Название | Im Gespräch mit Morrissey |
---|---|
Автор произведения | Len Brown |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783854454878 |
Wir unterhielten uns weiter über Wilde im Zusammenhang mit einer Parisreise, die ich im Auftrag des NME unternommen hatte, um dort ein Interview mit dem rebellischen südafrikanischen Musiker Johnny Clegg zu führen. Nach meinem Treffen mit Clegg beschloss ich, Oscar Wildes letzte Ruhestätte auf dem nahe gelegenen Friedhof Père Lachaise aufzusuchen.
Inzwischen wusste ich einige Einzelheiten über Wildes Einfluss auf Morrisseys künstlerische Entwicklung. Nicht nur, weil ich die frühen Interviews oder mein Gespräch mit ihm im Cadogan Hotel inzwischen verarbeitet hatte, sondern auch durch andere offensichtliche Hinweise: Smiths-Stücke wie „Oscillate Wildly“ und „Paint A Vulgar Picture“, das Sample „everyone’s clever nowadays (Heutzutage sind alle schlau)“ (von John Gielgud aus The Importance Of Being Earnest – Ernst sein ist alles) am Schluss von „Rubber Ring„; das Sarony-Portrait von Oscar auf den roten Backsteinwänden von Salford im Video zu „Stop Me If You’ve Heard This One Before“, die Wilde’schen Schlussrillen wie „Talent Borrows Genius Steals (der Talentierte borgt, ein Genie stiehlt)“ auf The Queen Is Dead oder die Verherrlichung Wildes in dem falsch geschriebenen „Cemetry Gates“: „Also gehen wir hinein und lesen traurig die Inschriften; all diese Leute, all diese Leben, wo sind sie jetzt?“
Es war ein grauer Tag für die Besucher des Friedhofs Père Lachaise, der letzten Ruhestätte bedeutender Franzosen wie Piaf, Proust, Molière, Modigliani oder des kopflosen Danton. Die wahren Attraktionen jedoch waren die ewigen Touristen dieses schönen Gottesackers – internationale Megastars wie Chopin, Gertrude Stein, Jim Morrison und Oscar Wilde.
Doors-Fanatikern dürfte der schlimme Zustand von Jim Morrisons Grab bekannt sein. Die Anwesenheit seiner ledernen Überreste hatte die Friedhofsverwaltung lange Zeit irritiert und in Verlegenheit gebracht; sie tilgten sogar seinen Namen aus den Friedhofskarten, um die Zahl der Hippie-Pilger zu reduzieren.
Gerüchten zufolge soll man nach dem Ende seiner Grabpacht versucht haben, Jims störende Knochen umzubetten. Trotzdem kamen sie immer noch, saßen mit feuchten Augen auf den umliegenden Tafeln, legten Kränze nieder, erneuerten die Rosen in der unverzichtbaren Flasche Tequila. Jims Büste war gestohlen worden, der nicht weiter gekennzeichnete Grabstein lag vornübergekippt im Dreck, und irgendein Idiot hatte darauf gekritzelt: „This is the end, beautiful friend (das ist das Ende, mein schöner Freund)“! Ein trauriges, schäbiges Szenario.
Dann gingen wir weiter zu Wildes gewaltiger Gedenkstätte, einem Werk des bekannten Bildhauers Jacob Epstein. Niemand, so versicherte ich mir, hätte es gewagt, Oscar Wildes Grab zu schänden.
Aber was war das? Da stand in deutlich lesbaren Buchstaben eingeritzt: „There is a light that will never go out (Es gibt ein Licht, das niemals verlöschen wird)“!?! „Keats and Yeats are on your side/While Wilde is on mine“!?! (Keats und Yeats sind auf deiner Seite/doch Wilde liegt auf meiner)“!?!
Wie weit war es mit der Welt bloß gekommen. Chopin-Groupies schrieben ja auch nicht in pianistischer Bewunderung „Du warst der Top of the Chops, Freddie“ auf dessen Grab. Und Fans von Edith Piaf ritzten auch nicht „Du bist nicht zu bedauern“ auf ihren Grabstein!
Wie konnte ein Smiths-Fan, der halbwegs bei Verstand war, so etwas tun? Morrissey würde so etwas nicht gefallen, oder?
Morrissey: „Die Schmierereien?“
Haben Sie sie gesehen?
„Nein, aber meine Mutter besuchte das Grab in diesem Jahr und fiel fast um vor Schreck und Stolz darüber, was geschehen war. Ich muss allerdings zugeben, dass es auch vorher nicht ganz makellos war.“
Sind Sie nicht schockiert?
„Im Gegenteil, ich fühle mich sehr geschmeichelt. Es ist mir egal, dass das Grab geschändet wurde und so weiter, weil es kein besonders schönes Grab ist. Es ist eigentlich nur ein großer Klotz.“
Aber es ist ein Epstein!
