Название | Halbwahrheiten |
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Автор произведения | Nicola Gess |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783751805278 |
Anders als die Untersuchung der Affektbetontheit oder der Phraseologismen des postfaktischen Diskurses erlaubt der Fokus auf die Halbwahrheit ein anderes zentrales Element, nämlich sein spezifisches Spiel mit der Wahrheit, genauer in den Blick zu nehmen.22 Der Begriff der Halbwahrheit impliziert sowohl das Festhalten an als auch die Diffusion einer klaren Unterscheidung von »wahr« und »falsch«. Mit ihm lässt sich sowohl ein bestimmter Typus von Falschaussage treffend bezeichnen als auch ein diffuser Gesamteindruck vermitteln, dass eine Behauptung nicht gänzlich unwahr sei. All das macht ihn aber auch schwierig zu definieren, gehört es doch zum Kern von Halbwahrheiten, sich ihrer genauen Festlegung zu entziehen.
Im ersten Kapitel des vorliegenden Essays soll es daher zunächst einmal um die Herausforderung gehen, die die Halbwahrheiten des postfaktischen Diskurses für dessen Kritik bedeuten; außerdem sollen mit Relativismus, Zynismus und Autoritarismus drei Positionen dargestellt werden, die einen politischen Diskurs im Zeichen der Halbwahrheit grundieren. Das zweite Kapitel beschäftigt sich dann mit einer tentativen Theorie der Halbwahrheit als narrativer Kleinform, die nicht nach dem binären Code wahr/falsch, sondern glaubwürdig/unglaubwürdig operiert und das Fiktive in die faktuale Erzählung einwandern lässt. In Beispielanalysen stütze ich mich hier vor allem auf entsprechende Äußerungen Trumps und seiner Anhänger:innen, die zwar mittlerweile schon zur Gewohnheit geworden, darum aber nicht weniger problematisch sind. In den Kapiteln drei bis fünf folgen schließlich ausführliche Fallstudien, die den Einsatz des hier zu entwickelnden analytischen Begriffs der Halbwahrheit an drei etwas komplexeren Beispielen aus der medialen Öffentlichkeit testen: der Fall des ehemaligen Spiegel-Journalisten Claas Relotius, anhand dessen ich mich mit den Halbwahrheiten des journalistischen Hochstaplers auseinandersetze; der Fall Ken Jebsen, Betreiber einer privaten Website und eines YouTube-Kanals, anhand dessen ich den Einsatz von Halbwahrheiten in Corona-Verschwörungstheorien untersuche; und der Fall des Literaten und öffentlichen Intellektuellen Uwe Tellkamp, anhand dessen ich der Verwendung von Halbwahrheiten im Rahmen einer rechtspopulistischen Medienkritik und Migrationsfeindschaft nachgehe.
Halbwahrheit und Ideologiekritik
Woran liegt es, dass Halbwahrheiten – einmal abgesehen von dem »postfaktischen« politischen Diskurs, in dem sie sich bewegen – gegenwärtig Konjunktur haben?23 Halbwahrheiten gab und gibt es schließlich schon immer und überall. Sind sie also in letzter Zeit vielleicht nur sichtbarer geworden, etwa weil sie durch die neuen (sozialen) Medien ungefilterter verbreitet werden können? Oder weil das Web 2.0 der Struktur von Halbwahrheiten entgegenkommt, insofern es als eine »digitale, zwischen Oralität und Schrift oszillierende Form des Hörensagens« funktioniert, in der diejenige Nachricht, die sich am schnellsten und weiträumigsten verbreitet, am ehesten als wahr empfunden wird?24
Doch sind die sozialen Medien und ihre Nutzer:innen keineswegs gänzlich von Halbwahrheiten und anderen Falschnachrichten bestimmt. Der virtuelle Raum ist ein hybrider Ort öffentlicher Meinungsbildung, in ihm finden sich Falschinformationen neben fundierten Analysen und sorgfältig recherchiertem Hintergrundwissen. Er ist ein Ort der Wahrheit und Unwahrheit zugleich. Ihn in Gänze als Ursache einer Zunahme von Halbwahrheiten zu verstehen, greift daher zu kurz.25 Vielmehr fungieren in den sozialen Medien vor allem einzelne und häufig rechtspopulistische Seiten oder Akteure, wie zum Beispiel Donald Trump, als deren twitternde Superspreader.26 Liegt der Grund für die Konjunktur der Halbwahrheiten also vielleicht, mit Arendt gesprochen, in einem drohenden Verlust der Integrität der Politik am rechten Rand? Gleichzeitig wird das Erstarken des Rechtspopulismus aber auch oft mit einem schon länger wahrgenommenen Verlust der Integrität der Politik der Mitte beziehungsweise einer damit einhergehenden Vertrauenskrise der Bevölkerung gegenüber Politik als solcher erklärt.27 Nur deshalb können sich Trump und andere Rechtspopulistinnen und -populisten als Volkstribune gerieren, die vorgeblich mit den Lügen einer korrupten Politik aufräumen wollen.
