Halbwahrheiten. Nicola Gess

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Название Halbwahrheiten
Автор произведения Nicola Gess
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783751805278



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unausweichlich und damit legitimiert«.36 Darum lässt sich für diese eigentlich nicht mehr von einer Ideologie im obigen Sinne sprechen und auch keine herkömmliche Ideologiekritik mehr betreiben, die die soziale Realität mit den in ihr nur ungenügend realisierten Ideen ins Verhältnis setzen müsste. Außerdem wird dadurch auch die ideologiekritische Unterscheidung von wahr und falsch zum Problem, wie sich anhand von drei für Adornos Nachdenken über die Aushöhlung der bürgerlich-liberalen Ideologie zentralen Stichworten – Kulturindustrie, Relativismus, Faschismus – nachvollziehen lässt.

      Über die spätkapitalistische Kulturindustrie schreibt Adorno: »Wollte man in einem Satz zusammendrängen, worauf eigentlich die Ideologie der Massenkultur hinausläuft, man müßte sie als Parodie des Satzes: ›Werde was du bist‹ darstellen.«37 Sie beschränke sich nun darauf, »den Menschen nur noch einmal das vor Augen zu stellen, was ohnehin die Bedingung ihrer Existenz ausmacht«38, und dieses Dasein zugleich »als seine eigene Norm«39 zu proklamieren: »Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt.«40 Heute lässt sich das vielleicht am besten anhand des auf den Thatcherismus zurückgehenden TINA-Prinzips (»There Is No Alternative«) veranschaulichen, nach dem es schlicht keine Alternative zur bestehenden, allein auf den Markt beziehungsweise auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Politik und ihren Maßnahmen gebe, denen sich die Bürger:innen zu fügen haben. Wo es keine Alternative zum Bestehenden gibt, kann dieses aber weder falsch noch im emphatischen Sinne wahr sein; die Ausrichtung daran geht verloren zugunsten der Postulierung von Wahrheit als schlichter Alternativlosigkeit. Diesem unipolaren Prinzip lässt sich dann auch schwerlich mit Ideologiekritik als einer Form der immanenten Kritik begegnen, sondern allenfalls, so Adorno schon vor gut 65 Jahren, mit einer »Analyse des cui bono«41: Wer hat ein Interesse daran, das Bestehende als »einzige Wahrheit« bzw. alternativlos zu postulieren?

      So kritisch und notwendig diese Frage ist, so leicht schlägt sie jedoch Adorno zufolge in einen Relativismus um, den er als philosophische Entsprechung des »Niedergang[s] der Möglichkeit von Freiheit«42 kritisiert. Dem Prinzip der Alternativlosigkeit entspreche eine relativistische Position, die nicht nur die massenkulturelle Wahrheit des Spätkapitalismus, sondern Wahrheit überhaupt nur noch als Machteffekt denken könne und so die »Gültigkeit der Kausalität« insgesamt infrage stelle.43 Adorno versteht den erkenntniskritischen Relativismus mithin nicht nur als notwendige Kritik an, sondern zugleich auch als Konsequenz aus einem technokratischen Positivismus, dem mit der bürgerlich-liberalen Ideologie die Perspektive auf jede das bloße Bestehende transzendierende Wahrheit abhandengekommen sei.44

      Adorno beschreibt in seinem Resümee der spätkapitalistischen Gesellschaft also einen Gesellschaftszustand, in dem das Faktische zur neuen Norm geworden ist. Ideologie bedeutet nun nicht mehr Rechtfertigung der sozialen Realität durch die in ihr vorgeblich realisierten Ideen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Humanität, sondern sie ist insofern total geworden, als sie sich auf die bestätigende Widerspiegelung des Bestehenden beschränkt.

      Dadurch schwindet aber auch die Basis jeder Kritik, nämlich der erfahrbare Widerspruch zwischen der sozialen Realität und dem »Element der Wahrheit in den Ideologien«45. Der Kritik fehlt ihr Koordinatensystem, sodass wer über die Alternativlosigkeit der bestehenden Verhältnisse irgendwann doch noch ins Grübeln gerät, gar nicht mehr sagen kann, was genau eigentlich an ihnen falsch und was richtig ist beziehungsweise warum sich etwas Richtiges in Falsches verkehrt hat oder wie aus dem Unwahren etwas Wahres zu gewinnen wäre. Was als Option übrigbleibt, ist dann nur noch alles in Bausch und Bogen abzulehnen, alles für lügenhaften Schein und das Streben nach Wahrhaftigkeit für ebenso naiv zu erklären wie die Orientierung an anderen regulativen Ideen – eine Haltung, die man als zynisches Pendant des von Adorno kritisierten intellektuellen Relativismus betrachten kann. Der Konjunktur der Halbwahrheiten arbeitet beides zu oder stellt ihr jedenfalls nicht viel entgegen, beziehen Halbwahrheiten ihre suggestive Wirkkraft doch ebenfalls aus der Suspendierung jeder Unterscheidung.

