Sommerleithe. Klaus Weise

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Название Sommerleithe
Автор произведения Klaus Weise
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939483618



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können. Noch konnte ich. Noch hatten meine Hände die Kraft, mich im Himmel des Fleischerreiches baumeln zu lassen und sich dem dunklen Sog, der meinen Körper länger und länger werden ließ, zu widersetzen und mich vor dem Absturz zu bewahren. Noch.

      Alles um mich herum war ruhig und friedlich, ganz so, als würden die Würste, Schinken und Speckseiten, der Raum und all seine Gegenstände sich zur Ruhe begeben, langsam in einen tiefen Schlaf sinken und den Ereignissen eines neuen Tages entgegenträumen. Doch diese Behaglichkeit konnte ich nicht teilen. War ich doch, wenngleich bleich vor Angst, weder eine weiß gekalkte Zervelatwurst noch, auch wenn mir das Blut in den Kopf geschossen war, ein roter Nussschinken. Ich war: beides. Da ich mich aber nicht selber sehen konnte, konnte ich nicht wissen, wie das aussah: gleichzeitig beides zu sein.

      Schwester Salami und Bruder Schinken hatten es bequem, denn sie brauchten sich nicht festzuhalten. Sie wurden gehalten – von Bindfadenschlaufen, durch die schwarze Spieße gesteckt waren, welche mittels einer eisernen Gabel, befestigt an einem langen Holzstab, von starken Männerhänden in das Gestänge unter die Decke gehängt worden waren. Auch war ich keine von den vielen mit weißen Fettflocken gemusterten Mettwürsten, die sich mit braun glänzender Haut wie geknetete und abgeschnürte hungrige Riesenschlangen um Räucherspieße wickeln konnten, um sicheren Halt und Überlebenshoffnung zumindest für die kommende Nacht zu finden. Nein, ich war ein Junge, der zwar ziemlich stark war oder sich so vorkam, aber möglicherweise nicht stark genug, um eine ganze Nacht wie eine Fledermaus am Wurstspieß hängend schlafen zu können. Außerdem, fiel mir ein, jagen Fledermäuse nachts und schlafen am Tag. Nein, es gab kaum Hoffnung zu überleben.

      Und die Hoffnung schwand umso mehr, je ruhiger es wurde im Raum. Die Geräusche des Tages waren längst verweht, und die Stille der Nacht hatte sich schleichend ausgebreitet wie die Dunkelheit im Schatten der Dämmerung. Alles war so friedlich, dass es mich nicht überrascht hätte, jetzt die sanfte und geliebte Stimme meiner Mutter zu hören, die mir ein Lied zur guten Nacht singt … wäre da nicht die pochende Panik in meinem Herzen.

      Wie lange ich in diesem verführerischen, doch nun mein Leben bedrohenden Himmel hing, weiß ich nicht. Es kam mir unendlich lange vor. Meine Haut, ausgetrocknet zu einer luftgeräucherten Schwarte, zu gelb-bräunlichem Pergament – ein harter Naturdarm, in dem mein schwindendes Leben, mein vertrockneter Körper Saft und Seele aushauchten – war mit Kleidern und Schuhen verwachsen. Ich war eingetrocknet auf die Größe einer Salami. Mein Kopf, ein Schrumpfkopf mit dem Gesicht eines greisenhaften Kindes, wirkte wie aus dem Himmel auf die Schultern gefallen, dort verwachsen mit zwei ausgestreckten, verdorrten dünnen Ärmchen, die in nichts an die geschmeidigen Muskeln und die saftigen Sehnen der Jugend erinnerten, sondern nur an den vertrockneten Mörtel und Staub greisenhafter Alterserstarrung. Kopf, Arme und Rumpf waren zudem umhüllt von einem Geflecht übereinander gewobener Spinnennetze, welche diese menschliche Ruine davor schützen sollten zu zerbröseln, damit sie, sollte es jemals wieder regnen, zu neuem Leben erwachen könne.

      Ich atmete nur noch einmal pro Tag, einmal ein, einmal aus, und mein Herzschlag hatte sich diesem Rhythmus angepasst. Meine Hände sind mit dem schwarzen Spieß verwachsene Krallen, von denen ich befürchten muss, dass auch sie bald pulverisiert werden und als feiner Staub auf das Leben unter ihnen herniederrieseln.

      Und ist mein Körper auf dem Steinfußboden aufgeschlagen, zerborsten und sein Staub aufgewirbelt wie die Sporen, die ein zertretener Pilz in einer langsam unsichtbar werdenden Wolke auf weite Reise schickt, dann werde ich nicht mehr sein. Dann werden meine Eltern und meine Geschwister schon sehen, was sie davon haben, mich nicht gerettet zu haben, dann werden sie nur noch sagen können: Es war einmal ein König, ein kleiner König …

      Man hatte mich vergessen. Die Würste und Schinken neben mir kamen und gingen. Ich war es müde, mich mit ihnen zu befreunden. Ich reduzierte die Energie, die ich benötigte, um zu leben, wie es Schildkröten tun im Winterschlaf. Ob ich nun langsam zerbröselte oder, solange noch ein wenig Lebenssaft in mir gärte, doch noch heruntergenommen und im Laden von der Aufschnittmaschine in hauchdünne Scheiben geschnitten und teuer verkauft würde, war mir egal. Ich wusste, die Gefühle und mit ihnen Schmerz und Hoffnung hatten meinen Körper längst verlassen.

