Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer

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Название Die Farbe von Jade
Автор произведения Luzia Schupp-Maurer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783981746099



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Herr Starrenberg war ihr irgendwie unangenehm. Lea warf ganz langsam den ersten Brief in den Kasten an der Haustür. Irgendeine Werbung. Sie ließ den Briefkastendeckel geräuschvoll zufallen, bevor sie gemächlich in den Wagen griff und nachschaute, wo denn nur der zweite Brief und der andere Werbemüll war, der in diesen Kasten gehörte. Heute war es viel. Natürlich hatte sie das sofort überprüft, als sie den Postberg sortiert hatte. Sie hatte sogar noch einen Bonus an Werbematerial dazugegeben.

      Endlich regte sich was am Fenster. Die Gardine wurde zurückgeschoben und das Gesicht der bezaubernden Fremden erschien. Sie lächelte und winkte. In ihrem Blick lag Wehmut. Lea schmolz förmlich dahin und musste aufpassen, dass sie nicht eine Pfütze vor der Haustür bildete, einen kleinen See aus Entzücken. Warum kam die Frau nicht heraus, warum nahm sie die Post nicht persönlich entgegen, wenn sie schon zum Fenster kam? Wie auch immer, ihr Lächeln war einfach mehr als Gold wert. Auch am folgenden Tag winkten sie sich nur durch das Fenster zu und am nächsten und am übernächsten auch. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, naja, einen halben Meter oder doch eher einen ganzen. Jedenfalls viel zu weit. Und immer war da diese Glasscheibe zwischen ihnen.

      Lea hielt es einfach nicht aus. Entgegen aller Vernunft schrieb sie eine neue Postkarte: »Sie sind für mich wie eine Gazelle in der Nacht: schön, flüchtig – geheimnisvoll. Doch auch das Bild auf dieser Karte passt zu Ihnen: sanft, aber zugleich stark, wie jemand, der nicht vergessen kann.« Auf der Karte war ein Elefant.

      Vor dem Haus klapperte sie mit dem Briefkastendeckel. Ihr Herz klapperte mindestens genauso laut. Als das Gesicht erschien und die Frau ihr winkte, hielt Lea die Karte ans Fenster. Die Augen der Frau senkten sich auf das Bild, sie wirkte erst erschrocken, dann erfreut. Sie verschwand. Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür. Leas Herz machte einen Sprung. Die Frau stand im Türrahmen und begrüßte sie mit leiser Stimme. »Guten Tag … Was ist das?«

      Lea hielt ihr die Karte entgegen. »Ein Elefant«, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Warum gab sie so eine blöde Antwort, die Frau war ja nicht blind!

      »Was?«

      »Äh, Elefant. Wir nennen das Elefant. Naja, das wissen Sie sicher schon.« Lea atmete durch, gerade noch gerettet.

      Die Frau betrachtete die Karte in Leas Hand. Dann öffnete sie ihre dunkelbraune Strickjacke, die sie bisher fest um sich geschlungen hatte, und gab damit ihren Hals und den Ansatz ihres Dekolletés frei. Ein leiser Duft ging von dieser Frau aus, kaum greifbar. Geheimnisvoll und weich. Ein Duft, der viele Geschichten in sich barg. Lea schluckte. Ihr Blick glitt den zarten, sehnigen Hals herunter, die Wollränder der Jacke entlang, über die Schlüsselbeine und die Schnüre eines Lederbandes bis zur Brust der Fremden. Dort hing ein kleiner graugrüner Stein, unbehauen und ungeschliffen.

      »Elefant«, sagte die Frau und versuchte damit, das Wort auf Deutsch zu wiederholen. Ihre Stimme war leise und zurückhaltend, klang wie ein Stück losgelöste Borke im Herbst. Wie rauer Samt, wie ein Ausschnitt eines großen Tuches, unter dem sich Dinge verbargen. Lea schaute etwas genauer hin und versuchte, sich nicht von der warmen Haut der Frau ablenken zu lassen. Der Stein sah tatsächlich wie ein Elefant aus. Die Frau lächelte, aber ihr Lächeln schien aus einer tiefen Trauer zu kommen.

      Lea schaute in das wehmütige Gesicht. »Woher ist dieser Elefant?«

      Die Frau legte ihre Hand auf den Elefanten. »Elefant aus … Asien. Aus Birma. Ist Geschenk. Zum Schutz vor Tod.«

      »Und? Hat er Sie beschützt?«

      Die Frau nickte verhalten. »Ich habe Mann kennengelernt. Guter Mann.«

      Lea rutschte das Herz in die Hose. Sie schluckte. War ja klar.

      Die Stimme der Frau klang nun wie aus weiter Ferne. »Hier Arbeit. Gute Arbeit. Das gut.«

      Lea lächelte gezwungen. »Das freut mich.« Sie ließ die Postkarte in ihrer Hand sinken. Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sollte sie ihr nicht mehr geben. Wie konnte sie nur so blöd sein!

