Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur. Philip José Farmer

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Название Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur
Автор произведения Philip José Farmer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783864027864



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      Mrs. Hudson, eigentlich die gute Seele des Hauses und auch sonst in jederlei Beziehung eine Seele von Mensch, gab sich dann auch nicht die geringste Mühe, ihr Missfallen ob der frühen Stunde zu verbergen. Dabei war sie als Haushälterin von zwei Junggesellen und vor allem natürlich des exzentrischen Sherlock Holmes einiges an Kummer gewohnt – immerhin waren Säureflecken auf den Teppichen und giftige Dämpfe im Treppenhaus, wenn mein Freund ein Experiment verfolgte, ebenso normal wie Einschusslöcher in den Wänden, wenn Holmes das Kaliber einer bestimmten Mordwaffe suchte, oder Schweinehälften, die mein Mitbewohner mitten im Sommer an einen Fleischerhaken in der Decke des Salons hängte, um eine Studie in Verwesung anzustellen. Außerdem konnte Mrs. Hudson den jungen Hopkins gut leiden und brachte in der Regel sofort Tee und Kekse oder Sandwiches, wann immer der aufstrebende Chefermittler von Scotland Yard uns oder vielmehr meinen Freund zu einer sittsameren Stunde aufsuchte.

      Doch dieser frühe Besuch war ein Affront gegen die Etikette, und so etwas ließ die Hausherrin nur Holmes durchgehen, bei dem sie es längst aufgegeben hatte, ihm das beizubringen, was man gemeinhin unter praktischer Förmlichkeit verstanden hätte – gegen Holmes’ ureigenen Pragmatismus war genauso wenig anzukommen wie gegen seine strapaziösen Eigenheiten als Haus- und Mitbewohner.

      Darüber hinaus sah Mrs. Hudson an diesem Morgen auch nicht ganz so frisch und makellos aus wie üblich, und ich gestehe, dass ich mir bis zu diesem Moment nie Gedanken darüber gemacht hatte, wann sie morgens aufstand. Holmes und ich waren keine Frühaufsteher – Mrs. Hudson musste das Frühstück selten vor neun bringen –, und ansonsten war es wie mit einem Korsett: Ein wahrer Gentleman durfte sich durchaus am Ergebnis und den Vorzügen erfreuen, sollte aber nie zu intensiv über das Prozedere und das Leid im Hintergrund nachdenken.

      »Ich nehme an, die Herren verzichten heute auf ihr Frühstück?«, fragte Mrs. Hudson frostig.

      »Das hoffe ich!«, versetzte Hopkins geradezu unerschrocken, was wohl seiner Müdigkeit angerechnet werden musste, die deutlich an seinem jugendlichen Gesicht abzulesen war.

      Auch über die Zeitabläufe der Männer von Scotland Yard hatte ich bisher nie großartig nachgedacht, wie ich gern zugebe. Doch wenn der Kollege von Lestrade, Gregson und MacDonald bereits zu solch früher Stunde bei uns vorsprach, musste man ihn zweifelsohne noch eher aus dem Bett gescheucht und zu einem Tatort gerufen haben.

      »Richtig so, Hopkins. Was sind schon Porridge und Würstchen im Vergleich mit einem Mordfall am Morgen, was?«, meinte Holmes gut gelaunt. Mit einem Blick auf die wenig entzückte Mrs. Hudson fügte mein Freund jedoch eilig hinzu: »Nichts gegen Ihre fabelhafte Küche, Mrs. Hudson … Watson wäre ohne Ihr Frühstück ja geradezu ungenießbar!«

      Für den Detektiv selbst war ein Mord freilich besser und nahrhafter als jedes noch so üppige Frühstück und jeder noch so starke Kaffee – von Tee hielt Holmes sowieso nicht viel, ob mit oder ohne Milch, und seinen Kaffee trank er ebenfalls schwarz und ohne Zucker.

      Mir fiel auf, dass Holmes an diesem Morgen auch ohne Kaffee von uns allen am frischsten wirkte. Dabei wusste ich ganz genau, dass er erst eine Stunde vor Morgengrauen von einem Erkundungszug in den Opiumhöhlen in Limehouse zurückgekommen war, wo er im mysteriösen Verschwinden des Kapitäns der Bella Swan ermittelte. Vermutlich hatte Holmes wie so oft, wenn er an einem Fall arbeitete, sogar seit zwei oder drei Tagen nicht geschlafen, ja nicht einmal an Schlaf oder auch nur ein kurzes Nickerchen gedacht. Allerdings war kein Schlaf ab einem gewissen Punkt oberflächlich betrachtet meist besser denn lediglich ein bisschen Schlaf, was Holmes’ gute Verfassung erklären mochte. Und habe ich selbst nicht oft genug darauf verwiesen, dass sich der große Sherlock Holmes ohnehin innerhalb anderer Grenzen bewegte als wir übrigen Normalsterblichen?

      Zu gern hätte ich ihn an diesem Morgen gähnen gesehen, nur ein einziges Mal, wenn schon nicht verschämt, dann doch zumindest verstohlen hinter seiner bleichen Hand!

      Der angenehm sterblich und müde wirkende Hopkins blinzelte dagegen überrascht in das künstliche Licht in unserem Salon.

