Название | Black or White |
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Автор произведения | Hanspeter Künzler |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783854453154 |
Die Distanz zur Musikmetropole Chicago betrug nur fünfzig Kilometer. So florierte auch in Gary eine rege Musikszene. Auf der Suche nach Arbeit waren über die vergangenen Dekaden hinweg allerhand Blues-Musiker aus dem Mississippi-Delta in den Norden gewandert und hatten ihren Sound der hektischen urbanen Umgebung angepasst. Die traditionelle Mundharmonika wurde in Chicago nun über das Mikrophon gespielt, die akustische Gitarre elektrisch verstärkt oder gar durch eine elektrische Gitarre ersetzt. Bass, Drums, Klavier und manchmal das Saxophon prägten ebenfalls, den druckvollen neuen Chicago Blues. In der Stadt war auch das wegweisende Plattenlabel Chess Records beheimatet. Gegründet im Jahre 1950 von den Gebrüdern Chess, Phil und Leonard, erschien hier von Muddy Waters (dem „Vater des Chicago Blues“) über Howlin’ Wolf bis Willie Dixon und Little Walter alles, was im Blues Rang und Namen hatte und später die Rolling Stones und die Beatles so nachhaltig beeinflussen sollte. Bei Chess waren auch Chuck Berry aus St. Louis und der Lokalmatador Bo Diddley untergebracht, die, wenn es im Musikgeschäft fair zuginge und wenn ihre Hautfarbe eine Spur bleicher gewesen wäre, heute als Pioniere des Rock’n’Roll im gleichen Atemzug genannt würden wie Elvis und Bill Haley. Diverse Blues-Künstler lebten in den 50er Jahren in Gary, darunter Jimmy Reed und Albert King. Berühmter waren indessen The Spaniels, die erste Doo-Wop-Truppe, bei der sich der Leader – in ihrem Fall hieß er Pookie Hudson – an sein eigenes Mikrofon stellte, derweil sich seine Kollegen zu viert um das zweite scharten. Doo-Wop war eine vorab von schwarzen Stimmen gepflegte Mischform aus Gospel, Rhythm & Blues, Swing und Pop, deren kapitaler Einfluss auf die Entwicklung von Rock’n’Roll, Funk und Soul heute ebenfalls oft unterschätzt wird. Sie war in den 40er Jahren aus den Industriestädten des Nordostens und des Mittleren Westens erwachsen, schaffte aber erst in den 50er Jahren so richtig den Sprung in die Hitparade. Die Spannbreite des Stiles reichte von der schmalztriefenden Schnulze, die eher ein älteres Publikum entzückte, bis zum swingenden Rockabilly für die Strizzis an der Straßenecke. Vom Rock’n’Roll unterschied sich Doo-Wop vor allem durch die subtil arrangierten, gospelartigen Gesangsharmonien, die hier im Vordergrund standen. Auch gehörte es zum Doo-Wop, dass die Gruppen supercoole Anzüge trugen und kleine Tänzchen inszenierten, bei denen alle Mitglieder im Gleichtakt die gleichen Bewegungen ausführten. Diese bereiteten nicht nur Vergnügen, sie waren auch eine billige und dabei eindrückliche Art, wie man zeigen konnte, dass man etwas zustande brachte, auch wenn man keinen Cent in der Tasche hatte.
The Spaniels hatten sich in der Roosevelt High School an der 25th Avenue in Gary formiert und gaben dort 1952 auch ihr Live-Debut – buchstäblich um die Ecke von der Adresse 2300 Jackson Street, wo sinniger-, aber zufälligerweise die junge Jackson-Familie wohnte. Anfang 1953 unterschrieb die Gruppe einen Vertrag beim soeben gegründeten, ebenfalls in Gary ansässigen Plattenlabel Vee-Jay. Es ist dies keine Nebensache: Vee-Jay war das erste größere unabhängige Plattenlabel in den USA, das ganz im Besitz von Schwarzen war: Es gehörte dem Ehepaar Vivian Carter und James C. Bracken, das in Gary einen Plattenladen führte. Mit „Baby It’s You“ landeten die Spaniels auf Anhieb in den Top 10 der Rhythm & Blues-Charts. Im Frühjahr 1954 gelang mit „Goodnite Sweetheart, Goodnite“ auch noch der Sprung in die Pop-Top-30. In der Folge gehörten zum Repertoire von Vee-Jay nebst Doo-Wop auch Blues (Jimmy Reed, John Lee Hooker, Gene Allison etc.), Soul (Jerry Butler) und die Beatles (Capitol Records, die amerikanische Abteilung von EMI, hatte sich geweigert, mit den frühen Singles der Schreihälse aus Liverpool ihren respektablen Ruf zu ruinieren!). Michael Jackson nannte früh den Doo-Wop-Sänger Frankie Lymon als großes Vorbild, und zwar im positiven wie im abschreckenden Sinn. Lymon war erst dreizehn Jahre alt, als er mit seiner Gruppe The Teenagers und der Nummer „Why Do Fools Fall In Love“ in der Hitparade landete. Er zeigte also, dass eine junge Stimme nicht unbedingt Lieder mit Kinderthemen anstimmen musste, um Erfolg zu haben. Andererseits konnte Lymon mit dem Erfolg nicht umgehen. Er war erst 25 Jahre alt, aber bereits zum dritten Mal verheiratet, als er im Februar 1968 in Harlem, New York, an einer Überdosis Heroin verstarb.
