Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur. Philip José Farmer

Читать онлайн.
Название Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur
Автор произведения Philip José Farmer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783864027864



Скачать книгу

      »Hm-mh. Wer lebt sonst noch im Haus? Irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche? Eine kürzlich zerbrochene Beziehung? Eine Erbschaft? Geschwister? Sonstige Streitigkeiten? Politische Interessen? Nein, sparen Sie sich das. Ire ist er keiner, Schotte auch nicht. Der Knoten seiner Krawatte ist typisch für jemanden, der erst vor einem Jahr aus Leeds hierherkam und der Londoner Mode zwar nacheifert, sie aber noch nicht vollkommen verinnerlicht hat.«

      Hopkins und ich schwiegen andächtig.

      Holmes’ durchdringender Blick ruhte nachdenklich auf dem Toten, ehe er sein Raubvogelgesicht ruckartig wieder dem Inspector zuwandte.

      »Nun? Reden Sie schon! Was haben Sie bisher, Mann?«

      »Nichts.« Hopkins beschwor sein Notizbuch und unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Ein unauffälliger, allein stehender junger Bursche, wie es sie in London zuhauf gibt.«

      Holmes durchsuchte inzwischen die Taschen des Toten.

      »Ah, hütet euch vor den Junggesellen und passt auf eure Töchter auf, was, Watson?« Der Detektiv erhob sich, ohne etwas gefunden zu haben. »Sagen Sie, Hopkins, was ist eigentlich aus der Tochter von Lord Streisand geworden, die Sie vergangenen Sommer getroffen haben? Ich glaube, wir waren zwei oder drei Mal sogar bei ein und demselben Konzert zugegen. Ich wusste gar nicht, dass Sie Pugnani schätzen! Oder sind dessen exquisite Kompositionen doch eher eine Vorliebe der Dame?« Bevor der perplexe Inspector antworten konnte, deutete Holmes schon mit seinem spitzen Kinn auf die Wand neben der Tür: »Ist Ihnen oder einem Ihrer Männer aufgefallen, dass auf der Kommode eine Waffe liegt, Inspector? Ich hoffe doch. Das sollte selbst Ihnen auffallen, wenn Sie einen Raum mit einem Toten betreten, was?« Holmes, der bei diesen Worten keineswegs lächelte, ging zu dem Schränkchen, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und nahm den Revolver. »Ah, ein Webley, was sagen Sie dazu, Watson? Sehen Sie doch mal, ob Sie mehr Glück haben als ich und an unserem unauffälligen Freund hier vielleicht sogar ein Einschussloch finden, das Ihnen bekannt vorkommt.«

      Nicht, dass ich – anders als der Detektiv – einem Einschussloch mehr als ein Kaliber hätte zuordnen können, obwohl ich selbst tatsächlich einen ähnlichen Webley-Revolver besaß, wie manch einer meiner geneigten Leser sicherlich weiß.

      »Sie haben sich die Leiche doch gerade selbst angesehen, Holmes. Er hat keinerlei sichtbare Verletzungen«, murrte Hopkins gekränkt. Während ich mich dennoch daranmachte, nun ebenfalls die Leiche des jungen Mannes zu untersuchen, zählte der Inspector an den Fingern ab. »Keine Schusswunde. Keine Stichwunde. Keine blauen Flecken. Keine Quetschungen. Keine Würgemale. Keine Abschürfungen. Nicht einmal schmutzige oder abgebrochene Fingernägel. Nichts, was auf einen Kampf oder auch nur Gewalteinwendung schließen ließe.«

      »Er hat recht«, bestätigte ich, wobei Hopkins’ Miene keinerlei Aufschluss darüber gab, ob meine fachliche Bestätigung ihn nun erfreute oder ihm missfiel. »Nichts. Wer auch immer ihn erwischt hat, er hat nicht mit ihm gekämpft.«

      Holmes, der inzwischen methodisch die Schubladen des Schränkchens durchsuchte, nickte abwesend.

      »Was denken Sie, Watson – wann starb er?«

      Ich besah mir noch einmal den Toten. »Vor Morgengrauen, schätze ich.«

      »Schätzen Sie. So, so.« Holmes beendete seine Durchsuchung der alten Kommode, die trotz allem noch so etwas wie das Prunkstück des spärlich möblierten Zimmers war, und wandte sich wieder uns und dem Rest der kargen Kammer zu. »Wir haben also einen kleinen Raum, dessen Tür und Fenster von innen verschlossen sind«, begann mein Freund dozierend. »Geheimgänge dürfen ausgeschlossen werden, das hier ist nicht gerade eine Burg – stimmen Sie mir zu, meine Herren?« Holmes wartete unser Gemurmel nicht ab. »Einen Junggesellen, der zu früher Stunde tot in seinem Zimmer liegt, allerdings nicht in der Kleidung, in der man ihn zweifelsohne unten erwartet hat, um Körbe mit Brotlaiben und anderen Backwaren auf seinen Karren zu laden, und mit keinem Penny in der Tasche. Das ist Ihnen wieder entgangen, was, Hopkins? Nun. Wo wollte unser Freund also in dieser frühen Stunde und diesem geschäftstüchtigen Aufzug ohne Geld hin? Dazu kommt eine geladene Waffe auf der Kommode neben seiner Wohnungstür, griffbereit, sobald er seine Festung der Einsamkeit verlässt, geladen und noch mit allen Patronen in den Kammern. Er hätte sich also wehren können. Es sei denn natürlich, sein Mörder war ein Geist.«

      »Das ist nicht Ihr Ernst, Holmes!«, entfuhr es Hopkins.

