Ich bin, was ich werden könnte. Mathias Wais

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Название Ich bin, was ich werden könnte
Автор произведения Mathias Wais
Жанр Зарубежная психология
Серия
Издательство Зарубежная психология
Год выпуска 0
isbn 9783957791375



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und gefühlvoller Mensch, sich zu Hause zunehmend in Konflikte zwischen der Tochter und seiner zweiten Frau hineingezogen. Jeden Tag, wenn er nach Hause kommt, hat es wieder Streit gegeben zwischen den beiden, und immer wieder übernimmt er die Position des Schiedsrichters und Schlichters. – Ihm wird in der Biographieberatung die Übung vorgeschlagen, möglichst genau, bevor er den Streit zu schlichten sucht, den Streitanlass zu erfragen und für sich kurz aufzuschreiben. Nach zwei Wochen mit dieser einfachen Übung wird ihm klar, was weder er noch die beiden streitenden Frauen bisher gesehen haben: Streitanlass war immer ein Satz, ein Einwurf von ihm am Vortag. So hat er zum Beispiel einmal einen Streit zu schlichten versucht, indem er unter anderem sagte, beide sollten doch am Nachmittag einmal etwas getrenntere Wege gehen – die Tochter, sie war siebzehn, sollte ihre Schularbeiten in ihrem Zimmer machen und die Frau im Garten arbeiten. Am nächsten Tag – er ist, wohlgemerkt, gar nicht anwesend – entsteht genau hierüber wieder ein Streit: Die Tochter geht gleich nach dem Essen in ihr Zimmer, die Stiefmutter rennt ihr hinterher und beschimpft sie, weil sie sich zurückziehe. – So stellt sich heraus, dass der gemeinsame Nenner der Konflikte zwischen Tochter und Stiefmutter er war. Er erkannte nun, dass er, vordergründig schlichtend, immer neuen Zündstoff in die Beziehung zwischen den beiden Frauen brachte. Und er erinnerte sich, dass es in ihm schon immer eine ungelebte Streitlust und Aufmüpfigkeit gab, die er aber in dem sehr harmonischen Elternhaus nie ausleben durfte, auch als Jugendlicher nicht. Er war es, der sich – unbewusst – die Gewohnheit gebildet hatte, Tochter und Ehefrau statt seiner zum Streit zu bringen.

      Dieses Beispiel zeigt erstens, wie geschickt solche Inszenierungen des Doppelgängers sein können. Es zeigt zweitens, dass es nicht irgendwelche Gewohnheiten sind, die ein Eigenleben entwickeln und sich verfestigen, die man mit dem Doppelgänger in Verbindung bringt. Vielmehr handelt es sich um Gewohnheiten, die damit zu tun haben, dass man etwas meidet – eine Erkenntnis, eine negative Konsequenz, eine Selbsteinsicht et cetera. Besonders in der Kindheit und Jugend, wenn der Einfluss von erziehungsehrgeizigen Erwachsenen noch stark ist, aber auch im Erwachsenenleben ernährt sich der Doppelgänger von dem, was wir an uns nicht wahrhaben wollen oder dürfen.

      Der Doppelgänger ernährt sich von dem, was das Ich nicht wahrhaben will, und kann es gerade deswegen zur unbemerkten Gewohnheit werden lassen. Erst dadurch bekommt er seine für jeden Menschen individuelle Gestalt. Im Laufe des Lebens zieht er alles an sich, was das Ich nicht wahrhaben will, was es meidet, was es verdrängt. Was vom Ich nicht durchdrungen ist, verselbständigt sich im Unbewussten. Seelenvorgänge, in denen das Ich nicht anwesend sein möchte, gerinnen, verhärten, werden Teil des Gewohnheitsleibes und damit verfügbar für den Doppelgänger. Auch mitgebrachte Prägungen wie die persönliche Temperamentsmischung werden als primäre Teile des Gewohnheitsleibes dann Nahrung für seine verfestigende Tendenz, wenn sie im weiteren Leben nicht vom bewussten Ich durchdrungen werden. So heftet sich der Doppelgänger an alles, was in der Versenkung verschwinden will, und er wird zum Gegenbild unseres Bewusstseins und bewussten Selbstbildes. Er ist ein Wesen, das seine Physiognomie aus unserer Selbsttäuschung gewinnt. Der Begriff »Schatten«, wie er in der Jungschen Psychologie verwendet wird, scheint hier zutreffend, weil der Doppelgänger tatsächlich darin lebt, dass das Licht unseres Bewusstseins nicht überall hinleuchtet. Sein Wesen liegt in der Verdichtung und Erstarrung von seelischen Vorgängen.

      Von dieser Ebene aus kann der Doppelgänger Krankheiten bewirken. Das aus dem Bewusstsein abgespaltene Seelische wird verdichtet und in die biologischen Abläufe des Leibes eingearbeitet – ein Feld der Psychosomatik.