      Die Lethargie als Ergebnis des endlosen Hängens wurde nur noch übertroffen von der Wiederkehr des Lebens unter mir. Dort wurde gearbeitet, gelacht, gestritten, geliebt, Geld gezählt, doch nie bekam ich einen Blick, der mir gesagt hätte, ich weiß, dass es dich da oben noch gibt, dass du da bist, wir haben dich nicht vergessen, und deine Zeit wird kommen. Nichts von alledem. Obwohl vorhanden, existierte ich nicht mehr. Als hätte es mich nie gegeben. Manchmal, wenn das zarte Licht der Morgensonne den Raum erhellte, die Schläfer in Wohnungen und Häusern an der Hand nahm und sie vom Schlaftraum der Nacht in den Lebenstraum des Tages führte, wünschte ich, es würde mich verwandeln in eine Urne ganz aus meiner eigenen Asche und mit sonst nichts drin als diesem weichen Licht.

      Ich fürchtete mich nicht mehr vor dem Tod und auch nicht mehr vor dem Sterben. Das sanfte Licht der Morgensonne würde mir für immer scheinen und mich erwärmen, mir Trost und Hoffnung spenden. Und wenn das Leben mich vergessen hat, bescheint mich doch das Licht des Todes in meiner Urne. Ob es mir für immer hier scheint oder mich mitnimmt auf seine Reise – mir ist beides recht.

      Denn ich wollte wissen, wohin die Reise ging. Da hörte ich von irgendwo, aus Vergangenheit oder Zukunft, die vertraute Stimme meiner Mutter: «Im Westen ist es kalt.» Mit dieser Vorausahnung hatte sie recht, wie sich später herausstellen sollte. Auch wenn es im Westen manchmal heiß zu- und hoch herging.

      2.

      … das kommt vom Rudi-Ralala

      Samstagabends gingen die Gesellen unserer Metzgerei im gegenüberliegenden Gasthaus Zur Kanne feiern. In dessen Tanzsaal mit dem schönen Namen Paradiso – eine Verbeugung vor dem Hit «Paradiso unterm Sternenzelt» aus den frühen 60er Jahren, auf Deutsch gesungen von der amerikanischen Sängerin Concetta Rosa Maria Franconero, bekannt unter dem Namen Connie Francis –, spielte eine Band, es wurde getrunken und getanzt, und meine Schwester, ihre Freundin Monika und ich lagen bei uns im Fenster und beobachteten. Der Feldstecher meines Vaters half uns dabei. Besonders begehrt war er von Renate und ihrer Freundin bei langsamen Liedern. Nie, außer an Abenden wie diesen, sah ich meine Schwester jemals durch ein Fernglas schauen.

      Was wir nicht sehen konnten, mussten wir uns denken. Ich spürte körperlich, dass Renate und Monika in ihrer ergänzenden Phantasie mir weit voraus waren und über Dinge tuschelten, die ich mir, selbst wenn ich mehr als bloße Flüsterfragmente gehört hätte, aus Mangel an pubertären Erfahrungen noch lange nicht hätte ausmalen können.

      Auch unsere Eltern gingen samstagabends aus. Zweimal im Monat trafen sie sich mit Freunden zum Kegeln in der Wirtschaft Im Pütt. Lag Zur Kanne mit dem Tanzsaal Paradiso nur einen Steinwurf von der Straßenfassade unseres Hauses und der Metzgerei entfernt, so hätte ich mit demselben Stein in entgegengesetzter Richtung den oberirdischen und fensterlosen Tunnel der zu Im Pütt gehörenden Kegelbahn treffen können, jenseits der Mauer, die unseren großen Garten umzäunte und in die am oberen Ende spitze Eisenpickel und bunte Glasscherben einzementiert waren. Diese sollten Einbrecher davon abschrecken, in unser neu erworbenes Reich – Metzgerei, Laden und Wohnhaus – einzudringen, um Würste und Schinken zu stehlen, die Geldkassette zu entwenden, die mein Vater allabendlich an seiner Schlafseite unter dem Kopfende des Ehebettes versteckte, und, sollte er sie nicht freiwillig herausrücken, ihm den Schädel einzuschlagen.

      Doch auch die Flucht aus unserem Reich sollte so verhindert werden. Mit einiger Regelmäßigkeit unternahmen unsere beiden Schäferhunde, wenn sie aus ihrem Zwinger in den für sie abgezäunten Teil des Gartens durften und sich unbeobachtet fühlten, den Versuch, das Reich zu verlassen, anstatt es zu bewachen und gegen Eindringlinge zu verteidigen. Mehrmals gelang es Axel und Pluto, mit einem Satz auf die Mauer und mit einem weiteren von der Mauer in die Freiheit zu springen. Doch immer endete ihre Flucht im Zwinger des Tierheims in der Nähe des Mülheimer Flughafens, und jedes Mal, wenn ich sie mit meinem Vater von dort abholte, um sie aus dem einen Zwinger zu befreien und wieder in den Zwinger der Metzgerei zu sperren, überlegte ich, welches Hundeleben sie, hätten sie es frei