Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer

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Название Die Farbe von Jade
Автор произведения Luzia Schupp-Maurer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783981746099



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San Youn wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht gab es einen Kompromiss. Oder sie würde abwarten, was noch geschehen würde. Die Zeit würde ihr so manche Antwort geben. Also funktionierte sie einfach, gehorchte, tat, was man ihr sagte und wenn sie bestraft wurde oder gelobt, ließ sie es über sich ergehen. Sie folgte und gehorchte wie ein Zombie. Wenigstens musste sie niemanden töten, noch war ihr Gewehr aus Holz. Auch eine Uniform bekam sie noch nicht, sie trug nur ein graues Hemd und eine braune Hose. Ein bisschen freute sie sich auf die Uniform, denn die machte stark. Dann wäre alles leichter. Sie machte ihre Übungen und tat nur, was man ihr sagte. Wenn sie keinen Befehl bekam, stand oder saß oder lag sie stumm da und wartete.

      Nach unzähligen Tagen wurde San Youn einer kleineren Gruppe zugeteilt. Die Gruppe ging in einer Reihe hintereinander durch den Wald. Vorne ein paar Kinder, hinten die Erwachsenen. Ganz vorne tasteten sich mit einem Stock das Mädchen, das in dem Zelt gewesen war, und die Soldatin, die San Youn bei ihrer Ankunft das Essen gegeben hatte, voran. Diese Frau war wie die anderen sehr streng und redete nicht, außer den Sachen, die zu sagen waren. Auch sie ging hin und wieder in das Zelt des Kommandanten. San Youn beneidete das Mädchen, das vorn bei ihr sein durfte. Die Frau war sehr stark und sicher auch sehr klug. Sie könnte San Youn vielleicht zeigen, was sie tun sollte, könnte ihr helfen und sie beschützen. Ihre Haltung war gerade, aber ihre recht großen Augen wichen jedem aus. Manchmal aß sie nicht alles auf, dann gab sie ihr Essen den Kindern. San Youn hatte auch schon einmal was von ihr bekommen. Wann durfte sie endlich auch vorne gehen, damit sie bei dieser Frau sein konnte?

      Die Gruppe kam in ein Waldstück, wo die Bäume nicht so dicht standen und es nur wenig Gesträuch gab. Sie bewegten sich leise und vorsichtig voran, hielten die Gewehre bereit, spähten, lauschten. Zwischendurch stoppten sie und erst auf ein Winken des Anführers gingen die Frau und das Mädchen vorne langsam weiter. Bis auf das Zirpen im Wald und das entfernte Rufen einiger Affen war nichts zu hören. Dann ein leises »Klick«. Die Frau blieb abrupt stehen und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Nach der ersten Schrecksekunde schmolzen ihre verschlossenen Gesichtszüge. Sie schrie dem kleinen Mädchen vor ihr etwas zu, das erschrocken zur Gruppe zurückrannte.

      »Mine! Zurück!«, rief nun auch ihr Anführer laut. Die Gruppe sprang ängstlich zurück, während die Frau vorn zu weinen begann. Sie war auf eine Tretmine getreten. Das klickende Geräusch hatte sie gehört, noch bevor sie den Fuß wieder anhob, um weiterzugehen. Geistesgegenwärtig behielt sie ihren Fuß auf der Mine und verhinderte damit die sofortige Explosion.

      Einer der Männer legte das Gewehr auf die Frau an und schaute den Anführer fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Wir gehen da lang.« Der Soldat, der sein Gewehr immer noch im Anschlag hielt, sagte leise: »Sie wird sowieso …« Der Anführer der kleinen Gruppe überlegte kurz. Er nickte: »Na gut.«

      Der Schuss fiel, die Frau brach zusammen und im selben Moment krachte es laut und die Mine explodierte. Der Knall war ohrenbetäubend. Ein Pfeifen hallte noch lange in San Youns Kopf nach. Noch hartnäckiger brannte sich das Bild des zerrissenen Körpers in ihr Gehirn und das Bild, wie die Gruppe einfach weiterging, an der Toten vorbei, sie selbst als erste voran. Denn San Youn war es jetzt, die das Kommando bekam, zusammen mit dem anderen Mädchen vorweg zu gehen und eventuelle Tretminen mit ihren Füßen aufzuspüren oder den ersten Angriffspunkt für Schlangen darzustellen. Denn nun konnte man auf sie am ehesten verzichten. Das war also das Privileg, vorneweg zu gehen.

      Sie pirschten weiter, ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwann kehrten sie zum Lager zurück, ohne dass San Youn erfuhr, was genau der Ausflug sollte. Von der Frau wurde nicht mehr gesprochen. Noch wochenlang kam der Geist der Toten San Youn in ihren Träumen besuchen. Sie verlangte ihren Körper zurück, verlangte nach ihrem Bein, nach ihrem Fuß. Auch der abgerissene Fuß kam San Youn besuchen. Tagsüber hatte sie immer wieder den Eindruck, überall Füße zu sehen. In Bäumen, unter Büschen, im Feuer.

