Schärenmorde. Erik Eriksson

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Название Schärenmorde
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369105



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      Malin fragte, ob Vantanen an Bord gewesen sei, als das Schiff im Hafen lag.

      »Nein, der Kapitän hatte es eilig. Manchmal wird man noch zu etwas eingeladen, hier jedoch hieß es nur: Danke und Auf Wiedersehen.«

      Malin telefonierte weiter. Sie dachte, sie sollte sich einen Überblick über das Hafengelände verschaffen, und sie fand den Aufseher, der für den größten Silo verantwortlich war. Ob er sie wohl auf den Silo hinauflassen könne, wegen der Aussicht. Sie gab sich immer noch als Journalistin aus, die etwas über den Hafen schreiben wollte. Ja, das ginge wohl, ein Architekt wolle gegen zwei auf den Silo hinauf, sie könne ja mitgehen.

      Der Architekt war ein rothaariger Mann in den Sechzigern. Er hatte eigene Schlüssel für die alten Getreidelager im Hafen, da sein Büro mit den Entwürfen für die geplanten Umbauten in der Gegend zu tun hatte. Jetzt wollte er in dem höchsten Silo ein paar Fotos machen.

      Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf und stiegen im sechsten Stock aus. Der Architekt erklärte Malin, wie er sich die Wohnungen auf den erstaunlich geräumigen Flächen vorstellte. Die Wände, das Dach und die Stützflächen waren aus grauem Beton, dazwischen verliefen starke Rohre, durch die das Getreide geschüttet worden war. Malin sah sich um und der Architekt begann zu fotografieren. Er würde wohl noch eine Weile bleiben.

      »Ich gehe ein Stockwerk höher«, sagte Malin.

      »Sei vorsichtig«, sagte der Architekt.

      Malin wählte die enge Spiraltreppe, die sich neben dem Fahrstuhl nach oben ringelte. Sie stieg hinauf, blieb ab und an stehen, ging weiter und war bald oben an der Dachluke. Sie schob sie auf und kletterte auf das flache Dach hinaus. Unter ihr lagen die Stadt Norrtälje, der Fluss, die Bucht. Sie konnte in die Hinterhöfe sehen und in die Gassen. Die Menschen waren winzig, die Autos klein wie Spielzeuge.

      Sie griff an das Geländer. Es war fest und sie lehnte sich darüber. Sechzig Meter unter ihr lag der Kai, wo Lars Gustavsson umgebracht worden war. Was immer er mitbekommen haben mag, es musste sich in unmittelbarer Umgebung des Tatorts befunden haben.

      Da hörte sie ein Geräusch von der Dachluke her und dachte, dass es der Architekt sei, der heraufkam. Der Ärmel, der zuerst durch die Lukenöffnung sichtbar wurde, war jedoch nicht der Ärmel des Architekten. Der Kopf, der folgte, gehörte zu dem jungen Mann mit den kurzen Haaren und der kräftigen Statur. Er war schnell oben auf dem Dach und machte ein paar Schritte auf Malin zu. Sie lief am Rand entlang, umfasste mit beiden Händen das Eisengitter und schwang sich hinüber.

      Ein junger Mann und eine ebenso junge Frau spazierten unten am Kai entlang, direkt unterhalb des Silos. Keiner von den beiden sah in diesem Augenblick nach oben. Ein Lastwagen hielt, der Fahrer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Auch er blickte nicht zum Silo hinauf.

      Wenn sie nach oben geblickt hätten, hätten sie dort eine hastige Bewegung bemerkt. Aber da sie nichts Ungewöhnliches hörten, blickten sie stattdessen hinaus über den Hafen.

      Das Lüftungsrohr war etwas rostig; es war mit Eisenklammern an der Betonwand befestigt. Auf der Außenseite des Rohrs befand sich eine Reihe Steigeisen, die ein Stück herausragten. Malin schwang sich über die Brüstung. Sie hielt sich fest, schwankte hin und her, drehte sich, ließ los und konnte unten die Stadt sehen, das Wasser, den Kai. Für einen kurzen Augenblick befand sie sich in freiem Fall.

      Sie streckte den rechten Arm aus, schob die Schulter so weit wie möglich vor, spreizte die Finger, schlug gegen eine der Eisenstangen der Treppe, riss sich den Arm auf. Aber sie konnte sich an der nächsten Eisenstange festhalten, ihr Körper drückte sich gegen das Rohr, sie konnte sich jetzt auch mit der anderen Hand festhalten.

      Als sie auf das zehn Meter weiter unten hervorstehende kleine Dach hinunterkletterte, warf sie einen Blick nach oben und sah den Kurzhaarigen. Er beugte sich vor, folgte ihr jedoch nicht.

      Der Architekt befand sich noch im sechsten Stock, als Malin dorthin zurückkehrte. Er sagte, dass der Fahrstuhl gerade vorbeigefahren sei und er geglaubt hatte, sie sei es.

