Kennen wir uns?. Silke Weyergraf

Читать онлайн.
Название Kennen wir uns?
Автор произведения Silke Weyergraf
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672467



Скачать книгу

Tochter informiert und angekündigt, gemeinsam mit seiner Frau innerhalb der nächsten zwei Stunden in Münster einzutreffen. Er schien sehr gefasst am Telefon und berichtete, von der in Münster lebenden Freundin seiner Tochter über ihre Nichterreichbarkeit informiert worden zu sein. In Jennys Wohnung habe man dann den Anrufbeantworter abgehört und die Mitteilung des Pflegers entgegengenommen. Alles wäre unbegreiflich, aber man wäre dankbar, dass es der Tochter den Umständen entsprechend gut ginge. Ob man denn den Verlobten der Tochter nicht erreicht hätte? Auf diese Frage konnte die Krankenschwester, die den Anruf entgegennahm, keine Antwort geben.

      Die ärztliche Anordnung zur Veränderung der Medikamentendosierung hatte Wunder bewirkt. Der stechende Schmerz in Jennys Kopf hatte sich in ein leichtes Druckgefühl gewandelt und alles hatte seine Bedrohlichkeit verloren. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass Jenny nun Geräusche und andere verwirrende Reize einordnen konnte. Sie befand sich nach einem schweren Autounfall auf der Intensivstation der Uniklinik Münster und lebte. Sie genoss diese Erkenntnis und wusste, dass es nun das Beste war, alles auf sich zukommen zu lassen. Die beängstigenden Gedankenausschnitte waren für einen Moment vergessen und für eine Analyse ihrer Situation verursachten die verabreichten Medikamente eine zu große Gleichgültigkeit. Pfleger Andreas versorgte eine weitere Patientin, die – nur durch einen hellblauen Vorhang von ihr getrennt – im selben Zimmer untergebracht war. Durch die sie umgebenden bunt blinkenden und rhythmisch tönenden Geräte wähnte Jenny sich in Sicherheit. Die Stimme des kleinen, muskulösen Pflegers Andreas zu vernehmen, der hinter dem Vorhang all seine Handgriffe mit freundlicher und ruhiger Stimme ankündigte, beruhigte Jenny zudem. Alles um sie herum war wie eine Symphonie. Es bereitete Jenny Freude, diesen Klängen mit geschlossenen Augen ohne willentliche Anstrengung zu lauschen.

      Eine Stunde war vergangen und Pfleger Andreas hatte sich der Dokumentation seiner getätigten Pflege zugewandt. Eine Arbeit, die immer mehr Zeit in Anspruch nahm, und die er widerwillig tat. Lieber packte er an und nutze seine Arbeitszeit für das Umsorgen seiner Schäfchen. Wohl oder übel saß er nun doch am Schreibtisch des Dienstzimmers, das mit mehreren Monitoren zur Überwachung der Patienten ausgestattet war. Jeder Monitor zeigte die Vitalfunktionen der Kranken durch die Messgeräte und auf Knopfdruck konnte er das Bild einer Überwachungskamera einstellen. Jenny Hilgers und Hannelore Buchner, seine beiden Patientinnen von Zimmer drei, lagen ruhig in ihren frisch bezogenen Betten und zeigten keinerlei Auffälligkeiten. Frau Buchner würde nach ihrer Aneurysma-Operation morgen sicherlich auf die Neurologie verlegt werden. Bei der dreißig Jahre jüngeren Frau Hilgers war er sich nicht sicher. Ihre Verwirrtheit machte ihm etwas Sorgen, aber da er ein optimistischer Mensch war, hoffte er, dass Frau Hilgers „Reh“ und „Kirche“ beim nächsten Erwachen auseinanderbringen konnte. Ganz geklärt war aus ärztlicher Sicht noch nicht, ob der offene Tibiabruch am rechten Unterschenkel seiner jungen Patientin doch noch operativ versorgt werden musste. In ihrem Zustand war eine Operation nicht zu empfehlen, aber für eine konservative Behandlung mussten die Wunden schnell heilen, damit die Anlage einer Gipsschale möglich war. So vermerkte er in seiner Dokumentationsakte unter „Behandlungsziele“: Förderung der Vigilanz (was soviel hieß wie Reh und Kirche auseinanderhalten zu können) und Förderung der Wundheilung, damit einer Gipsversorgung des Unterschenkelbruchs nichts im Wege stand. Andreas wurde von dem Klingelton, der Besucher ankündigte, aus seinen Gedanken gerissen. Er hörte seine Lieblingskollegin Manuela zur Stationstür gehen. Der Besuchsempfang gehörte heute zu ihrem Dienst. Mit ihrer gewohnt zuvorkommenden Art und gewinnendem Lächeln begrüßte sie das Ehepaar Hilgers; die Eltern seiner jüngeren Patientin. Manuela war geschult im Umgang mit aufgelösten Angehörigen. Oft waren die Emotionen der nahen Bekannten der Menschen, die sich in einem Hochrisikozustand befanden, das eigentlich Belastende ihrer Arbeit auf der Intensivstation. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Ängste und Verzweiflung mischten sich mit Erkenntnissen über die Ungerechtigkeit des schicksalhaften Lebens. Mittlerweile waren viele Intensivstationen darauf eingerichtet, dass Angehörige Tag und Nacht vor Ort blieben. Das Universitätsklinikum zumindest war mit einem Besucherzimmer ausgestattet. Vor allem nach lebensbedrohlichen Unfällen wurde dieses Angebot dankend angenommen. Natürlich brauchte es eine gewisse professionelle Distanz, um all den Belastungen langfristig Stand zu halten. Andreas war aber froh, bis heute emotional nicht abgestumpft zu sein. Gerade das Einfühlen in die Situation der Beteiligten schaffte eine wertvolle Basis für eine erfolgreiche Genesung.

