Название | Kennen wir uns? |
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Автор произведения | Silke Weyergraf |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783942672467 |
Marla war im dritten Monat schwanger, das hatte Jenny an vergangenem Freitag erfahren. Und Nick war der Erzeuger. Konfrontiert mit dieser Nachricht und Nicks Entschluss, umgehend aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, war sie in einen Schockzustand gefallen. Nachdem das glückliche Paar die Wohnung verlassen hatte, bewegte sie sich traumatisiert und innerlich erstarrt ruhelos durch die Wohnung. An Nicks Geburtstag, am 20. September, musste es in ihrer Wohnung passiert sein. Welche Erniedrigung, welch unglaublicher Verrat. Wie schon einige Jahre zuvor verbrachte Marla zu dieser Zeit eine Woche bei ihnen in Dortmund. Tagsüber besuchte sie dann die Kunstmesse in Köln. Erstmalig wurde es ihr in diesem Messejahr ermöglicht, selbst dort Bilder auszustellen. Am 20. September hatte Marla mit Nicks Geburtstagsgästen ausgelassen ihren Erfolg gefeiert. Auch Jenny hatte fröhlich mit Marla angestoßen. Die Vorstellung, dass Nick und Marla umeinandergeschlungen in der Badewanne … vielleicht während sie die Spülmaschine eingeräumt hat …
Ein erneuter Ekelschauer überfiel Jenny und ließ sie würgen. Kurz flackerte erneut die Traumszene mit Nick und Marla in der ersten Bankreihe der Kirche vor ihren Augen auf. Deutlich erkannte sie Marlas rote hochhackige Schuhe, die sie auch bei besagter Party getragen hatte. Wie konnte ihre beste Freundin Jenny so etwas antun? Selbst im Feierrausch gab es für so ein Verhalten keine Entschuldigung. Und verzweifelt musste Jenny sich gestehen: Es gab auch keine Bestrafung. Marla zog lachend davon. Mit ihrem Verlobten und dem Glück im Bauch, von dem Nick immer geträumt hatte. Kurz machte sie sich selbst Vorwürfe und verfluchte ihre Antihaltung gegenüber eigenen Kindern. Aber nein. Nick hatte zugestimmt, sie zu heiraten. Mit oder ohne Kind. Er hatte sich bewusst für eine kinderlose Ehe entschieden. Er war der Ehebrecher. Jenny selbst musste nun alles Weitere ertragen und konnte ihn nicht mehr zurückgewinnen. Es war aus. Für immer.
Jenny versank in Erinnerungen an die schlimmste Nacht ihres Lebens, in der ihr Lebensgerüst gesprengt wurde. In ihrer Not hatte Jenny den Entschluss gefasst, zu ihrer Freundin Thea nach Münster zu fahren. Zwei Stunden hatte sie bis dahin laut heulend auf dem Sofa gelegen und Fotos von ihr und Nick zerrissen, die sie zuvor an unterschiedlichen Stellen der Wohnung gefunden hatte. Sie war erschöpft gewesen, aber hatte panische Angst bei dem Gedanken daran verspürt, eine Nacht alleine in der Wohnung verbringen zu müssen. Schnell hatte sie das Notdürftigste zusammengepackt und fluchtartig den Ort des Grauens verlassen. Die Strecke nach Münster war sie wie im Schlaf gefahren, da sie den Weg gut kannte. Thea war, direkt nach ihrem gemeinsamen Studium, mit Achim dorthin gezogen und Jenny hatte sie dort schon unzählige Male besucht. Theas Eltern lebten in Greven, einer Kleinstadt in der Nähe Münsters, wo Thea aufgewachsen war. Ihre Freundin hatte stets betont, waschechte Westfälin zu sein, und legte nicht ohne Stolz immer wieder dar, dass Münster für sie die eigentliche Hauptstadt Deutschlands war. Den Weg nach Münster Gievenbeck also war Jenny ohne Navigationsgerät gefahren. Die sonore Stimme der Ansagedame wäre wohl auch kaum zu Jennys Ohren vorgedrungen, denn die gesamte fast einstündige Fahrt durch verregnete Dunkelheit hatte Jenny immer wieder das gleiche Lied gehört. „Ave Maria“, gesungen von Jessye Norman, einer dunkelhäutigen Sopranistin. Die CD mit verschiedenen von dieser Sängerin interpretierten Liedern war ein Erinnerungsstück an ihre verstorbene Oma. In ohrenbetäubender Lautstärke hatte sich der emotional aufheizende Gesang bis zum Horstmarer Landweg wiederholt. Nach der Abfahrt von der Autobahn hatte sich Jenny kurz vor Erreichen ihres Ziels befunden. Aufgelöst und in der Annahme, dass sie die Veränderungen der Zukunft nicht ertragen könne, hatten Regen und Tränen ihren vorausschauenden Blick verhängt. Wie durch Nebelschwaden hatte sie lediglich den hellsten Lichtkegel, der die Straße direkt vor ihr ausleuchtete, gesehen. Das Reh, das wie aus dem Nichts kommend, von links über die Straße rannte, war mit einem eleganten Satz ins Münsterländer Feld gesprungen. Jenny war reflexartig nach links ausgewichen, hatte kurz die Mittellinie überquert und vor Schreck das Lenkrad stark in die entgegengesetzte Richtung gerissen. Auf der regennassen Straße waren die Hinterräder ins Rutschen geraten und hatten nicht mehr auf Jennys verzweifelte Bremsversuche reagiert. Wie auf einer spiegelglatten Eisfläche war sie unaufhaltsam dem Baumstamm entgegengeschlittert, dem sie auch mit einem erneuten Herumreißen des Lenkrades nicht mehr hatte ausweichen können. Sie vernahm nur noch einen harten Stoß auf den Kopf und das Zersplittern von Glas sowie das laute Hupen ihres Autos. Dieses war, mit dem Heck im gepflügten Acker steckend, im Straßengraben zum Stillstand gekommen. Durch die völlig zerstörte Frontfensterscheibe hatte sich über ihr die Krone des stark beschädigten Baumes wie im Karussell gedreht. Jennys Kreislauf brach zusammen und sie verlor das Bewusstsein.
Nur schwer kehrte Jenny gedanklich zurück in die Realität im Krankenhausbett. Einerseits war sie erleichtert, ihr Gedächtnis voll erinnerungsfähig zu erleben, doch brachten die Bilder des Unfalls sie andererseits in erneute, tiefe Trauer. Jenny weinte still in sich hinein. Als Schwester Mona nach einiger Zeit das Zimmer betrat und das grelle Neonlicht anschaltete, hielt Jenny die Luft an und stellte sich schlafend.
„Hab hier das Abendessen, Frau Hilgers. Guten Appetit“, flötete die Pflegerin fröhlich. Dann verließ sie umgehend und geräuschvoll das Zimmer. Ohne das servierte Essen auch nur anzuschauen, drehte sich Jenny auf die andere Seite. Der Gips erschwerte die Bewegung und riss an ihrem Bein. Mit dem Gefühl fliehen zu wollen, aber von einer sich am Bein festklammernden Person zurückgehalten zu werden, schlief sie entkräftet ein.
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