Название | Frankreich - eine Länderkunde |
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Автор произведения | Henrik Uterwedde |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847411642 |
Zunächst einmal benötigt er bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 eine Mehrheit, um seine Politik umsetzen zu können. Denn so stark die Rolle des Präsidenten in der Fünften Republik ist, seine Gestaltungsmacht hängt auch von der Zusammensetzung der Nationalversammlung ab (→Kap. 2). Macrons noch junge Bewegung En Marche! dürfte zwar eine wichtige Rolle in der neuen Nationalversammlung spielen, aber es ist nicht sicher, ob sie eine eigene Mehrheit erringen kann. Wenn nicht, wird sie auf Partner angewiesen sein oder, schlimmer, durch eine oppositionelle Mehrheit blockiert werden. Bei Sozialisten und Konservativen gibt es zwar eine Reihe führender Politiker, die im Prinzip bereit sind, zu notwendigen Reformen beizutragen, aber auch Hardliner, die den neuen Kurs zu verhindern versuchen. Viel wird auch von der künftigen Parteienlandschaft abhängen. Marine Le Pen hat eine Umstrukturierung ihrer Partei angekündigt. Bei den Konservativen ist die Klärung zwischen dem gemäßigten Flügel und den Radikalkonservativen, die oft eine Nähe zum Front National aufweisen, überfällig. Die Sozialisten stehen vor einer Zerreißprobe, von der nicht sicher ist, ob die Partei sie überleben wird: Zwischen dem linken Flügel, der sich im Grunde dem Linksaußen Mélenchon näher fühlte als der eigenen sozialistischen Regierung, und den gemäßigten Sozialdemokraten scheinen die Tischtücher längst zerschnitten. Schließlich steht auch Macrons Bewegung vor der Aufgabe, sich in eine wirkliche Partei zu verwandeln und im Lande stärker zu verankern. Es wird sich also einiges ändern – nichts neues in einem Land, dessen Parteiensystem traditionell durch Instabilität und ständigen Wandel gekennzeichnet ist (→Kap. 3.1).
Risiken und Chancen
Angesichts der verhärteten innenpolitischen Fronten und des vielfachen Widerstands gegen jegliche Veränderungen – ist ein Scheitern des neuen Präsidenten nicht auszuschließen. Es gibt aber auch Argumente für vorsichtigen [16]Optimismus. Denn diese Wahl, die die politischen Karten so gründlich neu gemischt hat, könnte alte Blockaden überwinden, ein Signal der Erneuerung auslösen und Veränderungen anstoßen. In der Politik setzt der bislang jüngste Präsident der V. Republik auf viele neue Gesichter in Parlament und Regierung, dazu auf einen neuen Stil und Verhaltensregeln für die Politiker, um dubiose Praktiken künftig zu verhindern. Auch die Art des Regierens könnte sich verändern. Wenn der Präsident in der Nationalversammlung für Reformkoalitionen werben muss, kann das Parlament eine stärkere Rolle spielen und das bisherige sterile Gegeneinander durch echte Verhandlungen und Kompromisslösungen abgelöst werden. Sollte es Macron gelingen, bisherige Reformblockaden auf diesem Wege zu überwinden, wäre das ein wichtiges Signal des Aufbruchs. Denn so umstritten die Reformen teilweise sind, setzen sie doch an den richtigen Punkten an: Arbeitsmarkt (→Kap. 7.4), Berufsausbildung (→Kap. 9.2), sozialer Dialog (→Kap. 4.2, 8.3), Brennpunktviertel (→Kap. 8.2), Abgaben und Rahmenbedingungen für die Unternehmen (→Kap. 6.5). Sie sind die Voraussetzungen dafür, die Wirtschaft aus ihrer Lethargie zu befreien und eine Trendwende für mehr Wachstum und Beschäftigung einzuleiten.