      Martina schaute durch die immer geöffnete Tür ins Dienstzimmer und erklärte: „Hier sind die Eltern von Jenny Hilgers. Sie haben sich bereits die Kittel übergezogen und würden jetzt gerne ihre Tochter sehen.“

      Sie blickte zurück in den Flur, wo Jennys Eltern unsicher standen und machte eine Handbewegung ins Dienstzimmer.

      „Das ist Pfleger Andreas. Er hat Ihre Tochter gestern aufgenommen und ist am besten über ihren Zustand informiert“.

      Andreas erhob sich und spannte die vom Sitzen und Schreiben ermüdeten Glieder an. Durch seine regelmäßigen Trainingseinheiten an Kraft- und Ausdauergeräten hatte er einen muskulösen Körper, was ihm in der Pflege zunutze kam. Sein Rücken war bisher von der Beanspruchung der täglichen Pflege oft lebloser, bewegungsunfähiger Körper verschont geblieben. Viele Kollegen klagten über immer wiederkehrende Rückenleiden. Andreas jedoch hoffte, dass er seine Arbeit noch viele Jahre uneingeschränkt ausüben konnte.

      Mit einem kraftvollen Händedruck begrüßte er die verschüchtert wirkenden Eltern der neuen Patientin. Der Vater, ein etwa 1,90 Meter großer grauhaariger Mann mit gepflegtem Dreitagebart, stand einen Schritt vor seiner zusammengesunkenen Frau und blickte Andreas durch eine schwarzumrandete Lesebrille freundlich entgegen. Er wirkte gefasst, im Gegensatz zu seiner Frau, die mit geröteten Augen nur kurz aufblickte, als Andreas ihre schlaffe Hand zur Begrüßung drückte. Sie schien sich unter dem hellgrünen Besucherkittel verstecken zu wollen, und so folgte sie auch nur sehr langsam den beiden Männern ins Zimmer drei. Andreas ging vorweg und steuerte auf Jennys Bett zu. Diese wirkte sehr entspannt und hatte die Augen geschlossen. Ob sie wirklich schlief oder nur ruhte, war nicht auszumachen und so berührte Andreas sanft ihren rechten Arm und flüsterte: „Frau Hilgers? Jenny? Sind Sie wach?“

      Kurz schaute er auf und bemerkte, dass nun Frau Hilgers Senior die Führung übernommen hatte und mit tränengefüllten Augen am Fußende des Bettes ihrer Tochter stand. Herr Hilgers hatte sich in einiger Entfernung an die Fensterscheibe gegenüber dem Fußende gestellt. Hinter ihm war der Blick ins Nachbarzimmer durch Metallrollläden verbaut. Trotz der gewünschten Transparenz und Überschaubarkeit aller Zimmer wurde somit ein wenig die Intimsphäre der Kranken gewahrt. Herr Hilgers inspizierte das Zimmer und die an seine Tochter angeschlossenen Geräte. Um Jennys Mutter einen Einstieg in die Kontaktaufnahme mit ihrer Tochter zu erleichtern, sprach Andreas in ruhigem Ton weiter: „Jenny. Hier sind Ihre Eltern. Können Sie uns ein Zeichen geben, ob Sie wach sind?“

      Die junge Frau rührte sich nicht, doch hatte der aufmerksame Pfleger den Eindruck, dass sich der entspannte Gesichtsausdruck in leichten Unmut gewandelt hatte. Er wandte sich ab und munterte Frau Hilgers auf, den Arm ihrer Tochter zu berühren, um sie dann begrüßen zu können.

      „Melden Sie sich bitte, wenn Sie mich brauchen“, sagte Andreas beim Verlassen des Krankenzimmers. Dann begab er sich wieder ins Dienstzimmer, schaltete aber zur Vorsicht das Überwachungsbild von Zimmer drei ein. Es war gut möglich, dass aufgewühlte Angehörige die Genesung der Schwerstkranken durch ihre Anwesenheit und unkontrollierte Emotionen störten.

      Als Jenny die zaghafte Stimme ihrer Mutter vernahm, war sie sofort hellwach. Die beruhigende Symphonie hatte ihren letzten Ton erklingen lassen, und es stellte sich wieder die beängstigende Realität ein. Jenny wagte es nicht, die Augen zu öffnen, konnte aber die Worte ihrer Mutter uneingeschränkt erfassen.

      „Jenny, wie kannst du uns so etwas antun?“, schluchzte ihre um Fassung ringende Mutter. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht“, sagte sie durch ein zerknittertes Taschentuch, mit dem sie sich die Nase putzte.

      Jenny zeigte keine äußere Reaktion, aber Pfleger An­dreas bemerkte in seinem Dienstzimmer, dass der Puls der Patientin auf Zimmer drei eine erhöhte Frequenz aufwies. Er betrachtete das Überwachungsbild, konnte aber nichts Beunruhigendes erkennen. Vielleicht freute sich die Tochter über den Besuch der Eltern, was ihr Herz schneller schlagen ließ.

      Unter