Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

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Название Der Himmel über Nirvana
Автор произведения Charles R Cross
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454243



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aus, als er noch klein war“, erinnerte sich Kim, „aber aus Kurt wurde einfach nicht das, was Dad sich von seinem Sohn erwartet hatte.“

      Sowohl Don als auch Wendy sahen sich mit diesem Konflikt zwischen dem idealisierten und dem realen Kind konfrontiert. Beide hatten aus ihrer eigenen Kindheit ungestillte Bedürfnisse, und Kurts Geburt brachte all ihre persönlichen Erwartungen zum Vorschein. Don wollte die Vater-Sohn-Beziehung, die er mit Leland nie gehabt hatte, und dachte, wenn sie zusammen Sport trieben, würde sich diese Bindung schon einstellen. Und obwohl Kurt durchaus Spaß am Sport hatte – vor allem, wenn sein Vater nicht dabei war –, verband er intuitiv die Liebe seines Vaters damit, und das sollte ihn fürs Leben zeichnen. Seine Reaktion war mitzumachen, aber unter Protest.

      Als Kurt in der zweiten Klasse war, kamen seine Eltern und Lehrer darauf, seine rastlose Energie könne womöglich einen krankhaften Hintergrund haben. Kurts Kinderarzt wurde zurate gezogen und in der Folge darauf geachtet, dass Kurt die Lebensmittelfarbe Red Dye Number Two nicht mehr bekam. Als keine Besserung eintrat, schränkten seine Eltern auch die Zuckerzufuhr ein. Schließlich verschrieb der Arzt Ritalin, das Kurt über drei Monate hinweg einnahm. „Er war hyperaktiv“, erzählte Kim. „Er sprang durch die Gegend wie ein Gummi­ball, vor allem, wenn man ihm Zucker gab.“

      Andere Verwandte vermuten, Kurt habe womöglich an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität (ADHS; der deutsche Struwwelpeter ist eine Darstellung dieser Störung) gelitten. Mari erinnerte sich, wie sie einmal bei einem Besuch bei den Cobains Kurt mit einer Trommel durchs Viertel laufen und aus vollem Hals schreien sah. Mari ging ins Haus und fragte ihre Schwester: „Was in aller Welt macht der Junge denn da?“ – „Keine Ahnung“, antwortete Wendy, „ich weiß wirklich nicht mehr, was ich noch mit ihm anstellen soll – ich habe schon alles versucht.“ Wendy beruhigte sich damals damit, Kurt würde so einfach die überschüssigen Energien abreagieren, die man als Junge eben so hat.

      Die Entscheidung, Kurt Ritalin zu verschreiben, war selbst 1974 umstritten, da einige Wissenschaftler argumentierten, das Medikament könne bei Kindern zu einer Pawlow’schen Reaktion führen und die Suchtanfälligkeit im späte­ren Leben erhöhen. Andere wiederum sind der Ansicht, wenn man hyper­aktive Kinder nicht behandle, würden sie später womöglich eine Art Selbstmedikation mithilfe von Drogen versuchen. Jeder in der Familie hatte eine andere Ansicht bezüglich Kurts Diagnose und ob ihm die kurze Behandlung eher geholfen oder geschadet hat; Kurts eigener Ansicht nach jedoch war das Medikament, wie er Courtney Love später erzählte, durchaus von einschneidender Bedeutung. Love, die als Kind selbst Ritalin bekommen hatte, sagte, sie habe das Thema oft mit ihm diskutiert. „Wenn man als Kind ein Medikament bekommt, das einem bestimmte Gefühle verschafft, wo wird man dann wohl als Erwachsener Hilfe suchen?“, fragte Love. „Dieses Mittel versetzte einen als Kind in Euphorie – wie sollte so eine Erinnerung nicht bei einem hängen bleiben?“

      Im Februar 1976, nur eine Woche nach Kurts neuntem Geburtstag, ließ Wendy Don wissen, sie wolle die Scheidung. Es war ein Abend mitten unter der Woche, Wendy machte ihre Ankündigung und raste in ihrem Camaro davon – und überließ es Don, die Sache den Kindern beizubringen, etwas, worin er von Haus aus nicht gut war. Obwohl Dons und Wendys Eheprobleme sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1974 noch einmal verschärft hatten, kam Wendys Erklärung für Don doch überraschend, von der übrigen Familie ganz zu schweigen. Don weigerte sich einfach, es zu glauben, und verkroch sich in sich selbst, ein Verhalten, das auch bei seinem Sohn später in Krisenzeiten zu beobachten sein sollte. Wendy war von jeher eine starke Persönlichkeit und neigte zu Zornausbrüchen, trotzdem war Don schockiert darüber, dass sie tatsächlich die Familie auseinander brechen wollte. In der Hauptsache warf sie ihm vor, sich fast nur noch für seinen Sport zu interes­sieren – er spielte gleich in mehreren Mannschaften und war mittlerweile Schiedsrichter und Coach. „Ich glaubte einfach nicht, dass es wirklich dazu kommen würde“, sagte Don später. „Scheidungen waren damals noch nicht so an der Tagesordnung wie heute. Ich wollte auch gar keine. Sie wollte – sie wollte einfach raus.“

      Am 1. März zog Don aus und nahm sich ein Zimmer in Hoquiam. Er erwartete, Wendys Zorn würde sich wieder legen und ihre Ehe gerettet, darum mietete er sich jeweils für eine Woche ein. Für Don machte die Familie ein gut Teil seiner Identität aus, in seiner Rolle als Vater fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben gebraucht. „Beim bloßen Gedanken an Scheidung war er am Boden zerstört“, erinnerte sich Stan Targus, Dons bester Freund. Die Trennung war umso komplizierter, als Wendys Familie Don über alles gern hatte, vor allem ihre Schwester Janis und deren Mann Clark, die ganz in der Nähe der Cobains wohnten. Einige von Wendys Geschwistern fragten sich insgeheim, wie sie ohne Don finanziell durchkommen sollte.