Um sich der Funktion von Halbwahrheiten bewusst zu werden, ist es daher vielleicht zunächst sinnvoller, diese nicht als Gegenstück zu einer wie auch immer gearteten »Wahrheit« anzusehen, sondern auf Theodor W. Adornos Begriffe von Ideologie und Ideologiekritik zu rekurrieren. Interessanterweise kommt eine der treffendsten Analysen des Rechtsrucks unserer Zeit nämlich aus der Vergangenheit: Wie in vielen Rezensionen betont wurde, ist mit der posthumen Herausgabe von Adornos Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« von 1967 »dem Verlag ein Coup gelungen«, insofern der Text »noch heute von schlagender Evidenz« sei und sich »wie ein Kommentar zum Aufstieg der AfD« lese.28 In Bezug auf die Frage nach der Konjunktur von Halbwahrheiten in einem postfaktischen politischen Diskurs lohnt es sich also vielleicht, einen weiteren Text Adornos heranzuziehen, den »Beitrag zur Ideologienlehre« (1954).29
Bis zum discursive turn der 1970/80er-Jahre war Ideologiekritik das Kernelement sich als gesellschaftskritisch verstehender Theorie; man wollte subtile Herrschaftsmechanismen offenlegen und so »verblendete« Bürger:innen aufklären. Wegen seines starken elitären Sendungsbewusstseins und seiner fundamentalen Orientierung an den Kategorien wahr und falsch geriet der Ideologiebegriff jedoch unter Beschuss und schließlich in Vergessenheit.30 Ist heute, wo sich die Frage von Wahrheit und Falschheit neu stellt, seine Renaissance notwendig?31
In seinem »Beitrag zur Ideologienlehre« schreibt Adorno 1954 über die bürgerlich-liberale Ideologie, die für seinen Ideologiebegriff maßgeblich ist und zu der man zum Beispiel die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zählen kann:
Als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge, gehört Ideologie […] einer entfalteten städtischen Marktwirtschaft an. Denn Ideologie ist Rechtfertigung. Sie erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat.32
Adorno spricht hier die Sprache einer marxistisch orientierten Gesellschaftskritik. »Wahr« (das heißt hier: realisiert) ist demnach die Idee der Gerechtigkeit im bürgerlich-liberalen Zeitalter, insofern sie einer auf dem Tausch basierenden Ökonomie adäquat ist. »Unwahr« bzw. »notwendig falsch« ist diese Wahrheit aber zugleich, insofern der Äquivalententausch eine Realität erzeugt, die sich durch Ungleichbehandlungen auszeichnet. Falsch ist es zudem für Adorno nicht nur, diese soziale Realität als eine gerechte misszuverstehen, sondern falsch ist auch die Ungerechtigkeit als solche – und zwar gemessen an der Idee von Gerechtigkeit als einem der Ideologie innewohnenden Anspruch oder auch »Wahrheitsgehalt«, den sie verfehlt.
Die »Wahrheit« der Gerechtigkeit ist also ideologisch, doch lässt sich diese Ideologie kritisieren, indem der erfahrbare Widerspruch zwischen der Idee von Gerechtigkeit und der sozialen Realität herausgestellt wird. Dabei wird die Warte, von der aus die ideologische Wahrheit als »unwahr« oder »falsch« kritisiert wird, erst im Prozess der immanenten Kritik gewonnen. Zugleich wahr und falsch zu sein, meint im Fall der Ideologiekritik also (anders als im Fall der Halbwahrheit) gerade keine Suspendierung der Unterscheidung, sondern setzt einen sowohl epistemisch wie normativ begründeten und letztlich »emphatischen« Wahrheitsbegriff voraus,33 der erst in der Methode der immanenten Kritik gewonnen wird und bei Adorno nur negativ, das heißt als Negation des falschen Bestehenden zu haben ist.34 Insofern ist Adornos Ideologiekritik, wie die Philosophin Rahel Jaeggi schreibt, zugleich »nichtnormativ und dennoch normativ bedeutsam«: »sie generiert […] aus den Selbstwidersprüchen der gegebenen Normen und der gegebenen Realität die Maßstäbe zu deren Überwindung«.35
Für die spätkapitalistische Gesellschaft konstatiert Adorno