Krawattennazis. Peter Langer

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Название Krawattennazis
Автор произведения Peter Langer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672870



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Mannes war glatt weggesprengt, die entspannten Gesichtszüge schienen auf einen tiefen Seelenfrieden hinzudeuten. Der Mann musste sofort tot gewesen sein. „Jürgen, gibt es schon irgendeine Vermutung zur Tatwaffe? Was richtet so etwas an?“, flüsterte Emde und deutete auf die Blut- und Hirnmassespuren. Meistermann sah ihn an, kratze sich hinter dem Ohr und wog seine Antwort ab. „Da wollte jemand ganz sichergehen, schätze ich. Möglicherweise ein automatisches Sturmgewehr mit den entsprechenden Visierausstattungen für einen Präzisionsschuss. Ein belgisches FN, so etwas. Oder auch unser G36. Dann hast du noch einen zweiten schnellen Schuss, wenn der erste nicht sitzt. Es kann aber auch eine handelsübliche Jagdflinte gewesen sein. Auch damit kann ein guter Schütze diese Distanz überwinden. Allerdings müsste jemand einen Knall gehört haben, egal ob mit oder ohne Schalldämpfer. Normalerweise gibt es bei solchen Waffen einen scharfen Überschallknall, der lauter ist als der Mündungsknall. Ein Profi lässt den Schalldämpfer dann gleich weg und steckt sich Stöpsel in die Ohren.“ Emde pfiff leise durch die Lippen, auch angesichts der präzisen waffentechnischen Kenntnisse Meistermanns. Donnerwetter! Nicht unbedingt etwas für Sportschützen. Wer auf diese Weise aus der Distanz auf Menschen schoss, hat es in der Regel bei irgendwelchen Streitkräften gelernt. Hat auf den wirklich allerbesten Augenblick gewartet. Vielleicht sogar über Stunden Lieberknecht beobachtet. Und dann mit unglaublich ruhiger Hand abgedrückt. Gleichzeitig musste der Schütze aber auch damit rechnen, selbst gesehen und möglicherweise beschossen zu werden. Immerhin war Lieberknecht bewaffnet und hatte sich für die Pirsch mit einem Feldstecher ausgestattet. Und Emde konnte zwei und zwei zusammenrechnen, dass der alte Jäger keine Sekunde gefackelt hätte. Wie reagierst du, wenn du bei einem Rundblick durch dein Fernglas plötzlich siehst, dass eine Waffe auf dich gerichtet ist? Der Täter musste gewusst haben, wie er sich gut tarnt, wie er unsichtbar bleibt, bis er seinen Job erfüllt hatte. Seiner Meinung nach schieden damit auch die Jagdfreunde des Bankiers aus.

      Emde wies auf die Baumreihe und den dunklen Wald dahinter. „Hat sich dort schon jemand umgesehen?“ Meistermann nickte. „Ohne Erfolg. Wir waren aber nur zu viert. Wir müssten eine Hundertschaft anfordern, die jeden Meter Waldboden nach Spuren durchsucht. Nadelholzboden mit feuchtem Untergrund ist so ziemlich das mieseste Terrain, das man durchsuchen kann, wenn du mich fragst. Durch die Elastizität der kaum verrottenden Nadeln gibt es, wenn überhaupt, nur wenig Spuren.“ Der Hauptkommissar wandte sich an den offenbar ranghöchsten uniformierten Polizisten, der während der ganzen Zeit wie ein gutmütiger Geist in einigem Abstand gefolgt war. Es war der Mann, den er zu Beginn angebellt hatte. „Leiten Sie das in die Wege?“ Ein weiteres Nicken. In Kürze würden zwei oder drei blau-silberne Kleinbusse durch Heringhausen und den Feldweg hinauffahren. Spätestens dann wäre auch die Presse hier.

      Presse. Der Gedanke war gedacht. Emde zog sein privates Handy aus der Innentasche seiner Wachsjacke. Dann fiel ihm noch etwas ein. Er hielt es so, dass der Chef der Spurensicherung es sehen konnte. „Hatte er auch ein Handy bei sich?“ Meistermann nickte und drehte sich mit fragendem Blick um, entdeckte dann den gesuchten Kollegen. „Jan, wo ist sein Kommunikationsknochen?“, fragte er einen seiner Mitarbeiter, der sich gleich darauf über eine Plastikwanne beugte, in der bereits mehrere Umschläge mit Klarsichthüllen lagen. Schließlich zog er eine Umhüllung heraus, in der sich ein Smartphone befand. Emde nickte zufrieden. „Ich möchte, dass ihr das Ding rasch den Technikern gebt, wenn ihr alles untersucht habt. Wir müssen wissen, mit wem er wann zuletzt gesprochen hat.“ Der Ermittler schaute wieder auf sein eigenes Telefon. Auch wenn er die Nummer abgespeichert hatte, tippte er sie immer wieder von Hand in die Tastatur. Er konnte sich die Telefonnummer von Paul Kleine gut merken. Gewohnheit ist ein zähes Biest. Emde setzte sich einige Meter von den restlichen anwesenden Personen ab. Musste ja nicht jeder wissen, was er da gerade zu telefonieren hatte. Es dauerte lange Sekunden, bis sich am anderen Ende eine gereizte Stimme meldete. Er hat wieder schlecht geschlafen, dachte Emde. Dennoch kam er direkt zur Sache. „Ein Mordfall. Toter Bankvorstand in einem Hochsitz oberhalb von Heringhausen, einige Hundert Meter vor dem Waldrand zum Eisenberg hoch. Lieberknecht, der Anteilseigner von Prospersoil. Dir sicher auch bekannt. Kannst du zur Not bei deinen Kollegen vom Lokalfunk den Adrenalinschwamm spielen?“

