Zentralstaat alles andere als »alternativlos« war. Der Begriff, den Bundeskanzlerin Angela Merkel im Zusammenhang mit der Euro-Rettungs-Krise zur seither viel zitierten Chiffre dafür machte, dass es bisweilen unnötig sei, politisches Handeln logisch zu erklären und nachvollziehbar zu begründen (was bei der Namensfindung für eine rechte Fundamentalopposition, die Alternative für Deutschland, eine Rolle gespielt haben dürfte), fällt nicht nur bei Eckart Conze, sondern auch in anderen Darstellungen der Ereignisse von 1871, etwa in Christoph Jahrs ebenfalls im Herbst 2020 erschienenen Buch Blut und Eisen, dessen Untertitel die Rolle Preußens für die Reichseinigung von 1871 so fasst: Wie Preußen Deutschland erzwang. So anachronistisch die Anwendung des Begriffs alternativlos in seiner politischen Bedeutung von 2010 auf die komplexen politischen Verhältnisse im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist, so kommt sie doch nicht von ungefähr: Hat doch eine nationalistische Geschichtsschreibung viel darangesetzt, das Gegenteil zu behaupten, also darzulegen, dass die Einigung Deutschlands unter der strammen Führung Preußens immer das Ziel der Geschichte gewesen sei – mithin also eben doch alternativlos.

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      Anton von Werner, Die Proklamation des deutschen Kaiserreichs. Fassung für das Berliner Schloss, enthüllt am 22. März 1877.

      Öl auf Leinwand, 4,34 × 7,32 m, Kriegsverlust; nur als Schwarz-Weiß-Fotografie erhalten.

      Eckart Conze erzählt die Geschichte der Einigung Deutschlands zum Kaiserreich nicht nur um ihrer selbst, sondern vor allem um der Konsequenzen willen, die sich aus ihr ergeben haben. Dabei hat er mit seinem Buch, das er eine »geschichtspolitische Intervention« nennt, eine Debatte innerhalb seiner Zunft ausgelöst, die auch in den Feuilletons ausgetragen wurde. Einerseits hatte das mit dem Jahrestag zu tun, der 150. Wiederkehr der Reichsgründung, die nicht zuletzt wegen Anton von Werners stets im Bildgedächtnis der Deutschen präsenten Gemälde immer gleich ein Bild erzeugt und damit verbunden Emotionen. Der lebhafte Streit um Conzes »Intervention« ist aber auch eine Folge davon, dass sich über eine intensive, zum Teil auch öffentlich diskutierte Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert, ein neues, differenziertes Bild des deutschen Kaiserreichs, des ersten Nationalstaats der Deutschen, ergeben hatte, immer wieder angeregt durch Jahrestage (etwa 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 2014 oder 100 Jahre Frieden von Versailles im Jahr 2018, aber auch der 200. Geburtstag Otto von Bismarcks, des wichtigsten und umstrittensten deutschen Politikers im 19. Jahrhundert, ohne den es das deutsche Kaiserreich zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form nicht gegeben hätte, im Jahr 2015).

      Eckart Conze macht im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in dem seit 1990 wieder zum Nationalstaat vereinten Deutschland eine »Renationalisierung, ja einen neuen Nationalismus« aus, »der außenpolitische Bindungen, nicht zuletzt in Europa, infrage stellt und innenpolitisch und gesellschaftlich einer völkisch bestimmten nationalen Identität das Wort redet«. Der Historiker spricht von »Dynamiken der Renationalisierung« und resümiert: »Unkritisch und offensiv bekennt sich ein neuer Nationalismus zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und stellt die Berliner Republik in ihre schwarz-weiß-rote Tradition.«

      In verschiedenen Repliken wurde Conze vorgeworfen, die neuen Forschungsergebnisse zum 19. Jahrhundert nicht genügend zu würdigen und einseitig auf die »Schatten des Kaiserreichs« zu verweisen, ohne die gesellschaftlichen Fortschritte jener Epoche ausreichend zu berücksichtigen. So befand die Historikerin Birgit Aschmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

      »Conzes Bild des Kaiserreichs folgt einer historiographischen Pendelbewegung, auf die er selbst eingeht. Hatte die deutsche Geschichtsschreibung bis in die fünfziger Jahre hinein ein weithin positives Bild der Jahre zwischen 1871 und 1914 gepflegt, das sich vom Nationalsozialismus und der ungeliebten Weimarer Zeit abhob, kehrte sich seit den sechziger Jahren mit den Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer und der ›Bielefelder Schule‹ die Blickrichtung um. Fortan galten auch und gerade die gesellschaftlichen Strukturen des Kaiserreichs als ursächlich für den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus. In umfangreichen Forschungsprojekten versuchten Historiker nun, die Deformation des kaiserzeitlichen Bürgertums als Ursache der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts dingfest zu machen. Letztlich aber scheiterte dieses Vorhaben, erwiesen sich doch das Kaiserreich als weniger undemokratisch und der Westen als weniger vorbildlich als gedacht. Fortan konzentrierte sich die Erklärung des Nationalsozialismus, erst recht des Holocausts, auf den Ersten Weltkrieg und Weimar, während die vom politisch-moralischen Erklärungszwang befreite Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts ein vielschichtigeres Bild der deutschen Gesellschaft und Kultur entwickelte.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.2021)

