Название | Gefühlte Wahrheiten |
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Автор произведения | Ortwin Renn |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847415046 |
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2. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage von ,Zeit der Verunsicherung. Was treibt Menschen in den Populismus?‘, erschienen 2017, Rowohlt, Reinbek
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 Verlag Barbara Budrich GmbH, Opladen, Berlin & Toronto
ISBN 978-3-8474-2271-6 (Paperback)
eISBN 978-3-8474-1342-4 (PDF)
eISBN 978-3-8474-1504-6 (EPUB)
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Umschlaggestaltung: Bettina Lehfeldt, Kleinmachnow – www.lehfeldtgraphic.de
Titelbildnachweis: »Mineral« © Sabine Zentek, Berlin
Satz: Bernd Burkart, Weinstadt-Baach
Inhalt
Teil I: Wie wahr ist die Wahrheit? Die These von der postfaktischen Kommunikation
Teil II: Die Empfänger von Botschaften: Verunsichert im Post-Erfahrungs-Dschungel
Teil III: Wem kann man noch trauen: Die Post-Glaubwürdigkeitsfalle
Teil IV: Gefangen sein in Echoräumen: Das Post-Informations-Dilemma
Teil V: Wissen und Moral: Auswege aus den Post-X-Verstrickungen
Teil VI: Die Post-X-Krise: Aufgaben für Politik und Wissenschaft
Teil VII: Ein 10-Punkte-Programm zum persönlichen Umgang mit der Post-X-Gesellschaft
[7] Einleitung
Wir erleben in Deutschland aktuell ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Misstrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik, in die Fairness der Wirtschaft und die Unabhängigkeit der Wissenschaft.1 Viele Menschen sind zutiefst verunsichert darüber, welche kollektiv verbindlichen Normen und Werte weiterhin Geltung haben und inwieweit ihre Interessen und Anliegen bei den Entscheidungsinstanzen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft noch gut aufgehoben sind. Zusätzlich fühlen sie sich von der Komplexität der Erklärungsversuche der intellektuellen Eliten erdrückt und suchen nach einfachen, aber plausiblen Erklärungen.
Dies ist ein idealer Nährboden für Populisten in Politik und Gesellschaft. Sie bieten plausibel nachvollziehbare Welt(erklärungs)bilder, die allzu oft weder der faktischen Überprüfung noch den ethischen Prinzipien der Menschenrechtskonventionen genügen. Die Deutungsangebote der Populisten gewinnen ihre besondere Attraktivität dadurch, dass sie Orientierungssicherheit und Rückversicherung versprechen, und zwar für alle, die den Eindruck haben, ihre Interessen und Anliegen kämen in der offiziellen Politik [8] zu kurz und die gängigen Erklärungsmuster der auf weitere Modernisierung eingeschworenen Eliten seien wenig überzeugend und nachvollziehbar.
Die Gesellschaftswissenschaften haben diese Entwicklung in Politik und Gesellschaft mit Begriffen belegt, die mit der Vorsilbe „post“ beginnen. Seit langem sprechen wir schon von der Postmoderne, dem Postindustrialismus oder dem Poststrukturalismus.2 Jetzt sind aber neue „Post“-Begriffe hinzugekommen. Die Liste ist umfangreich: postfaktisch, postethisch, postdemokratisch, postmedial, postinstitutionell u. a. m. Das Wort postfaktisch wurde sogar zum Wort des Jahres 2016 erkoren.3 Mit der Vorsilbe „post“ wird die Hilfslosigkeit der intellektuellen Elite bei der Zeitgeistdeutung zum Ausdruck gebracht. Man weiß, das Alte ist vorbei, man kann aber das Neue noch nicht benennen. Es ist etwas anderes als das Gewohnte, aber man weiß noch nicht genau, was es ist, und vor allem, wohin es sich weiter entwickeln wird.
Mit diesem Buch habe ich den Versuch unternommen, angesichts der Hilflosigkeit in den intellektuellen Eliten und der zunehmenden Verunsicherung der Bürgerschaft über das, was faktisch und moralisch noch Geltung hat, eine Orientierung zu den Post-X-Tendenzen und ihren Folgen zu vermitteln. X steht hier für alle die Begriffe, die zur Charakterisierung einer Entwicklung gewählt wurden, bei denen man sich über das Wesen oder die Struktur noch unklar ist, aber gleichzeitig Zeichen dafür sieht, dass ein Wandel eingesetzt hat. Die Post-X-Tendenzen habe ich auch als Gliederungsmerkmal genutzt, um eine Tendenz nach der anderen aufzugreifen und zu erläutern. Am Anfang stehen Diagnosen zu den verschiedenen Post-X-Tendenzen im Vordergrund, ab Teil V dann Vorschläge für den Umgang mit diesen Tendenzen.
Mein Anliegen ist, Verunsicherung abzubauen und wieder mehr Zutrauen in die eigene Gestaltungskraft der engagierten Bürgerschaft, aber auch mehr Zuversicht in die Leistungskraft der zentralen Institutionen von Wissenschaft, [9] Politik und Zivilgesellschaft zu wecken. Um dies zu verdeutlichen, habe ich aktuelles Hintergrundwissen zusammengestellt. Es ist mir wichtig, die Leserinnen und Leser darüber aufzuklären, warum Post-X-Tendenzen eine solche nachhaltige Wirkung auf Individuen und Gruppen in unserer Gesellschaft ausüben. Gleichzeitig möchte ich auch einen Blick auf die Herausforderungen der Zukunft werfen. Dass dazu auch politische Reformen gehören, die zur Bereicherung der jetzigen politischen Kultur notwendig sind, wird sich im Verlauf des Buches noch erschließen.
Viele meiner Beispiele entstammen meinem eigenen Forschungsfeld, der Risikoforschung.4 Darauf habe ich auch häufig zurückgegriffen. Denn gerade die Frage, was unsere Gesellschaft bedroht, bestimmt weitgehend den postfaktischen, postdemokratischen und postethischen Diskurs. Gibt es den Klimawandel oder ist er eine Fiktion? Sind unsere Lebensmittel mit Pestiziden vergiftet oder ist das alles Panikmache? Gibt es mehr Straftäter unter den nach Deutschland eingewanderten Flüchtlingen als unter der deutschen Bevölkerung? Wie groß ist die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland? Diese Fragen werden mit großer Vehemenz und oft mit Leidenschaft in der Öffentlichkeit debattiert. Gerade Populisten nutzen die Ängste vor solchen Bedrohungen aus, um ihre eigenen machtpolitischen Ambitionen auszuleben. Das Buch kann zwar nicht auf alle diese Fragen eine umfassende Antwort geben, aber es beleuchtet die Mechanismen, mit denen Populisten und Demagogen auf Stimmenfang gehen. Es zeigt die Prozesse der intuitiven Verarbeitung und Bewertung von Botschaften auf, die einen Ausweg aus Verunsicherung und Angst versprechen. Wie diese Botschaften kritisch überprüft werden können, soll mit der Lektüre des Buches deutlich werden.
Im Kern meiner Ausführungen steht das Bild einer souveränen und mündigen Person, die sich der verführerischen Rhetorik von politischen Scharfmachern bewusst ist und nach bestem Wissen und nach angemessener Abwägung politische Urteile und Entscheidungen fällt. Ich möchte an die politische Mündigkeit der Leserschaft anknüpfen und ihr Hilfestellung anbieten, wie man von gefühlten Wahrheiten zu fundierten Gewissheiten oder auch zu Anerkenntnis von Ungewissheit und Nichtwissen kommen [10] kann. Dazu sollte man die Gründe für die Anfälligkeit gegenüber populistischen