Schließlich: Trotz aller Probleme ist Frankreich, das ergibt sich aus der Lektüre der nachfolgenden zehn Kapitel, ein Land mit großer Ausstrahlung, zahlreichen Stärken und Potenzialen. Diese warten darauf, aus manchen Fesseln befreit zu werden und sich wieder stärker entfalten zu können. In Politik und Gesellschaft gibt es neben den Vertretern des Status quo auch zahlreiche Kräfte, die bereit sind, neue Wege zu gehen. Auf sie kann der neue Präsident setzen. Es muss sich noch erweisen, ob seine Entschlossenheit und sein politisches Geschick ausreichen werden, um Frankreich zu reformieren und dem Land die neue Perspektive zu geben, die es so dringend braucht.
[17]1. Historische Grundlagen
… die Franzosen [unterhalten] nicht nur eine
besonders intensive, fast neurotische Beziehung
zur Geschichte […], sondern […] das historische
Bewusstsein [war] auch der wichtigste Baumeister
des französischen Staates und der französischen
Nation […]. Frankreich ist mehr als andere
Staaten und Nationen auf der Grundlage seines
Geschichtsbewusstseins entstanden.
(Jacques Le Goff, zitiert von Étienne François: Die
Einstellung zur Geschichte, in: Robert Picht et al.:
Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem
21. Jahrhundert, München Piper 1997. S. 15)
Die Franzosen pflegen ein intensives Verhältnis zur Geschichte. Dies hängt auch damit zusammen, dass wesentliche Bestandteile der heutigen politischen Kultur und des modernen französischen Politikmodells tief in der französischen Geschichte verwurzelt sind. Sie sind bis heute Schlüsselbegriffe des Selbstverständnisses der französischen Demokratie.
1.1 Das französische Modell der Demokratie
Auf der Grundlage der Französischen Revolution von 1789 hat sich allmählich ein französisches Demokratiemodell herausgebildet, das eine Reihe von Besonderheiten aufweist. Diese erschließen sich am besten über eine Reihe von Schlüsselbegriffen, die bis heute das Denken und die Debatten prägen und eine besondere Bedeutung haben.
a) Staat und Nation
Frankreich kann auf eine jahrhundertealte nationalstaatliche Tradition zurückblicken, die sich im Begriff der „État-nation“ ausdrückt. „Frankreich“, so drückt es Robert Picht aus, „gilt als der klassische Nationalstaat, der sich gegen Kaiser und Papst seit dem Mittelalter in ungebrochener Kontinuität um die Pariser Zentralmacht herum gebildet hat. Der Staat hat sich die Nation geschaffen, sie durch Verwaltung, Sprache, Bildungswesen und das Streben nach internationaler Geltung und Unabhängigkeit immer[18] weiter zu einem erstaunlich homogenen sozialen Körper vereinheitlicht“ (→weiterführende Literatur; S. 47). Die Nation definiert sich in dieser Tradition als Produkt menschlichen Handelns, weil sie sich nicht auf Rasse, Sprache oder Geographie, sondern auf die freiwillige Zustimmung der einzelnen Bürger und damit auf ein „alltägliches Plebiszit“ gründet, wie dies Ernest Renan 1882 in seinem berühmt gewordenen Vortrag formulierte. Auch die Erinnerungsgemeinschaft an die in der Vergangenheit gemeinsam erbrachten Opfer, an Belastungsproben und an Erfolge, spielt dabei eine Rolle. Diese kollektiven Erinnerungen wach zu halten, ist auch Aufgabe der Geschichtsschreibung und des Unterrichts – ein weiterer Grund für die Bedeutung der Geschichte für das französische Selbstverständnis. Da diese Konstruktion auf Freiwilligkeit beruht und ihr Bestand damit immer wieder bedroht ist, hat der Staat die Aufgabe, die Einheit der Nation zu wahren und gegen Partikularinteressen durchzusetzen.
» Zitat aus Ernest Renan: Was ist eine Nation? (1882)
Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. […] Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten […].
Eine Nation ist […] eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist. […] Ich fasse zusammen. Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erschafft ein Moralbewusstsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses Moralbewusstsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren.
(Ernest