      Birgit Aschmann wirft Eckart Conze vor, »aus purer Abwehrhaltung veraltete Bilder vom Kaiserreich einzufrieren. Natürlich gab es die ›Schatten des Kaiserreichs‹, also Militarismus, Nationalismus und Obrigkeitsstaat. Aber erst in Kombination mit der breiten kultur- und politikgeschichtlichen Forschung, die die gegenläufigen Phänomene von Pluralisierung, Demokratisierung, Rationalisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft betont, ergibt sich ein ›vollständiges‹ Bild jener Epoche.«

      In der Wochenzeitung DIE ZEIT konstatierte die Historikerin Hedwig Richter in einer »Replik auf Eckart Conze«: »Das Kaiserreich war moderner, als seine Kritiker glauben.« Sie meint: »Die Diskussion, die (Conze) angestoßen hat, kreist letztlich um die Frage: Darf man der deutschen Öffentlichkeit neuere Erkenntnisse über das Kaiserreich zumuten, die ein komplexeres Bild zeichnen? Oder relativiert das die deutsche Schuld am Nationalsozialismus?« Und: »Zweifellos: Militarismus, Antisemitismus und Kolonialismus prägten das Kaiserreich. Doch sie lassen sich erst angemessen analysieren, wenn man sie als globale Phänomene begreift.« Schließlich meint Hedwig Richter: »Die Deutschen erlebten damals, wie die US-Historikerin Margaret Anderson schreibt, ›Lehrjahre der Demokratie‹ (und nicht nur den Aufstieg völkischer Bewegungen). Das Parlament entwickelte sich gegen das Toben des oft verspotteten Kaisers zu einer maßgeblichen Instanz.« (DIE ZEIT, 20.1.2021)

      Auf Deutschlandfunk Kultur kommentierte dagegen die Historikerin Christina Morina: »Ich glaube, in dem Bereich sind sich auch die Historikerinnen und Historiker inzwischen einig, dass das eine Epoche war, die zur Vorgeschichte des heutigen Deutschlands gehört, die aber sehr kritisch gesehen wird, die als Machtstaat, als autoritärer Machtstaat eben keine Traditionslinie ist, in die wir uns heute bewusst stellen, sondern eine Epoche, die Gott sei Dank überwunden ist. (…) Es gibt starke Demokratiebewegungen, die nicht wegen oder mit dem System des Kaiserreichs, sondern trotz dieses autoritär verfassten, dieser konstitutionellen Monarchie gewachsen sind, die selbstverständlich zu unserer demokratiegeschichtlichen Tradition gehören – da ist die Sozialdemokratie ganz vorne zu nennen, aber selbstverständlich auch die Frauenbewegung und andere liberale und liberaldemokratische Vereinigungen. (…) Ich weiß nur nicht, was Sinn und Zweck einer Diskussion ist, die versucht, daraus Bezugspunkte zu holen. Denn insgesamt glaube ich, in der Gesamtbewertung ist es eben ein Staat, der die Demokratie nicht als Ideal vertrat, sondern sozusagen als Zugeständnis ermöglichte, wenn es passte.«

      Außerdem findet auch Christina Morina: »Zur Geschichte der Bundesrepublik gehört immer auch ihre Herausforderung von rechter, nationalistischer Seite. Das ist etwas, was gerade in letzter Zeit – deshalb ist eben, glaube ich, die Diskussion um die Relevanz der Reichsgründung und des ersten deutschen Nationalstaates heute auch wichtig –, was in letzter Zeit eben auch wieder stark zunimmt und inzwischen in der AfD auch eine parlamentarische Repräsentation hat, die es in der Geschichte der Bundesrepublik niemals zuvor gegeben hat.«

      In der Süddeutschen Zeitung wunderte sich der in Cambridge forschende Historiker Oliver F. R. Haardt, »mit welcher Emotionalität die Debatte über 150 Jahre Kaiserreich hierzulande unter Historikerinnen und Historikern geführt wird. Denn das ist längst nicht bei jedem wichtigen historischen Jubiläum in Deutschland so. Die Diskussion zur 500-Jahr-Feier der Reformation war beispielsweise deutlich nüchterner. Das Kaiserreich scheint dagegen nach wie vor einen besonderen Nerv in der Zunft zu treffen.« (Süddeutsche Zeitung, 3.2.2021)

      Ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung schob Joachim Käppner unter dem Titel »Des Kaisers alte