Seewölfe - Piraten der Weltmeere 614. Jan J. Moreno

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Название Seewölfe - Piraten der Weltmeere 614
Автор произведения Jan J. Moreno
Жанр Языкознание
Серия Seewölfe - Piraten der Weltmeere
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966880282



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Grätings abziehen konnte, war fürchterlich.

      Elizabeth lag zitternd auf ihrem Lager. Jemand hatte ihr eine zweite Decke untergelegt, um sie wenigstens vor der von unten aufsteigenden klammen Nässe zu schützen. Jeremiah erschrak, als er ihre Augen sah. Sie wirkten glasig, und ihr Blick war unstet und flatterhaft.

      Sanft fuhr er seiner Frau über die Stirn. Elizabeth schwitzte nicht mehr, hatte aber noch immer Fieber. Sie hielt die Hände auf den Leib gepreßt. Blässe überzog ihr Gesicht.

      „Das Kind?“ Henford erschrak.

      Schwerfällig schüttelte die Frau den Kopf.

      „Dann ist es der Hunger“, murmelte Jeremiah. „Du mußt mehr zu essen kriegen.“

      „Ich – will keinen – Ärger“, brachte sie abgehackt hervor, griff nach seinem Arm und zog ihn näher zu sich heran. „Bitte“, raunte sie, „wage nicht zuviel.“

      Unvermittelt legte sich eine schwere Hand auf Henfords Schulter. Zwei Pilger standen hinter ihm. Den einen, Brian O’Selly, kannte er, denn der war ebenfalls als Passagier für den Frachtraum eingeteilt worden. Der andere war ein Hüne von Gestalt, breitschultrig, muskulös und gut einen Kopf größer als der keineswegs kleine Brian.

      „Das ist Bartholomew Roberts“, stellte O’Selly vor. „Ich denke, gemeinsam können wir unser Problem lösen.“

      „Für die Flaute ist niemand verantwortlich.“ Henford richtete sich zögernd auf.

      „Aber für den Hunger an Bord.“ O’Selly warf einen schnellen Blick in die Runde. Keiner beachtete sie. Die meisten waren mit sich selbst beschäftigt oder starrten blicklos ins Leere. Das Warten, ohne daß etwas geschah, zehrte an den Nerven.

      „Bartholomew hat einiges herausgefunden, was noch keiner von uns wußte“, fuhr O’Selly in verschwörerischem Tonfall fort. Erklärend fügte er hinzu: „Wir sind alte Freunde.“

      „Was hat das mit mir zu tun?“ fragte Henford zögernd.

      „Du willst deiner Frau helfen?“

      „Natürlich.“

      „Eben. Und Bartholomew und ich können zwei kräftige Fäuste brauchen.“

      „Habt ihr vor, die Kombüse zu plündern?“

      „Unsinn.“ Für einen Moment blitzte es in O’Sellys Augen erheitert auf. Doch wurde er schlagartig wieder ernst. „Bartholomew hat herausgekriegt, daß es über der Bilge einen verschlossenen Raum gibt, in dem Zwieback, Pökelfleisch und Süßwasser aufbewahrt werden. Es soll sich um die Notration der Mannschaft handeln.“

      Henford blickte die beiden entgeistert an. Wenn das wahr war, handelte es sich um eine riesige Schweinerei. Die Pilger darbten, und die Mannen um den Kapitän hatten womöglich mehr als genug, um satt zu werden.

      „Du bist also dabei“, sagte Brian O’Selly leise. „Ich sehe es dir an.“

      Noch zögerte Henford.

      „Das siebte Gebot“, mahnte er, „du sollst nicht stehlen. Habt ihr das vergessen?“

      „Und der Kapitän und die Mannschaft?“ Bartholomew Roberts schnaubte erzürnt. „Verhalten die sich, wie es sich für gläubige Christen geziemt? Jeder von uns hat für die Überfahrt bezahlt, viele sogar mit ihrem ganzen Vermögen.“

      Stöhnend wälzte sich Elizabeth auf ihrem Lager. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Für Jeremiah gab das den Ausschlag.

      „Ich bin dabei“, sagte er. „Wann holen wir die Sachen?“

      „Eine Stunde ist so gut wie die andere“, erklärte Roberts. „Aber je eher wir etwas unternehmen, desto eher kriegen wir etwas Vernünftiges zwischen die Zähne.“

      Die Aussicht, wenigstens einen Teil der Gerechtigkeit wiederherzustellen, ließ Henford alle Bedenken über Bord werfen. Fest umklammerte er den unter dem Hemd versteckten Belegnagel. Wohl niemand würde das Verschwinden dreier Hölzer entdecken, die sich hervorragend als Waffe einsetzen ließen.