      Am 29. März bekam Don eine Vorladung und einen Scheidungsantrag zugestellt. Ein ganzer Schwung juristischer Dokument sollte noch folgen; Don reagierte nicht auf alle davon – wider besseres Wissen in der Hoffnung, Wendy würde es sich noch einmal überlegen. Am 9. Juli wurde er beschuldigt, seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen zu sein und nicht auf Wendys Anträge reagiert zu haben. Noch am selben Tag kam es zu einer endgültigen Regelung, die Wendy das Haus zusprach; Don sollten sechstausendfünfhundert Dollar zustehen, sollte Wendy das Haus verkaufen oder wieder heiraten, andernfalls fällig an Kims achtzehntem Geburtstag. Don bekam seinen Ford-Pickup, einen Halbtonner, Baujahr 1965; Wendy durfte den Achtundsechziger-Camaro der Familie behalten.

      Das Sorgerecht für die beiden Kinder ging an Wendy, aber Don sollte monatlich pro Kind einhundertfünfzig Dollar Unterhalt zahlen und auch sämtliche Arztkosten für die Kinder tragen. Dafür sprach man ihm Besuchsrecht in einem „vernünftigen Umfang“ zu. Wir sprechen hier von einem Kleinstadt­gericht in den Siebzigerjahren, die Einzelheiten des Besuchsrechts wurden nicht ausdrücklich geregelt, und überhaupt war das Arrangement eher informeller Natur. Don zog zu seinen Eltern in deren Trailer in Montesano. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass Wendy es sich noch einmal überlegen würde, nicht einmal, nachdem die letzten Papiere unterschrieben waren.

      Wendy jedoch dachte nicht im Traum daran. Wenn sie mit etwas abgeschlossen hatte, dann interessierte sie das nicht mehr, und nichts hätte sie weniger interessieren können als Don. Es dauerte nicht lange, und sie begann ein Verhältnis mit Frank Franich, einem gut aussehenden Hafenarbeiter, der doppelt so viel verdiente wie Don. Auch Franich neigte zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen, und nichts machte Wendy mehr Freude, als dieses Gift gegen Don spritzen zu sehen. Als Dons neuer Führerschein versehentlich an seine alte Adresse geschickt wurde, öffnete jemand die Sendung, rieb Kot auf Dons Passbild, klebte den Umschlag wieder zu und schickte ihn weiter an Don. Dies war keine Scheidung, sondern ein Krieg – ein Krieg, der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde.

      Für Kurt kam das alles einem emotionalen Super-GAU gleich – kein anderes Ereignis in seinem Leben hatte mehr Einfluss auf die Prägung seiner Persönlichkeit. Wie viele andere Scheidungskinder auch verinnerlichte er die Trennung seiner Eltern. Da er die Tiefe der Kluft zwischen ihnen nicht hatte ahnen können, verstand er auch den Grund für die Scheidung nicht. „Er dachte, es wäre alles seine Schuld“, erzählte Mari. „Für Kurt war das ein Trauma, weil sich alles, worauf er vertraut hatte – seine Sicherheit, seine Familie –, vor seinen Augen auflöste.“ Anstatt seinen Ängsten Luft zu machen, verkroch Kurt sich in sich selbst. In jenem Juni schrieb er an die Wand seines Schlafzimmers: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad. Dad hasst Mom, Mom hasst Dad. Man möchte einfach nur noch ganz traurig sein.“ Dies hier war ein Junge, der als Kleinkind seiner Familie so eng verbunden war, dass er gegen den Schlaf ankämpfte, wie Mari in ihrem Aufsatz sieben Jahre zuvor geschrieben hatte, weil „er sie nicht verlassen“ wollte. Jetzt – ohne dass er etwas dafürgekonnt hätte – hatten sie ihn verlassen. Iris Cobain bezeichnete 1976 einmal als „Kurts Jahr im Fegefeuer“.

      Auch physisch machte Kurt die Scheidung zu schaffen. Mari erinnert sich daran, dass Kurt während dieser Zeit einmal ins Krankenhaus musste; sie hatte von ihrer Mutter gehört, dass er nicht richtig aß. „Ich weiß noch, dass Kurt wegen Unterernährung ins Krankenhaus musste, als er zehn war“, sagte sie. Kurt erzählte seinen Freunde, er müsse Barium trinken und sich den Bauch röntgen lassen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass das, was man damals für Unterernährung hielt, das erste Symptom der Magenstörung war, die ihm später zu schaffen machen sollte. Seine Mutter hatte mit