Название | Der Mächtige Strom |
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Автор произведения | Chi Pang-yuan |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903861114 |
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© 2022 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-903861-10-7
ISBN e-book: 978-3-903861-11-4
Lektorat: Bianca Brenner
Umschlagfoto: Night Cloud Conceal Over Mountain Top von Liu Kuo-Sung, 2017
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Chi Pang-Yuan
Prolog
Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter unermesslicher Tragik. Das leidvolle Schicksal der Juden in Europa wurde nach dem zweiten Weltkrieg in zahlreichen literarischen Werken beschrieben und in beinahe ebenso vielen Verfilmungen nacherzählt. Weniger geläufig in der öffentlichen Wahrnehmung ist das asiatische Pendant des nationalsozialsozialistischen Vernichtungskrieges. Das japanische Kaiserreich hatte in nie dagewesenem Ausmaß millionenfachen Tod und abermillionenfache Vertreibung, vor allem über das chinesische Volk, aber auch über zahlreiche andere asiatische Völker gebracht. Jedoch überlagert von den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima, deren Klagelied Japan zu singen nicht müde wurde, geriet der Massenmord an der chinesischen Zivilbevölkerung nie wirklich in den Fokus des Weltinteresses und der Anteilnahme.
In der Geschichte zweier Generationen meiner mandschurischen Familie werden die Geschehnisse dieser noch nicht sehr weit zurückliegenden Zeit wieder lebendig. Auf dem langen Weg vom „Juliu He“1, dem mächtigen Strom, bis nach „Yakou Hai“2, der Bucht des Schweigens, möchte ich einen zeitgenössischen, persönlichen wie allgemeinen Einblick in die asiatische Welt des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des darauf folgenden Wiederaufbaus gewähren.
Juliu He als Ausgangspunkt der nachfolgenden Ereignisse war die Bezeichnung des „Liao-Flusses“ zu Zeiten der Qingdynastie (1644–1911). Er ist einer der sieben wichtigsten Wasserstraßen Chinas und gilt als Mutterfluss der Bevölkerung Liaonings im Nordosten Chinas. Am Ende unseres Weges steht Yakou Hai, eine kleine Bucht in der Nähe des Cape Eluanbi, an der Südspitze Taiwans, die vor allen Dingen aufgrund des dort 1883 erbauten, mittlerweile denkmalgeschützten Leuchtturms bekannt ist, der auch Weltruhm genießt. Im Volksmund heißt es, dass die Brandung, so stürmisch sie auch sein möge, verstumme, wenn sie diese Bucht erreicht.
Über 60 Jahre lang schwelte in mir das Bedürfnis, von meiner Heimat und den vielen selbstlosen, auf ihre Weise kämpfenden Menschen zu erzählen. Die fürchterlichen Wunden, die durch die unsägliche japanische Invasion, gefolgt von einem nicht minder grausamen Bürgerkrieg, in unsere Seelen geschlagen wurden, sind bis heute nicht verheilt. Und während der allgegenwärtige Tod und die bitteren Tränen der Flüchtlinge mit der Zeit verblassten, blieb uns Überlebenden die Gnade des Vergessens verwehrt. Oft stellte ich mir die Frage, wie wir Menschen trotz solcher Erfahrungen weiterleben können. Die Antwort ist so simpel, wie sie psychologisch fatal ist: Wir verdrängen!
Und so stürzte ich mich nach der Kapitulation Japans darauf, mein Studium in Wuhan abzuschließen, während in meiner mandschurischen Heimat der Kampf um die politische Vorherrschaft in China unter Einmischung und Sabotage Russlands zwischen den Kommunisten und den Nationalisten von Neuem entflammte. Kurz nach meinem Studienabschluss im Jahr 1947, es schien, als sollten die Nationalisten in der Auseinandersetzung mit den Kommunisten die Oberhand behalten, erhielt ich dann eine provisorische „Ernennungsurkunde“ der Taiwan-Universität in Taipei, in der mir die Stelle einer Assistentin am Institut für Fremdsprachen angeboten wurde. Diese „Urkunde“ kam unerwartet und bestand zu meiner Verwunderung aus einer, unter damaligen Umständen durchaus üblichen, auf Reispapier handgeschriebenen Pinselschrift, wobei mir die darin in Aussicht gestellte Anstellung mit Weiterbildungsmöglichkeiten durchaus gefiel, auch wenn dies bedeutete, auf eine exotische Insel im Pazifik übersiedeln zu müssen.