      Die Frau schaute zu der Karte herunter. »Karte für mich?«

      Lea heftete ihren Blick an die Hauswand, als sie log. »Nein, nein, die ist für jemand anderen. Ich fand das Bild so schön. Ich wollte es ihnen nur zeigen. Ich … mag Elefanten.«

      »Schön, ja.« Die Frau nickte. »Elefanten gut. Hier keine Elefanten. Hier komische Kühe.«

      Lea lächelte gequält. »Ja, hier komische Kühe«, und in Gedanken ergänzte sie, ich zum Beispiel. »Ich muss jetzt weiter. Tschüss.« Lea drehte sich um und ging. Im Gehen steckte sie die Karte wieder ein und ging wie auf Glatteis ihren Botengang beenden.

       Südost Birma, Ende Mai 1996

      Als San Youn erwachte, lag sie auf einer Bastmatte im Wald. Das Blätterdach war hier dünner als da, wo ihr Versteck war. Einige Bäume waren kahl. Das Dorf war verschwunden. Dafür roch es nach Feuer und gegrilltem Fleisch. San Youn schrak hoch, sah fremde Menschen. Sie trugen Uniformen. Schnell legte sie sich wieder hin und stellte sich schlafend. Schritte näherten sich. »Wach auf«, sagte eine Stimme über ihr, jemand schüttelte sie, dann bekam sie ein paar Ohrfeigen. Langsam und widerstrebend öffnete sie die Augen. Eine junge Frau in einer Soldatenuniform saß neben ihr und hielt sie an den Schultern. Sie hatte kurzes, struppiges Haar, das ihr spröde wie Stroh vom Kopf abstand. »Setz dich auf, iss was.« Sie half San Youn, sich aufzurichten. Dann reichte sie ihr eine kleine Schale mit Reis. »Iss.« San Youn hatte schrecklichen Hunger. So Hunger, dass ihr Magen sich zusammenzog und kaum etwas aufnehmen wollte. Außerdem war ihr übel vor Angst. Trotzdem gehorchte sie und zwang sich zu essen. Langsam rollte sie den Reis zu Bällchen und schob ihn sich in kleinen Häppchen in den Mund. »Da«, sagte die Frau und gab ihr einen gegrillten Frosch. »Du musst zu Kräften kommen.« San Youn nahm das Holzstäbchen, auf dem der Frosch steckte, und nagte vorsichtig Stück für Stück das Fleisch herunter.

      Ängstlich schaute sie sich um. Die Schlafstelle, auf der sie lag, bestand aus zwei nebeneinanderliegenden langen Baumstämmen, über die dicke Zweige gelegt waren, sodass sie etwas erhöht über der Erde lag. Da waren Zelte und Leute saßen um ein Feuer. Sie aßen ebenfalls. Es waren Erwachsene und auch Kinder. Viele trugen Uniformen und Gürtel, an denen Handgranaten hingen und fast alle hatten ein Gewehr auf dem Rücken. Auch die Kinder. San Youn erschrak. Ob sie jetzt auch schießen musste? Die Mutter hatte es ihr doch verboten. San Youn fragte sich, ob Nu Kaung und San Kyi auch da waren und suchte zwischen den fremden Rücken und Gesichtern ihre Schwestern. Doch es gab niemanden, den sie kannte. Sie spähte nach den Kennzeichen auf den Uniformen – wenigstens waren es die Soldaten der Karen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war sie jetzt gerettet, vielleicht würden die Soldaten sie nach Europa bringen. San Youn schaute auf ihren Reis. Ohne Mi Mi wollte sie nicht nach Europa. Wieder wollten Tränen in ihr aufsteigen, blieben aber in einem Kloß in der Kehle stecken. Niemand beachtete sie. Ob sie weglaufen sollte? San Youn rollte nervös den Reis zwischen ihren Fingern und schluckte trocken.

      Bald wurde es dunkel und einige Kinder kamen auf San Youn zu. Ohne sie zu beachten, breiteten sie Bastmatten auf dem Schlaflager aus und legten sich in einer langen Reihe neben sie. Die Kinder sahen seltsam aus, ihre Gesichter waren ausdruckslos. San Youn konnte nicht sehen, ob sie traurig waren oder böse. Es waren Gesichter, die nicht zu Kindern passten. Sie mussten erwachsen sein für den Krieg, doch wirklich Erwachsene schießen nicht, hatte Mi Mi gesagt. Weil wenn man erwachsen ist, wirklich erwachsen und nicht nur alt, dann weiß man, dass man sich damit nur selber schadet, dass es keinen Sinn macht zu töten. Bald waren alle eingeschlafen. San Youn wagte nicht, sich zu bewegen. Grillen sangen das Nachtlied des Waldes, sie hörte vielfaches Schnarchen. San Youn lauschte, bis auch sie endlich wieder einschlief.

      Mit den Schreien der Gibbons begann der neue Tag. Bevor San Youn die Augen öffnete, prüfte sie mit den Ohren ihre Umgebung. Schritte, vereinzelt Stimmen, das Klappern von Dingen, die aufeinandergestapelt wurden, das Knistern von Bastmatten, die man zusammenrollte. Die anderen Kinder waren schon aufgestanden. Als San Youn sich bewegte, stieß sie jemand an. Es war dieselbe Frau wie gestern. »Bist du wieder kräftig? Kannst du aufstehen?« San Youn verharrte. »Versuch es, los. Wir brechen gleich auf. Wenn du nicht stark genug bist, musst du hierbleiben, also versuch