„Jaaaa … was genau steht darauf?“
Naja, zum Beispiel: „There is a light that never goes out …“
„Das ist doch toll!“
Und jemand anders hat geschrieben „Ich liebe Morrissey“ und „Es lebe Manchester“.
„Ach, das hätten sie nicht tun sollen, Len.“
Aber es wäre doch entsetzlich für Sie, mit anzusehen, wie Wildes Grab ähnlich verkommt wie das von Jim Morrison, oder?
„Nein, das wäre es nicht. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal Bilder von Patti Smith an Jim Morrisons Grab gesehen habe, aber es hat mir nie etwas bedeutet, diese ganze Doors- und Morrison-Geschichte. Mit Sicherheit ein ganz anderer Mensch als Oscar.“
Die Grabschänder lässt Morrissey also ungestraft, aber was hielt die Welt der hehren Kunst von den Kritzeleien auf Epsteins Meisterwerk?
„Wollen Sie damit etwa sagen, dass tatsächlich jemand Smiths-Texte auf das Grab gekritzelt hat?“, rief Simon Wilson von der Tate Gallery aus, die führende Autorität in Sachen Wilde und Epstein. „Das Grab ist ein außergewöhnliches Kunstwerk, und daher finde ich, dass man sämtliche Schmierereien auf dem Ding eigentlich verurteilen sollte. Andererseits gefällt mir der Gedanke ganz gut, dass jemand die Welt der ernsthaften Rockmusik ernsthaft mit Wilde in Zusammenhang setzt. Ich würde Morrissey zustimmen, dass Wilde das möglicherweise interessant gefunden hätte.“
Wilson, der im Besitz zweier von Epsteins Originalskizzen für das Grabmal war, wies darauf hin, dass Wildes Grab – wie der Tote selbst – eine umstrittene und wechselhafte Vergangenheit hatte.
„Die Friedhofsleitung bestand bereits kurz nach der Errichtung im Jahre 1909 darauf, dass ein Feigenblatt angebracht wurde. Das wurde später entfernt. In den Fünfzigern kam es zu erneuten Fällen von Vandalismus, als die Genitalien größtenteils abgeschlagen wurden. Es gibt zahlreiche Theorien darüber, wer die Täter waren, und wir versuchten, etwas über den Verbleib der Bruchstücke zu erfahren. Offensichtlich wurden sie anfangs vom Friedhofsaufseher selbst als Briefbeschwerer benutzt. Ja … er benutzte Oscars Eier als Briefbeschwerer!“
Eier oder nicht – jedenfalls fand Oscar nicht besonders viel Frieden, nachdem er am 30. November 1900 sein Leben ausgehaucht hatte. Er wurde zunächst in Bagneux beigesetzt und später exhumiert und auf den Père Lachaise umgebettet, wo er 1909 unter Epsteins umstrittenem Grabmal begraben wurde. Seitdem gibt jedes Theaterstück und jede überlieferte Erklärung Anlass zu neuen Spekulationen, und es zieht auch weiterhin Scharen von Besuchern zu seiner letzten Ruhestätte in Paris.
Auf seinem Grab steht ein Auszug aus The Ballad Of Reading Gaol geschrieben: „Die um ihn trauern werden Außenseiter sein/Und Außenseiter trauern immer.“
Also fragte ich den Außenseiter Morrissey aus Manchester, ob er sich nicht in irgendeiner Form für die Schändung von Wildes Grab verantwortlich fühle.
„Ich finde, es ist eine große Ehrbezeugung für Oscar, aber ebenso für die Smiths und für mich. Ich finde, wenn irgendjemand das Bedürfnis verspürt, etwas Lustiges auf einen Grabstein zu schreiben, dann ist das ein großes Kompliment für den, der darunter liegt. Ich meine, wie viele Leute werden denn einmal etwas auf Ihr Grab schreiben?“
Wahrscheinlich wird jemand darauf urinieren.
„Wenn Sie großes, großes Glück haben.“
1 Nur wenige von Wildes Zeitgenossen kritisierten dessen harte Bestrafung. In The Review Of Reviews vom Juni 1895 prangerte W.T. Stead jedoch die viktorianische Doppelmoral an: „Hätte Oscar Wilde, statt sich unzüchtigen Vertraulichkeiten mit Jungen und Männern hinzugeben, die Leben eines halben Dutzends leichtgläubiger Mädchen ruiniert oder hätte er die Familie eines Freundes durch ein Verhältnis mit dessen Frau zerstört, hätte niemand mit dem Finger auf ihn gezeigt. Der Mann ist sakrosankt; die Frau ist Freiwild.“