      »Woher wissen Sie denn jetzt schon wieder, dass es um einen Mord geht, Holmes?«

      »Also bitte!« Mein Freund verschwand in seinen Räumlichkeiten, um sich mit der ihm zu eigenen Schnelligkeit beim Wechsel seiner Kleidung umzuziehen und den purpurfarbenen Hausmantel gegen Hemd, Weste, Anzug und Krawatte einzutauschen. Ich ging ebenfalls in mein Schlafzimmer und hoffte, nicht allzu lange nach dem theatererprobten Detektiv fertig zu werden, worauf ich jedoch nicht zu wetten bereit gewesen wäre, selbst wenn ich schweren Herzens auf meine ordentliche Morgenrasur verzichtete.

      Kurz überlegte ich, wann Holmes sich eigentlich rasierte. Denn sah man einmal von seinen lethargischen Phasen ab, in denen er sich intensiv seiner siebenprozentigen Kokain-Lösung hingab und nur selten vom Sofa erhob, während er in den Untiefen seines eigenen, gelangweilten Geistes auf die Jagd nach Stimulanz ging, dann waren die hageren Wangen des Detektivs immer vorbildlich glatt rasiert.

      Wann rasierte sich Sherlock Holmes zwischen einer Nacht wie der letzten und einem Morgen wie diesem?

      Holmes’ putzmuntere Stimme tönte derweil laut an allen angelehnten Türen vorbei und erreichte jeden Winkel der Wohnung, in meinem Zimmer wie im Salon, wo Hopkins neben Mrs. Hudson wartete und sich das allgegenwärtige Chaos besah, das Holmes’ Profession und Lebensweise mit sich brachten und das ich längst als Teil meines Lebens akzeptiert hatte.

      »Warum sonst sollten Sie um diese Uhrzeit hier vorsprechen, Hopkins? Das ist nun wirklich keine Zauberei. Entweder wurden über Nacht die Kronjuwelen gestohlen, oder jemand wurde ermordet und Sie haben keinen Schimmer, was Sache ist. Und da das erste, unter uns gesagt ziemlich verlockende Szenario meinen zu dieser Stunde eher unbekömmlichen Bruder zu Ihrem Begleiter gemacht hätte, bleibt ein schöner, altmodischer Mord.«

      Holmes’ älterer Bruder Mycroft war ein wichtiger Mann im Schatten des Throns, und gleichwohl er seinen heiß geliebten, schweigsamen Gentlemen’s Club in der Pall Mall nur selten verließ, wäre der beleibtere Holmes ohne Frage eine würdige Ergänzung unserer morgendlichen Runde gewesen.

      »Ach du liebe Güte!«, hörte ich Mrs. Hudson indes murmeln, bevor sie uns Männer alleine ließ in der Wohnung im ersten Stock, deren Mietvertrag sie sicherlich ein- bis zweimal die Woche am liebsten zerrissen hätte.

      »Heute also keine Kekse«, sagte Hopkins bedauernd, sobald die Tür hinter unserer Haushälterin ins Schloss gefallen war.

      Ich hatte mich beeilt und band noch mein Halstuch, als ich in den Salon zurückkehrte – Holmes stand dennoch bereits fertig angezogen mit Mantel, Hut und Spazierstock neben Hopkins.

      »Ah, Watson, endlich!« Mein Mitbewohner warf mir meinen Mantel zu, den er sich über den Arm gelegt hatte. »Das wurde aber auch Zeit!« Und da ihm natürlich nicht entging, dass ich mir mehrere Male unbehaglich mit der Hand übers Gesicht fuhr, fügte er hinzu: »Haben Sie sich etwa noch rasiert? Watson, Watson.« Der Detektiv schüttelte in einer Geste sanften Tadels sachte den Kopf. »Sie sagen mir doch immer, ich solle mich häufiger an die Etikette halten. An das, was angebracht und schicklich ist. Dann muss ich Ihnen das nun – bei aller Freundschaft – vermutlich auch sagen: Man rasiert sich nicht, wenn irgendwo eine Leiche kalt wird, alter Knabe …«

      * * *

      »Das ist das Opfer.« Hopkins verbarg ein Gähnen hinter der Hand und deutete mit der anderen vage auf den Mann, der nicht viel älter oder jünger war als der Inspector. Er lag am Boden, als wäre er einfach dort zusammengebrochen, mit aschgrauer Haut, angstverzerrtem Gesicht und wie zum Schrei aufgerissenem Mund. Was immer den Mann zu früher Stunde in seinem bescheidenen Heim ereilt hatte – er musste seinem Mörder und einem geradezu kosmischem Schrecken von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden haben. »Wayne Blossom, einunddreißig, Junggeselle. Arbeitet … arbeitete als Ausfahrer für die Bäckerei unten im Haus. Als er nicht wie jeden Morgen erschien, um seine Lieferung aufzuladen, wollte ihn der Bäckermeister holen und fand ihn so.«

      »Wie kam er ins Zimmer?«, fragte Holmes, während er gemäßigten Schrittes eine Reihe von Kreisen um den Toten zog und anschließend in die Hocke ging und sich