      Der Doppelgänger wirkt sich in vielfältiger Weise aus. Fragt man, wie er eigentlich erlebt wird, ist zunächst zu sagen: gar nicht. Darin lebt er ja, dass er nicht direkt als solcher erlebt wird. Und gerade deswegen, weil er dieses Merkmal des Verborgenen besitzt, kann er so wirksam sein. Er versucht, in alles hineinzuschlüpfen, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist; daher führt die Tendenz der Gewohnheiten zur Verfestigung. Ferner lebt der Doppelgänger in den uns selbst ursprünglich unangenehmen Teilen unseres Temperaments, die wir in unser Selbstbild nicht aufnehmen wollen. Und er tobt sich besonders gern in Beziehungen und Partnerschaften aus, also gerade da, wo sich im Zwischenmenschlichen unbemerkt Gewohnheiten bilden. So kann, was man als störend am Partner erlebt, eine Wirkung des eigenen Doppelgängers sein. Man projiziert Aspekte des eigenen Doppelgängers auf den Partner – oder auf das eigene Kind, die Kollegin et cetera – und reagiert auf ihn genauso, wie man ursprünglich in sich selbst auf ihn reagiert hat: Man bekämpft ihn, hasst ihn, will ihn nur weg haben. So kommt es im Extremfall geradezu zu »Doppelgängerehen«: Zwei Menschen vertreten füreinander den Doppelgänger des anderen und bekämpfen sich deshalb jahrelang gegenseitig. Aber eigentlich bekämpfen sie sich selbst.

      Solche Doppelgängerehen sind ohne fremde Hilfe meist nicht auflösbar. Man fragt sich, warum diese beiden Menschen sich nicht trennen, da sie sich doch nur noch hassen. Aber tatsächlich kann man sich ja von seinem Doppelgänger nicht trennen. Man braucht in einer solchen Konstellation den anderen als Leinwand für den eigenen Film. Die Beziehung zwischen zwei solchen Menschen verfestigt sich immer mehr. Der Gewohnheitsleib kann von sich aus den Griff nicht lockern. Man ist solange in diese Verhältnisse festgezurrt, wie man kein Bewusstsein in die tatsächlichen Zusammenhänge bringt. Das klar urteilende, nicht selbstbezogen urteilende Bewusstsein ist das einzige, was diesen erstarrenden Griff lockert.

      Aber nicht nur in Beziehungen mit anderen, auch im Umgang mit sich selbst kann man das Wirken des Doppelgängers erleben. In allem, was ängstigt, seelisches Erleben angstvoll einengt, in allem Sicherheitsdenken liegt eine Wirkung des Doppelgängers. Auch in der Depression, im ständigen Kranksein kann er sich auswirken – er ist in allem, was uns, aus uns selbst heraus, systematisch einengt, und er hat eine besondere Nähe zur »kalten« Intelligenz. Das materialistische Denken, die mechanische Intelligenz sind besonders vom Doppelgänger geprägt. Das ist erkennbar an der Neigung der mechanischen Intelligenz zur Verfestigung, zum Sichern, zum Sicher-haben-Wollen, zum Sicher-wissen-Wollen, zur definitorischen Festlegung. Es geht hier um ein Denken, das abschließt, statt beweglich zu machen.

      Es gibt aber auch noch direktere, dem Erlebnis nähere Wirkungen des Doppelgängers. Da er aber auch hier – mit einer Ausnahme, von der sogleich die Rede sein soll – als solcher nicht erkannt wird, sinkt er sofort wieder zurück in die indirekte Wirksamkeit, wie sie oben skizziert wurde. Der Doppelgänger nistet sich besonders in alles hinein, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist. In Situationen nun, in denen solche Gewohnheiten plötzlich nicht mehr greifen, plötzlich aussetzen, kann der Doppelgänger auf einmal wie entblößt vor uns stehen. Das ist dann ein Schreckerlebnis, als würde man wie ein Dieb auf frischer Tat ertappt.

      Eine Angestellte geht mit einem Kollegen immer besonders harmonisch – man könnte auch pointierend sagen: süßlich – um, kritisiert an ihm aber ständig seine Aggressivität und seinen Zynismus. Eines Tages wird es dem Kollegen zu bunt, und er schleudert ihr entgegen: »Du bist ja selbst so destruktiv mit deiner Süßlichkeit.« In diesem Moment hat die Angestellte ein Erlebnis wie bei einem elektrischen Schlag. Sie spürt physisch, wie kurz, nur für einen Moment, sich etwas von ihr löst, und sie sieht, fast sinnlich wahrnehmbar, sich selbst in hässlicher, zynischer, aggressiver Fratze. Es ist ein Schock. Sie sieht auf einmal ihren Schatten und erlebt, wie dieser Schatten nach ihr greift. Möglicherweise erfasst sie, dass sie das selbst ist. Es kann aber auch beim Eindruck eines unbestimmt Dämonischen bleiben. Nach wenigen Sekunden ist das Erlebnis vorbei, und zurück bleibt eine tiefe Erschütterung und Verunsicherung.

      Eine andere Situation, in der der Doppelgänger, wenn auch nicht so dramatisch und plötzlich, hervortritt, ist die Lebensmitte-Situation (siehe Kapitel 4). Sie ist ja dadurch charakterisiert, dass, was bislang selbstverständlich, sicher und gewohnt war, hinterfragt wird, dass sich Zweifel einschleichen, ob man sich eigentlich in dem, was man bisher gelebt hat und von sich kennt, schon erschöpft, oder ob man im Tiefsten vielleicht noch gar nicht vollständig ist. Und hier kann nun, mehr schleichend als plötzlich, wiederum der Doppelgänger vor das innere Auge treten: Die eigenen Versäumnisse werden zunehmend bewusst. Man sieht sich in immer klareren Umrissen von seiner Schattenseite. – Auch dies kann ein niederschmetterndes Erlebnis sein, das möglicherweise zu Depressionen und chronischen Krankheiten führt, wenn man sich nicht bewusst und gezielt damit auseinandersetzt.

      Von diesem Beispiel aus ergibt