Halbwahrheiten. Nicola Gess

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Название Halbwahrheiten
Автор произведения Nicola Gess
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783751805278



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Medienkritik, auf die in den Kapiteln über Jebsen und Tellkamp noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Mit Adorno ließe sich argumentieren, dass die Behauptung, die Leitmedien reproduzierten nur das technokratische Weltbild, und dessen Dogma der Alternativlosigkeit diene vor allem der Aufrechterhaltung gegenwärtiger Machtverhältnisse, durchaus triftig sei, dass diese Kritik aber in einen falschen Relativismus kippt. Und zwar dann, wenn sie zum Anlass genommen wird, Wahrheit generell nur noch als Machteffekt oder Machtinstrument zu behandeln und sich insofern berechtigt zu sehen, gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit »alternative facts« (so Kellyanne Conway im Januar 2017 in Bezug auf Äußerungen des US-Pressesprechers Sean Spicer55) in die Welt zu setzen, die sich unabhängig von rationalen Begründungen oder empirischer Evidenz schlicht nach den eigenen Meinungen, Selbstbildern und Zielen richten und auf eine entsprechende Manipulation von Wirklichkeit zielen.

      Hierher gehören dann auch alternative Narrative, wie zum Beispiel das populistische Grundnarrativ von Volk versus Elite, auf das unter anderem im Kapitel über Jebsen noch zurückzukommen sein wird, oder auch das von Inklusion (der autochthonen Bevölkerung) versus Exklusion (alles Fremden), das mit Stichworten wie Heimat und nationaler Identität, Bedrohung und Überfremdung aufgerufen wird. Diese Narrative wären dann weniger als »Re-Ideologisierung des politischen Feldes« zu verstehen56 denn als Instrumente der Selbst- und Fremdmanipulation.

      Von hier aus ist es dann nur noch ein kurzer Schritt zu einem zynischen Verhältnis zur Wahrheit, das »alternative Wahrheiten« noch nicht einmal mehr für wahr hält, ihnen aber aus anderen, zum Beispiel emotionalen Gründen trotzdem Glauben schenkt oder mit ihnen schlicht maximale Aufmerksamkeit erreichen oder Setzungsanspruch und -macht demonstrieren will. Das gilt zum Beispiel für die AfD, die die Kritik am Dogma der Alternativlosigkeit und die Sehnsucht nach einer Alternative allein mit ihrem Namen bedient (Alternative für Deutschland), deren Programm aber in ihrem »gemäßigten« Flügel darauf hinausläuft, unter Beibehaltung der neoliberalen Agenda den Frustrierten lediglich ein Ventil in Fremden- und Europafeindlichkeit zu bieten, und in ihrem völkischen Flügel darauf, mit der Kritik an der Scheinhaftigkeit der bürgerlich-liberalen Ideologie deren regulative Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gleich ganz zu verwerfen und das Zurück in einen offenen Autoritarismus zu propagieren, in dem mithilfe von »Ressentiments und völkischem Einheitsdenken« regiert wird.57

      Die Halbwahrheiten, um die es mir im vorliegenden Essay geht, sind, mit Adorno gesprochen, in einem Diskursraum verortet, in dem die Ausrichtung an einer bürgerlich-liberalen Ideologie der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Humanität und nicht zuletzt auch der Wahrheit brüchig geworden zu sein scheint. An ihre Stelle tritt eine normative Macht des Faktischen, dessen Alternativlosigkeit die Frage nach der Wahrheit in Relativismus, Zynismus oder Autoritarismus kippen lässt. Adorno kritisiert diese ideologische »Pervertierung« von Ideologie; die Rhetorik der Halbwahrheiten hingegen macht sie sich zunutze, indem sie die Irrelevanz der Unterscheidung von wahr und falsch performiert und auf diese Weise die Macht des Faktischen letztlich in eine Macht der Spekulation oder sogar der Fiktion umschlagen lässt. Insofern wäre es unangemessen, den Halbwahrheiten des postfaktischen Diskurses mit Ideologiekritik im herkömmlichen Sinne begegnen zu wollen. Vielmehr gilt es zu analysieren, welche Funktion ihnen in einem politischen Diskurs zukommt, der zwischen Relativismus und Zynismus schwankt und für den die Verwandlung von Fakten in bloße Meinungen und umgekehrt ebenso typisch ist wie das Streben nach Aufmerksamkeit als neuer Leitwährung und die Demonstration autoritärer Setzungsmacht.58

      Die meisten Halbwahrheiten lassen sich durch einen Faktencheck korrigieren, und auch ich unterziehe jedes einzelne meiner Beispiele einem solchen. So wichtig und notwendig dies ist, reichen Überprüfung und mögliche Richtigstellung jedoch nicht aus. Zum einen geht man den Halbwahrheiten mit einem Faktencheck nämlich insofern auf den Leim, als man ihre Suggestion, es ginge tatsächlich um empirische Evidenz, ernst nimmt und damit zugleich auch die aus dem Diskurs der Alternativlosigkeit übernommene positivistisch dogmatische Geste affirmiert, die Berufung auf die richtigen Fakten entbinde von der Notwendigkeit des Urteilens. Zum anderen erfasst man damit aber auch noch nicht, wie Halbwahrheiten im postfaktischen Diskurs funktionieren und warum sich ihre Anhänger:innen in der Regel als immun gegen jeden Faktencheck erweisen. Denn Halbwahrheiten operieren gerade nicht nach dem binären Schema wahr/falsch, sondern nach Schemata wie glaubwürdig/unglaubwürdig, affektiv/nüchtern, konnektiv/geschlossen und in einem narrativen Rahmen, für den die innere Kohärenz und nicht die Korrespondenz mit externen Sachverhalten entscheidend ist. Die Expertise für diese Schemata und Rahmungen liegt aber nicht beim Faktencheck, sondern bei der Fiktionstheorie und Narratologie, über die im nächsten Kapitel zu sprechen sein wird.

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