      Es dauerte einen Augenblick, bis die Stimme am anderen Ende der Verbindung antwortete. „Wissen die schon etwas?“ „Noch scheinbar nicht. Aber der ganze Trachtenverein ist mit Musik und Blaulicht hier hinaufgezogen. Die Leiche wird gerade abtransportiert und in Kürze durchpflügt eine Suchmannschaft den Waldboden zum Hang hinauf. Kannste die Uhr nach stellen, bis einer auf die Idee kommt, beim Hessischen Rundfunk, einer Radiostation oder der Lokalpresse anzurufen.“

      Emde verschwieg seine Vermutung, dass es sich um das Werk eines Profis handelte. Kleine würde noch früh genug darauf kommen. Paul Kleine am anderen Ende der Verbindung fuhr sich mit der Hand durch die vollen braunen Haare. Er war Journalist, vor zwei Jahren an den Diemelsee gezogen. Stefan Emde und er kannten sich bereits, seit sie Kinder waren. Schon damals wollte Emde Polizist werden – und Kleine zur Presse. Doch inzwischen hatte Kleine mit dem Medientrubel in seiner Heimatstadt Düsseldorf und dem permanenten Run auf die ultimative Nachricht endgültig gebrochen. Dieser ganze Zirkus der Eitelkeiten hatte ihn zuletzt nur noch angewidert. Seitdem fühlte er sich in seiner Holzhütte wohl und genoss die Ruhe – mit dem einen oder anderen kleinen Auftrag der regionalen Tageszeitungen, damit er über die Runden kam. Emde und er waren fast ein Jahrgang, da war es sicherlich noch viel zu früh für den Rückzug in eine Art selbstdefinierten Ruhestand. Doch das war Kleine egal. Was er verdiente, reichte – kombiniert mit einigen Rücklagen aus früheren Zeiten – für ein bescheidenes Auskommen. Der Journalist war mit sich im Reinen und fühlte sich wohl. Meistens jedenfalls, wenn ihn nicht die Vergangenheit durch die Nacht jagte.

      Die enthirnten Jinglesprüche der üblicherweise in dieser Region gerne gehörten und eigentlich ansonsten ganz passablen Privatsender kamen ihm in den Sinn: Die besten Hits und neuesten Nachrichten! Sie hören Radio Nordhessen! Kaum vorzustellen, wie die Nachricht dort verbreitet werden würde: ‚Leute, echt Mega, was da gerade am Diemelsee abgegangen ist! Das ist der Hammer! Aber vorher noch den neuesten Hit von …‘ Er schaltete seinen Tablet-PC ein, dieser signalisierte seine Betriebsbereitschaft mit einem freudigen Fünfklang. Für 11 Uhr stand das Richtfest eines neuen Flügels der Seniorenresidenz in Bad Arolsen im Terminkalender. Die Organisatoren hatten es in ein nettes Erntedankfest mit Gottesdienst und Einsegnung verpackt. Er ahnte bereits, was ihm und allen geladenen Ehrengästen blühte. Bürgermeister Kalkhöfer würde Tränen der Freude vergießen angesichts der Abermillionen, die ein bundesweit agierender Pflegedienstleister für moderne Seniorenbetreuung in den neuen Gebäudeteil investiert hatte. Kleine schnaubte. Familien brachen auseinander, weil die Anforderungen von Beruf und eigener Karriereplanung nicht mehr kompatibel mit der Verwirklichung von Familienleben sind. Stattdessen werden Oma und Opa von einer Maschine gepflegt, wurden die Alten zur Last. Und sollte nicht heute tatsächlich ein Bespaßungsroboter vorgestellt werden, der mit leichtem Surren über die Gänge eilen, hundert Gesichter und die dazugehörenden Biografien voneinander unterscheiden und bei Bedarf die Vitalfunktionen überprüfen können sollte? Robbi, Tobbi und der Fliewatod! Nun gut, er würde schon die richtigen Worte finden und für die Lokalredaktion der Landeszeitung einen schönen Bericht schreiben.

      Eine Stimme aus seinem Handy unterbrach seinen Gedankengang. „Bist du eigentlich noch da?“ Richtig, am anderen Ende wartete Emde auf eine Antwort. „Ich bin ab halb elf in Richtung Arolsen unterwegs. Vorher klingele ich bei einigen Vertrauensleuten mal durch, ob irgendetwas durchgesickert ist. Rückmeldung bekommst du dann sofort. Ich melde mich später.“ Kleine beendete das Gespräch ohne weitere Worte und holte tief Luft. Ein Sonntagmorgen kann eben auch mal so ruppig sein.

      Emde auf der Wiese oberhalb des Diemelsees atmete ebenfalls durch. Er würde demnächst abends mal wieder bei seinem Freund in dessen kleinem Holzhaus vorbeischauen. Susanne würde es schon verkraften, sie wäre dann sowieso beim Yogatraining im Dorfgemeinschaftshaus. Vielleicht sollte er Kleine einen Whisky mitbringen, den er noch vorher in einem der beiden Supermärkte in Adorf kaufen würde. Irgendeinen Single-Malt. Verdammt, sie tranken einfach zu viel Alkohol in letzter Zeit. Einige Dinge würden sich wirklich ändern müssen. Emde blickte den Feldweg hinab, ließ dann den Blick hinüber zum Eisenberg gleiten. Was für eine Schussdistanz!

      In seiner Hütte in Wirmighausen atmete Kleine ein weiteres Mal tief durch, schlug die Tageszeitung