      Und Jeremiah war entschlossen, diese Waffe zu gebrauchen. Das war er schon Elizabeth und den Kindern schuldig – hatte doch er seine Frau überredet, in der Neuen Welt einen zweiten, besseren Anfang zu wagen. Wenn sie starb, war das auch seine Schuld, denn ohne sein Drängen säße Elizabeth noch heute in der alten Kate gut ein Dutzend Meilen westlich von London.

      Aber was war das für ein Leben gewesen, Tag für Tag Ziegenmilch und frischen Käse auf den Märkten der Umgebung feilzubieten! In der Neuen Welt, so hatte Jeremiah gehört, sollte alles besser, schöner und viel größer sein. Daß die See tödlich sein konnte und die Kapitäne der Pilgerschiffe gerissene Beutelschneider waren, davon hatte niemand gesprochen.

      Jeremiah Henford zerbiß eine Verwünschung zwischen den Zähnen. Er warf einen letzten Blick in die Runde, bevor er sich anschickte, Brian und Bartholomew wieder unter Deck zu folgen. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet und schien allmählich in die Höhe zu steigen. Gleichwohl war die Sicht noch immer auf wenige Kabellängen beschränkt, und von den anderen Schiffen nicht eine Spiere zu sehen.

      „Eine weiße Bö!“

      Der laute Ausruf ließ Henford innehalten. Zuerst wußte er nicht, was gemeint war, dann entdeckte er den hellen Schaumstreifen auf dem Wasser, der sich von Steuerbord her nur wenig achterlicher als dwars näherte.

      Augenblicke später spürte er die kühle frische Brise, die eine Schneise von wenigen hundert Yards Breite in den Nebel riß. Die Segel begannen zu killen, blähten sich – es war fast wie ein Wunder. Die Brise wurde steifer, das Schiff krängte nach Backbord und lief plötzlich wieder Fahrt.

      Befehle hallten über Deck. Die Segel wurden getrimmt. Von irgendwo erklangen Jubelrufe. Ächzend schien die Galeone die Lethargie abzuschütteln, die sie während der letzten Tage umfangen hatte.

      Dann war die Flaute wieder da.

      Übergangslos lag die See erneut so spiegelglatt wie zuvor, hingen die Segel wieder schlaff von den Rahen.

      Die Bö war weitergezogen. Wie zum Spott hatte sich der Wind flüchtig erhoben, um den verzweifelten Menschen an Bord die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage noch deutlicher vor Augen zu führen.

      Jeremiah Henford schickte ein Stoßgebet dahin, wo er die Sonne hinter dem Dunst nur erahnte. Aber der Wind frischte nicht von neuem auf.

      Henford hatte das Gefühl, als lege sich eine eiserne Zwinge um seinen Leib. Das Atmen fiel ihm schwer, alles in ihm verkrampfte sich in einem stummen Aufbäumen. Welche Schuld hatten die Pilger auf sich geladen, daß der Herr die Augen vor ihrer Not verschloß?

      Mein Gott, warum? schoß es ihm durch den Sinn. Ist es recht, wenn du Frauen und Kinder quälst? Was sollen wir tun?

      Daß er die letzten Worte unwillkürlich laut ausgesprochen hatte, wurde ihm erst bewußt, als ihn O’Selly aus seinen Gedanken wachrüttelte.

      „Du weißt, was wir tun müssen“, raunte Brian und zerrte ihn mit sich.

      Henford war zum Laufen gezwungen.

      „Wir hatten Wind“, sagte er.

      „Satan spielt mit der ‚Pilgrim‘“, erklärte Bartholomew Roberts. „Bedarf es eines besseren Beweises?“

      Dann mußten sie vorsichtig sein. Roberts gab den Gefährten zu verstehen, daß sie hinter der nächsten Biegung auf die Wache stoßen würden. Niemand hielt sich in diesem Teil des Schiffes auf, in dem lediglich Segeltuch, Farben und Hölzer gelagert wurden.

      Henford wußte, welches Risiko sie eingingen. Die Wache durfte keinen von ihnen erkennen, wollten sie nicht an der Rah baumeln oder gar gekielholt werden.

      Nachdem sich Roberts und O’Selly die provisorischen Kapuzen mit den Sehschlitzen übergezogen hatten, verfiel Henford in einen taumelnden Gang. Einem jähen Hustenanfall folgte ein krampfhaftes Würgen, bevor er zusammenbrach. Seine Finger schlossen sich um den Belegnagel.