      »Natürlich nicht«, entgegnete der Detektiv schroff. »Obwohl man aus dem Mehl in der Backstube unten und Watsons Schriftstellerfantasie sicherlich ein passables Eifersuchtsdrama um einen gut aussehenden Mieter und die junge Gattin des Bäckermeisters spinnen könnte, in dem auch Platz für einen falschen Geist wäre.«

      »Der Mann war nicht in der Wohnung«, sagte Hopkins sofort. »Seine Schuhe sind voller Mehl. Er hätte Abdrücke hinterlassen. Er schloss auf, sah den Toten und rief einen Constable zwei Straßen weiter.«

      »Sehr gut, Hopkins! Sie werden langsam wach, scheint mir. Aber haben Sie auch des Rätsels Lösung?«

      Hopkins blickte erst den Toten und dann mich an.

      Ich zuckte mit den Schultern.

      »Ah, Watson, nicht so bescheiden!« Holmes schnalzte mit der Zunge. »Sie haben uns schließlich bereits die Lösung dieses Falles präsentiert!«

      »Habe ich?«, fragte ich verwirrt.

      »Hat er?«, wunderte sich auch Hopkins.

      Holmes seufzte mit der Ernüchterung eines Lehrmeisters, der sich wieder einmal nicht für die Engelsgeduld belohnt sah, die er gegenüber seinen Schülern aufbrachte.

      »Eine geladene Waffe lässt darauf schließen, dass unser junger Freund hier überzeugt war, einen gewissen Schutz gegen etwas oder jemanden zu benötigen. Dass sie auf der Kommode liegt, legt zudem den Schluss nahe, dass er den Webley mit dorthin zu nehmen gedachte, wohin auch immer er noch vor Tagesanbruch in aller Stille und Heimlichkeit aufbrechen wollte.« Fast beiläufig ergänzte der Detektiv: »Es ist außerdem offensichtlich, dass er Spielschulden hatte.«

      Holmes wollte bereits beschwingt fortfahren, als Hopkins ihn wie vom Donner gerührt unterbrach. »Woher wissen Sie das denn auf einmal?«

      Holmes bedachte den Inspector mit einem vielsagenden Blick. »Wie oft habe ich Ihnen und Ihren Kollegen gesagt, dass Sie an einem Tatort all Ihre Sinne einsetzen müssen, Hopkins? Es ist nicht damit getan, nach Fußspuren Ausschau zu halten – obwohl das schon ein guter Anfang ist, wir wollen ja nicht übertreiben.« Von dieser Belehrung ging es umstandslos zur Analyse seiner Spielschulden-Theorie: »Sein Anzug – den er als Junggeselle mit schmalem Lohn nicht so oft gewaschen hat, wie es schicklich gewesen wäre – riecht nach Schweiß, Tabak, Alkohol, Opium und Tieren. Und Sie wissen ja beide, dass man am Rand einer Grube viel Geld verlieren kann, wenn der Terrier an einem Abend einmal keine Lust auf Ratten hat oder der Waschbär sich als ausgesprochen clever erweist. Von den anderen barbarischen Konstellationen und den Variablen, die unten in den Spelunken an den Docks dann und wann ins Spiel kommen, ganz zu schweigen. Das und die Abwesenheit jedweden Zahlungsmittels innerhalb dieser vier Wände sind ein sicheres Indiz dafür, dass unser Opfer Spielschulden hatte. Natürlich könnten Sie sich auch mit dem Schuldschein als Erklärung begnügen, den ich ganz hinten in der Schublade der Kommode gefunden habe.« Holmes gab ein abfälliges Geräusch von sich, wie so oft, wenn er sich mit dem irrationalen Verhalten der Menschen konfrontiert sah. »Als ob er dadurch aus der Welt gewesen wäre. Sie hätten den Schuldschein übrigens mit Leichtigkeit selbst finden können, Hopkins, wenn Sie und Ihre Kollegen sich nicht immer den einfachen und elementaren Dingen verweigern und einen Tatort auch einmal abseits seiner Leiche ernst nehmen würden.«

      »Also hat ihn einer seiner Gläubiger umgebracht«, folgerte ich und sprach vermutlich aus, was auch dem betreten schweigenden Hopkins durch den Kopf ging. Ich fragte mich sogar, ob ich vielleicht eine Bisswunde am Handgelenk übersehen und jemand unseren Freund umgebracht hatte, indem er jene kaltblütige Mordmethode angewandt hatte, die Holmes und mir schon in dem Fall begegnet war, den ich als Das gesprenkelte Band niedergeschrieben habe. Laut Holmes’ sollte es schließlich unlängst eine