      Mit dem einsetzenden Regen gaben die Geister plötzlich Ruhe. Hoch über dem Wald ballten sich die undurchdringlich wirkenden Wolken zusammen, der Monsun brach mit heftigen Gewittern das windstille Schweigen der Hitze und brachte in Strömen sein lebenspendendes Geschenk. Nun würde es fast jeden Tag regnen. Der Regen rauschte in den Blättern hoch über San Youn. Er begoss die Köpfe und durchtränkte die Kleidung. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Blitze zogen durch den Himmel und krachend schlug der Donner in San Youns Seele, gefolgt von tiefem Grollen. Normalerweise war der Beginn der Regenzeit ein Fest im Dorf, denn der Regen brachte neue Lebensgeister, machte das Land fruchtbar. Die Luftfeuchtigkeit stieg noch mehr und nach jedem Regenguss stieg der Nebel dampfend und dicht zwischen den Bäumen empor. Hier wurde kaum darauf geachtet. Es wurden lediglich zusätzliche Zelte gebaut.

      Auch San Youn ließ den Regen unbemerkt über ihr Gesicht laufen. Sie bekam kaum noch etwas von dem mit, was sie dort tat und erlebte. Es passierte einfach. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr und fühlte auch sonst nichts mehr, nicht, wenn sie Hunger hatte, nicht, wenn man sie schlug. Es war, als wäre sie gar nicht da, sie bemerkte nicht, dass Tage, vielleicht Wochen vergingen. Ob sie schlief oder wach zwischen den dicht gedrängten Körpern der anderen lag, wusste sie nicht. Ob sie etwas aß oder nicht, wusste sie auch nicht.

      An einem Morgen wurde sie einem Versorgungstrupp zugewiesen. Früh am Morgen brachen sie auf und mit San Youn voran marschierten sie mehr als einen halben Tag durch den regennassen, dampfenden Wald, fast ohne Pausen zu machen. Die Luft war jetzt so dunstig, so feucht, dass man die einzelnen Tröpfchen in der Luft zu sehen vermeinte. Sie wanderten auf zugewachsenen Trampelpfaden, die nach und nach zu kleinen Wegen wurden und schließlich zu einem größeren Dorf führten. Im Dorf wartete ein Geländewagen. Sie stiegen ein. Erschöpft schaute San Youn während der Fahrt aus dem Fenster.

      Hpa-an war die Hauptstadt des Karen-Staates. San Youn hatte davon gehört, war aber noch nie in einer echten Stadt gewesen. Sie suchte nach den Froschskulpturen, die in den Pagoden stehen mussten und die der Stadt den Namen gaben – Hpa bedeutet Frosch. Vielleicht würden die Frösche sie zu buddhistischen Mönchen führen, die gut waren. Von dort könnte sie dann Europäer suchen gehen, die sie nach England mitnahmen. Die Frösche aber ließen auf sich warten.

      In einer Seitenstraße hielten die Soldaten und stiegen aus, begrüßten einen Mann und diskutierten über irgendetwas. Der Mann winkte jemandem, den San Youn nicht sehen konnte. Säcke wurden herangeschleppt und zu San Youn in den Wagen geworfen. Die Soldaten gaben dem Mann Geld. Der Mann schaute durch das Fenster und musterte San Youn. Er fragte die Soldaten etwas, es wurde erneut verhandelt. Der Mann bezahlte etwas von dem Geld zurück und legte dem Soldaten eine Flasche Orangenschnaps in die Hand. Der Mann, der Birmanisch mit einem starken Hpa-an-Dialekt sprach und den San Youn nicht verstand, klopfte an die Scheibe und winkte. San Youn schaute fragend zu den Soldaten herüber. Die winkten ihr bestätigend zu. Sie stieg aus, die Soldaten stiegen ein, grüßten den Mann und fuhren davon.

      San Youn erschrak. Sie wollte dem Wagen hinterherlaufen, aber dieser Fremde hielt sie am Arm fest. Sie wollte schreien, aber der Wagen war schon fort. Nun war sie allein mit diesem Mann. So sehr sie vor den Soldaten Angst gehabt hatte, sie waren doch vertrauter als dieser Mann und die Stadt. Sie verstand nicht, warum die Soldaten sie hier zurückgelassen hatten. Warum hatte der Mann sie aus dem Wagen gewunken? Regungslos stand sie da. Sein kantiges Gesicht flößte ihr Respekt ein. Ob es freundlich war oder nicht, vermochte San Youn nicht zu sagen. Der Mann führte sie ins Haus. Sie war noch nicht oft in einem Steinhaus gewesen und auch der Straßenlärm war ihr fremd. Die Gerüche waren hier anders. Im Haus führte der Mann sie in einen Waschraum, bedeutete ihr, sich zu waschen, gab ihr ein einfaches Leinenkleid und verschwand. Hier gab es fließendes Wasser, das aus der Wand kam. Es musste ein sehr reiches Haus sein. Vielleicht bekam sie nun doch Hilfe. Dennoch war es ihr unangenehm, sich jetzt waschen zu sollen. Unbeholfen tat sie es. Nachdem sie sich angezogen hatte, rief der Mann sie heraus, brachte sie in ein Zimmer und schloss von außen die Tür ab. Durch die Tür hörte sie ihn kurz darauf mit jemandem sprechen. Seltsamerweise hörte sie den Gesprächspartner nicht. Vielleicht hatte er so ein Telefonding, mit dem man mit Menschen sprechen konnte, die weit weg sind. Davon hatte San Youn schon gehört und auch schon mal eins gesehen. Alltäglich waren diese Dinge aber nicht für sie.

      Es war beklemmend in diesem leeren Raum. Warum sind in diesen Häusern die Türen so dick und stark? Und die Wände und der Boden