      Für Adorno ebnet der Relativismus letztlich den Weg in den Totalitarismus oder macht mindestens hilflos gegenüber seinen Positionen.46 Denn diejenige »Ideologienlehre«, für die Wahrheit nur noch Funktion einer sich durchsetzenden Macht sei und die also dem »in Beziehung auf die objektiven Verhältnisse faßbaren Element der Wahrheit der Ideologien« nicht mehr nachforsche, tauge »trefflich selber zur Ideologie des totalitären Machtstaates. Indem sie vorweg alles Geistige dem Propaganda- und Herrschaftszweck subsumiert, bereitet sie dem Zynismus das wissenschaftlich gute Gewissen.«47 Dasselbe Problem habe auch der Spätliberalismus – eine Beobachtung, die für die heutige und schon von Arendt erkannte Tendenz zur Verkehrung von Tatsachen in Meinungen (und umgekehrt) vielleicht besonders relevant ist:

      Der politische Spätliberalismus, der im Begriff der Meinungsfreiheit ohnehin eine gewisse Affinität zum Relativismus besaß, insofern jedem erlaubt sei, zu denken was er will, gleichgültig ob es wahr ist, weil ja doch jeder nur denke, was für seinen Vorteil und seine Selbstbehauptung am günstigsten sei, – dieser Liberalismus war keineswegs gefeit gegen solche Perversionen des Ideologiebegriffs. Auch darin bestätigt sich, daß […] inmitten der Kultur die Kräfte von deren Zerstörung heranreiften.48

      Was auf dem Boden des Relativismus gedeiht, lässt sich also bestens vom Faschismus instrumentalisieren: ein zynisches Verhältnis zur Wahrheit, das sich ebenfalls nicht mehr mit dem herkömmlichen Ideologiebegriff verträgt. Und zwar erstens, weil der Faschismus, so Adorno, das Falsche ins Wahre und das Wahre ins Falsche verkehre, insofern er den Wahrheitsgehalt der bürgerlich-liberalen Ideologie infrage stelle, indem er auf ihre mangelnde Entsprechung in der sozialen Realität hinweise, und insofern er die Falschheit der realen Situation affirmiere beziehungsweise zur eigentlichen Wahrheit im Sinne einer Gleichsetzung von Wahrheit und Herrschaft erkläre, wie Adorno in »Pseudomenos« herausarbeitet:

      [D]er Faschismus ist in der Tat weniger »ideologisch«, insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte.49

      Und zweitens instrumentalisiere der Faschismus das zynische Verhältnis zur Wahrheit, indem er an die Stelle der Ideologie die Propaganda setze:

      Ihre [Hitlers und Rosenbergs, Anm. N. G.] Niveaulosigkeit […] ist Symptom eines Zustandes, den der Begriff von Ideologie […] gar nicht mehr unmittelbar trifft. In solchem Gedankengut spiegelt kein objektiver Geist sich wider, sondern es ist manipulativ ausgedacht, bloßes Herrschaftsmittel.50

      Dabei sei entscheidend, dass »kein Mensch, auch die Wortführer nicht, erwartet hat, daß es geglaubt oder als solches ernst genommen werde«51 – daher der Zynismus, den man heute beispielsweise auch in Trumps postfaktischer Rhetorik und der bedingungslosen Gefolgschaft seiner Anhänger:innen wiedererkennen kann. Ohne hier eine Gleichsetzung vornehmen zu wollen, bedient sich der Rechtspopulismus also durchaus bewährter Mittel. Denn die als solche durchschaubare Propaganda dient letztlich nur dazu, Macht zu demonstrieren.52 Es geht hier nicht nur um die Verkehrung von Wahrheit und Lüge in der Propaganda, sondern letztlich um die vollständige Irrelevanz dieser Unterscheidung in einem totalitären System, das seine Wahrheit gewaltsam setzt: »Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht […] unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen.«53

      Adorno stellt diese Überlegungen vor einem halben Jahrhundert an, und es wäre unangemessen, sie einfach auf die heutige Situation übertragen zu wollen. Gleichwohl sind viele seiner Beobachtungen von erstaunlicher Aktualität; so beispielsweise seine Ausführung über den Umschlag eines kritischen in einen relativistischen bis zynischen Wahrheitsbegriff, der die derzeitige Inflation von Halbwahrheiten, wo nicht vollständig zu erklären, so doch zu verstehen ermöglicht. Hilft also die ideologiegeschichtliche Erzählung Adornos, die von der Kritik der bürgerlich-liberalen Ideologie über die einer »pervertierte[n] Ideologie«54