Joe und Katherine Jackson verfolgten die popmusikalischen Entwicklungen so gut es eben ging mit ihren bescheidenen Mitteln. Das Paar hatte alle Hände voll zu tun damit, die rasant anwachsende Familie über die Runden zu bringen. Am 29. Mai 1950 kam die erste Tochter zur Welt – Maureen, alias Rebbie. Es folgten Sigmund Esco (genannt Jackie, 4. Mai 1951), Tariano Adaryl (Tito, 15. Oktober 1953), Jermaine LaJuane (11. Dezember 1954), LaToya Yvonne (29. Mai 1956), Marlon David (12. März 1957; ein Zwillingsbruder verstarb am Tag nach der Geburt), Michael (29. August 1958), Steven Randall (29. Oktober 1961) und schließlich noch Nesthäkchen Janet Dameta (16. Mai 1966). Joe verdiente sein Brot als Kranführer in den Stahlwerken und nahm zusätzlich Gelegenheitsjobs auf den Kartoffelfeldern und als Schweißer an. Wenn das Geld besonders knapp wurde, arbeitete Katherine im Kaufhaus Sears. Die Musik war eine Passion, mit der Joe und Katherine auch gewisse Hoffnungen verbanden. Katherine träumte davon, Sängerin zu werden. Joe formierte mit seinem Bruder Luther die Rhythm & Blues-Band The Falcons, um mit Auftritten in Lokalbars ein paar zusätzliche Cents in die Haushaltskasse zu bringen – und danach, wer weiß?
Zu ihrem Programm gehörten die druckvolleren Rhythm & Blues-Hits von Chuck Berry und Little Richard (was angesichts von Joes kapitaler Homophobie nicht einer gewissen Ironie entbehrt). Aber die Band war offenbar nicht imstande, das Interesse von Plattenlabels zu erwecken oder sich einen überregionalen Ruf zu schaffen. Wann genau Jackson die Falcons aufgab, ist unklar. Seine Söhne Jackie, Tito und Jermaine können sich alle noch daran erinnern, wie die Band in der Stube vom Bungalow an der Jackson Street geübt hat. Michael hat früher erklärt, er könne sich daran nicht erinnern, beschreibt diese Proben dann aber in seinen Memoiren („Moonwalk“, 1988), als ob er dabei gewesen wäre. So oder so ist das, was danach passierte, Stoff der Legende. Wenn der Vater nicht zu Hause war, sangen die kleinen Jacksons mit ihrer Mutter gern Volkslieder und Country & Western-Hits. Es gehöre zu seinen frühesten Erinnerungen, wie ihm Katherine das Leadbelly-Lied „Cotton Fields“ sowie „You Are My Sunshine“ vorgesungen habe, schreibt Michael. Man habe die Wahl gehabt, einer Gesangsgruppe beizutreten oder einer Straßen-Gang, hat Jackie Jackson berichtet. Die Jacksons wählten notgedrungen die erste Variante, denn so wie ihr Vater nicht hatte mit den Nachbarskindern spielen dürfen, gönnte er das Vergnügen wiederum auch seinem eigenem Nachwuchs nicht. Am Anfang bestand die „Gruppe“ aus Jackie, Tito und Jermaine. Tito riskierte jedes Mal Kopf und Kragen, wenn er Joes Gitarre aus dem Schrank holte. Diese nur schon zu berühren war den Kindern streng untersagt. Als Katherine es merkte, behielt sie das Geheimnis für sich. Sie habe gespürt, dass die Boys Talent hätten. Eines Tages riss eine Saite, niemand wusste, wie man sie ersetzte, und so war die Missetat nicht mehr zu vertuschen. Wie befürchtet setzte es gehörig Prügel. Tito verzog sich heulend auf sein Zimmer. Nach einer Weile sei Joe hereingekommen und habe ihm die Gitarre hingestreckt: „Dann zeig mal, was du kannst.“ Als auch noch Jackie und Jermaine hereinkamen und zu singen anfingen, änderte sich Joes Stimmung. Er erkannte, dass ihm bis dahin eine wichtige Seite seiner Familie verborgen geblieben war. Am nächsten Tag brachte er eine brandneue Gitarre nach Hause. Sie war feuerrot