Nur zwei Jahre später folgte, was wir lange für undenkbar gehalten hatten, die endgültige militärische Niederlage Chiang Kai-Sheks und der von ihm geführten Nationalisten. China stand vor der größtmöglichen politischen und gesellschaftlichen Umwälzung. Während Mao Zedong (1893–1976) am 1. Oktober 1949 die kommunistische Volksrepublik China ausrief, kam mein Vater Ende November des gleichen Jahres mit der letzten Maschine aus der Kriegshauptstadt Chongqing nach Taiwan. Sein Zustand erschreckte mich zutiefst. Dieser Mann, der das Schicksal Chinas immer engstens mit dem Seinen verbunden gesehen hatte, der stets für sein Land und dessen Bevölkerung eingetreten war und für seine Überzeugungen gekämpft hatte, dieser Mann, der in den Augen all seiner Angehörigen, Freunde, Wegbegleiter und Schüler ein Fels in der Brandung war, saß nun stundenlang schweigend in unserer kleinen Dienstwohnung. Matt und niedergeschlagen saß er regungslos da, ohne ein Wort von sich zu geben. Die stürmische See des Krieges hatte den Fels zermürbt, die Brandung ihn zerschlagen und die Strömung ihn schließlich endgültig fortgerissen. Er war gerade einmal 51 Jahre alt gewesen, als der mächtige Strom seines Heimatlandes ihn wie Treibgut in die fremde Bucht des Schweigens von Taiwan hineingespült hatte.
In den darauffolgenden 60 Jahren konzentrierte ich mich auf meine Lehr- und Schriftstellertätigkeit, ständig darum bemüht, meine und die Horizonte meiner Schüler und Studenten zu erweitern. Und obwohl ich eine Vielzahl von Kommentaren verfasste, um andere Schriftsteller zu ermutigen, wagte ich selbst jedoch nicht den Blick zurück – kein einziges Wort schrieb ich über die nicht aus der Erinnerung löschbare Vergangenheit, die in mir und um mich herum lebte, und die mir mehr bedeutete als mein bescheidenes Leben. Vielleicht war es die unterbewusste Befürchtung, die mich hemmte: Ich kann und will die Geschichte nicht zerstückeln und wie einzelne Wäschestücke an den vertrocknenden Ästen eines absterbenden Baumes aufhängen. Das würde dieser Vergangenheit nicht gerecht werden. Ich will die Erinnerung an Menschen wachhalten, die sich voller Trauer und Verbitterung über ihre von Invasoren zerstörte Heimat, ohnmächtig im Angesicht der allgegenwärtigen Verwüstung, die keine Familie verschont hatte, auf den langen und gefährlichen Fluchtweg in den Südwesten des Landes bis in die Stadt Chongqing machten. Jene, die sich allen Leiden zum Trotz nie aufgegeben und eisern an ihrer Selbstachtung festgehalten hatten. Diese ihre Geschichte muss von ganzem Herzen fühlend und mit Ehrfurcht erzählt werden.
Ich muss von den guten, unkomplizierten Menschen erzählen, die nach Taiwan gekommen waren und sich mit Leib und Seele dem Aufbau und der Gestaltung einer modernen, alten Kulturnation verschrieben hatten. Von all den Menschen muss ich erzählen, die mich begleitet haben in den Jahren meiner Jugend, als Erwachsene und im Alter. Und plötzlich überkam mich die Angst, ich hätte zu lange gewartet, gezaudert, und wäre dem Blick zurück ausgewichen, so dass es womöglich schon zu spät war. Nun, wie aus einem langen Schlaf wachgerüttelt, wurde mir schlagartig klar, dass ich so nicht aus der Welt scheiden konnte. All diese Geschichten mussten zuvor erzählt werden, und zwar von mir.
Meine Eltern sind tot, mein Bruder und meine jüngste Schwester leben im fernen Ausland. So sind nach all den Jahren nur noch meine jüngere Schwester Ningyuan und ich auf Taiwan geblieben. Unsere Beziehung wurde dadurch umso inniger und liebevoller, auch weil sie die Einzige war, die verstand, weshalb ich keine Ruhe würde finden können, wenn ich die Vergangenheit nicht niederschriebe. Ich musste mit dem Buch beginnen und ich musste es vollenden.
Es ist Frühling im Jahr 2009 und die von mir handgeschriebenen Papierhäufchen aus den vergangenen vier Jahren sind zu einem Berg herangewachsen. Ja, es ist beinahe vollbracht. Ningyuan ist mit mir zum Gipfel des Datun Shans3 gefahren. Sie möchte mit mir die bevorstehende Veröffentlichung meines Buches feiern. Hierzu hat sie uns einen besonderen Ort ausgesucht. Genau hier vor mir, eingerahmt von den fruchtbaren grünen Bergen, die Taipei kesselförmig umschließen, schauen wir über die Bucht, in der der Tamsui4 in die Straße von Formosa mündet, in die herrliche Weite des offenen Meeres. So frei muss das Leben sein!
Hier oben denke ich intensiv an meinen Mann, Yuchang, der schon zu Beginn meiner Arbeit an diesem Buch schwer erkrankte.