      »Nein, das war jemand anders«, antwortete sie.

      »Im Augenblick scheinen sich ja viele für dieses Gebäude zu interessieren«, meinte der Architekt. Sie holten den Fahrstuhl herauf, warteten schweigend und fuhren zusammen hinunter. Als Malin hinaus auf die Straße trat, rief sie Fatima an.

      7

      Auf dem Türschild stand Kurt Karlsson und ein weiterer Name, aber der Mann in der Wohnung am Simpbylevägen war allgemein als Wonner bekannt. Seine Haare waren genauso dunkel wie der Anzug, den er trug. Und fast noch dunkler war seine Augenfarbe. Es funktionierte ausgezeichnet, wenn er sein Lächeln aufsetzte und sich in kultivierten Kreisen aufhielt. Besonders Frauen waren von seinem Aussehen und seinem Charme beeindruckt.

      Jetzt warf er einen Blick auf seine Uhr und ging hinaus.

      Fatima befand sich auf dem Heimweg von ihrer morgendlichen Trainingsrunde in Richtung Långgarn. Sie begann allmählich müde zu werden, während ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinablief, hielt jedoch das Tempo bei. Aus diesem Grunde konnte sie nur knapp ausweichen, als ein Mann mit langen Schritten auf den Simpbylevägen hinaustrat. In dem Augenblick, in dem sie auswich, hörte sie ihn etwas sagen, was wie ein freundliches »asta rochno« klang.

      Als Fatima gerade unter die Dusche steigen wollte, klingelte das Telefon. Es war Malin: »Wir müssen uns treffen.«

      Es dauerte drei Tage, ehe das Treffen zwischen den beiden Freundinnen zustande kam. Wenn Fatima frei hatte, musste Malin arbeiten und umgekehrt. Jetzt saßen sie an einem Ecktisch in einem Café in Finsta. Aus irgendeinem Grund hatten sie es für besser befunden, sich irgendwo außerhalb von Norrtälje zu treffen. Fatima begann damit, sich zu entschuldigen.

      »In der letzten Woche gab es furchtbar viel zu tun, von dem Augenblick an, als wir Lars im Hafenbecken gefunden haben. Während der letzten Tage sind alle, die vom regulären Dienst abgezogen werden konnten, für die Suche nach einem verschwundenen Rentner eingeteilt worden. Trotzdem haben wir bis jetzt nur sein Auto und eine Thermoskanne gefunden, die ihm vermutlich auch gehört.«

      »Wo hat die denn gelegen?«, fragte Malin, die nach jedem Strohhalm griff. Dann erzählte sie selbst ausführlich, was ihr auf dem Dach des Silos zugestoßen war, und sie sprachen lange über den Abend im Theater.

      »Was passiert denn nun?«, fragte Malin. Sie sah Fatima an und dachte: Bin ich denn die Einzige auf der Welt, die Robert immer noch für unschuldig hält? Sowohl sie als auch Fatima waren im Gerichtsgebäude gewesen, als die Verhandlung wegen der Untersuchungshaft stattfand. Fatima als begleitende Polizistin und sie selbst als Angehörige. Malin erfuhr nicht, was besprochen wurde, da der Staatsanwalt darauf bestand, dass die Verhandlung hinter verschlossenen Türen stattfand. Sie wusste nur, dass Robert auf Grund überzeugender Indizien unter Mordverdacht stand. Es war unfassbar.

      Sie saß immer noch da und betrachtete Fatima. Versuchte, die Stärke ihrer freundschaftlichen Verbundenheit auszuloten und stellte die Frage: »Ich weiß, dass er unschuldig ist, was weiß die Polizei, was weißt du?«

      »Das wird schwierig werden«, sagte Fatima.

      Malin zischte: »Was heißt denn schwierig! Glaubst du, dass er unschuldig ist, oder nicht?«

      Fatima wollte nicht antworten, sie wollte nichts erzählen. Sie versuchte zuversichtlich auszusehen, als sie Malin ansah. Aber sie merkte, dass das nicht reichte. Malin war ihre beste Freundin und ihre Stütze gewesen, immer wenn sie jemanden gebraucht hatte. Jetzt waren die Rollen vertauscht. Sollte sie sich da hinter ihrem Beruf verstecken, sollte sie Sachen sagen wie »Schweigepflicht während der Voruntersuchung«, sollte sie sagen, dass sie ihre Stelle verlieren könnte? Nein, dachte sie, es gibt etwas, das über alles andere geht, etwas, das die Menschen dazu bringen kann, allen Ängsten, Gesetzen, Verordnungen oder was auch immer zu trotzen, denn sie wissen, dass das Wichtigste schlicht und einfach die reine Menschlichkeit ist. Ohne diese und ohne mutige Menschen, die gewagt hatten, sich vorhandenen Systemen entgegenzustellen, wäre es ihrer Familie niemals gelungen, nach Schweden zu gelangen. Fatima wusste, dass