Wie ein Regenbogen. Simon Wells

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Название Wie ein Regenbogen
Автор произведения Simon Wells
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854456988



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von nur 15 Jahren vier Sprachen fließend. Dieses außergewöhnliche mehrsprachige Können verblüffte ihren Vater, der sie ermutigte, die Laufbahn einer Sekretärin einzuschlagen. Allerdings war es damals schon mehr als offensichtlich, dass das Schicksal für Anita nie ein Leben hinter einem Schreibtisch bereithielt. Neben dem Segeln auf dem Ammersee und den gelegentlichen von der Schule veranstalteten Skifreizeiten gab es andere Ablenkungen vom Alltag wie Rauchen, Trinken und nicht zu vergessen die verführerische Nähe zu München. Anita entschuldigte sich regelmäßig beim Landheim Schondorf, verließ das Grundstück und fuhr die 50 Kilometer per Anhalter zur Stadt, um sich von der raueren Energie packen zu lassen.

      Ihr freigeistiges Verhalten und der Hang zur „Wanderlust“ stellten die Reglementierungen des Landheims Schondorf auf eine schwere Bewährungsprobe. Da sie oftmals abwesend war und nicht sonderlich daran interessiert schien, sich dem Lehrplan unterzuordnen, riss der Internatsleitung der Geduldsfaden und Anita wurde von dem Internat verwiesen – nur sechs Monate vor ihrem Abitur.

      Nach der vorzeitigen Entlassung zeigte sie weiterhin Präsenz in München. Den Unterricht habe sie abgebrochen, „um [für eine gewisse Zeit] ein wenig Geld zu verdienen“. Sie fand besonderes Gefallen in dem damals eher links orientierten Schwabing, einer Gegend reich an Bars und Clubs, in denen sich größtenteils bohemienhafte Cliquen herumtrieben. Ohne einen zur Universität qualifizierenden Schulabschluss wurde Anita an einer Kunstschule in der Stadt angenommen. Dort hatte sie ihr erstes sexuelles Erlebnis, obwohl eher unwillkommen. Es sollte eine ihr weiteres Leben bestimmende Episode bleiben. Ein anderer Student hatte einige ihrer Kunstbücher einem Freund geliehen. Nachdem Anita die Bücher bei dem ebenfalls in der Stadt lebenden Unbekannten aufgestöbert hatte, versuchte dieser, sich ihr mit Gewalt zu nähern.

      Diese grenzüberschreitende Erfahrung veränderte Anitas Verhalten für eine gewisse Zeit, in der sie die intime Freundschaft zu jungen Frauen vorzog. „Ich ging mit Frauen“, erzählte sie später. „Ich war total gegen Männer, fand sie so widerlich und ignorierte sie einfach.“

      Nach dem abgeschlossenen Kunstkurs folgte eine kurze Zeit, in der Anita ziellos durch Europa trampte, bis sie im Sommer 1959 nach Rom zurückkehrte. Sie strebte hoffnungsvoll eine künstlerische Laufbahn an und erhielt auch tatsächlich ein Stipendium für die angesehene Accademia di Belle Arti di Roma, wo sie Grafik und Design sowie Bildrestauration zu studieren begann.

      Damit stand ihr der Weg zu einer existenzsichernden Ausbildung offen, aber sie erreichte keinen Abschluss ihrer Studiengänge. Wie früher schon, fand sie es weitaus spannender, mit einer Meute cooler Italiener abzuhängen. Die Hauptstadt schien sich im Sommer 1959 wie ein Karussell der Abenteuer und der Lebenslust zu drehen. Diese Lebensfreude und das süße Leben Italiens wurden von Frederico Fellini mit dem Dreh von La Dolce Vita eingefangen. Da die Filmaufnahmen an über 80 Plätzen in Rom stattfanden, gelang es Anita, die Bekanntschaft des Regisseurs zu machen und noch weitere Persönlichkeiten der Filmbranche wie Pier Paolo Pasolini und Luchino Visconti kennenzulernen. Ihre ständige Präsenz am Filmset führte dazu, dass die Crew sie während der Aufnahmen als eine Art Maskottchen adoptierte. Wegen ihres Geschmacks für das Seltene und Exotische beschrieb man Anita bald als eine Pariolina, eine distanzierte und eher kühle, aber dennoch moderne Bewohnerin Roms. Chic und deutlich erkennbar in den angesagten Bars und Cafés der Hauptstadt, erwarb sich die 17-Jährige mit der Bubikopffrisur einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Hauptstadt.

      „Ich ging in der ‚Dolce vita‘-Stimmung der Stadt auf“, berichtete sie 2002. „Ich erinnere mich an Nico und Donyale Luna – das erste schwarze Model –, die durch die Straßen Roms schlenderten.“

      Während dieser frühen Jahre in Rom stellte die unter dem Namen Christa Päffgen geborene Nico für Anita eine außergewöhnliche Reflexionsebene dar. Blond, in Deutschland geboren, mehrsprachig und mit Interessen, die sich zwischen dem Leben eines Models und dem Film bewegten, belebte sie mit ihrer beeindruckenden „andersweltigen“ Ausstrahlung eine Umgebung, in der Schönheit und Talente ohnehin schon reichlich vorhanden waren. Die einige Jahre ältere Nico warf auf gespenstische Weise einen Schatten auf Anitas Leben in den folgenden Jahren.

      Dem prägenden Einfluss des Rock’n’Roll in der damaligen Zeit konnte sich auch Anita nicht entziehen. Wie viele andere Jugendliche rund um den Globus wurde sie von den wilden Sounds gepackt, die aus jedem Club, jeder Bar und jedem Transistorradio dröhnten. „Als Teenager entdeckte ich den Rock’n’Roll“, berichtete sie im Mojo 2003. Auf die Frage nach der ersten selbst gekauften Platte antwortete sie: „Das war ein Fats-Domino-Album – Blueberry Hill. Er war jemand, auf den ich abfuhr. Es ging darum, gegen die klassische Musik zu rebellieren, mit der ich zu Hause aufwuchs.“

      Trotz der aufregenden Freizeitmöglichkeiten, die Rom zu bieten hatte, tauchte Anita sporadisch überall in Europa auf. Unterkunft fand sie, indem sie die Familienkontakte in Deutschland, Spanien und Frankreich nutzte. Beim Besuch einer Tante im August 1961 wurde sie Zeugin des Mauerbaus in Berlin. Im darauffolgenden Jahr – während eines Verwandtschaftsbesuchs in Hamburg – machte sie einen Streifzug durch den schmuddeligen Reeperbahn-Bezirk. Sie bummelte über die Große Freiheit, besuchte den Star-Club und hörte sich eine unbekannte Band aus Liverpool an. Trotz ihres Hangs zum Rock’n’Roll fand Anita die „grundschülerhafte“ Uniformität der Beatles wenig beeindruckend und war ganz und gar nicht begeistert von der Band.

      In Rom wurde Anita stets aufs Herzlichste willkommen geheißen, und so gelang es ihr immer mühelos, sich wieder in die dortige Szene einzufügen. Die Stadt war dafür bekannt, Künstler jeglicher Couleur anzuziehen, und die aufstrebenden neuen Gruppierungen begannen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zwar dominierte noch die traditionelle Kunst, doch es gab auch eine nennenswerte progressive Bewegung – Teil der sogenannten zweiten Welle, die man auch als „Scuola Romana“ bezeichnete –, deren Vertreter sich als Affront gegen die Accademia di Belle Arti verstanden und sich mit großer Freude entsprechend darstellten.

      Die Abtrünnigen trafen sich an bestimmten Versammlungsorten wie Bars und Kaffeehäusern, besonders im Caffè Rosati und auf der Piazza del Popolo. Da Anita keinen konkreten Lebensentwurf hatte, hing sie gerne mit der künstlerischen Avantgarde der Stadt ab und ließ sich von den radikalen Ansichten beeinflussen, die inmitten von Kaffee, Wein und Tabakrauch die Runde machten. Diese eng verschworene Gemeinschaft von Schriftstellern und Künstlern war so exklusiv und mit sicherem Instinkt verbunden, dass sie sogar einen Spitznamen für ihren Clan prägte – „I Panteri di Piazza del Popolo“ – („Die Panther der Piazza del Popolo“).

      „Das Caffè Rosati wurde von – ich würde es die Spitze der Avantgarde nennen – besucht“, reflektierte Anita 2017. „Dort trafen sich Dichter wie Sandrino Perinna (sic), Maler wie Turcato und Guttuso und Schriftsteller wie Moravia. In dieser Zeit sah man nur wenige Schauspieler oder Regisseure wie Fellini und Antonioni. Die Gruppe war nicht groß, vielleicht 30 oder 40 Personen, während der Rest der Welt das machte, was er heute immer noch macht. Uns zeichnete eine besondere Intensität aus, das Verlangen, alles zu durchdringen und unser Leben in die eigene Hand zu nehmen. Wir waren sehr kreativ, sehr positiv, enthusiastisch und überhaupt nicht ängstlich, wir waren die Erforscher und lebten einen abenteuerlustigen Geist aus.“

      Mit seinem Ruf, Europas glamouröseste Stadt zu sein, zog Rom Magazine und Journale an, die Reflexionen des femininen Glanzes an ikonischen Locations einfangen wollten. Einige hochkarätige Modemagazine gaben kostspielige luxuriöse Foto-Shootings an bekannten Orten in Auftrag (wobei sie die Crème de la Crème der Models buchten), während andere auf den Straßen die zufällig vorbeiziehenden Schönheiten vorzogen.

      Der Playboy gehörte zu den Magazinen, die ihre Leser mit Roms verführerischem Reiz in ihren Bann ziehen wollten. Bedenkt man, dass „Dolce Vita“ ein Schlagwort für sonnenverwöhnte Lebenslust geworden war, wird klar, dass ein ausführlicher Bericht auf mehreren Farbseiten als eindeutiger Kaufanreiz gesehen wurde. In der Februarausgabe 1962 erschien der Artikel „Die Mädchen von Rom (ein Lorbeerkranz für die wunderschönen Signoras der ewigen Stadt)“. Der farbenfrohe Bericht präsentierte neun – erstaunlicherweise sittsam bedeckte – weibliche Persönlichkeiten der Stadt. In dem Mix aus Models, Schauspielerinnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens war Anita Pallenberg ebenso vertreten wie einige Stars.

      Anita