Название | Der Mensch als Rohstoff |
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Автор произведения | Christian Blasge |
Жанр | Математика |
Серия | |
Издательство | Математика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853718872 |
Gleichzeitig scheint dieser Technikglaube eine scheinbare Auflösung der politischen linken und rechten Lager widerzuspiegeln. Der Fortschrittsglaube transzendiert die traditionelle Vorstellung von Politik, gleichzeitig repräsentiert er eine verborgene technokratische Ideologie. Diese Überzeugung von der totalen Machbarkeit bei gleichzeitiger Ablehnung des Politischen ist zu der sogenannten »kalifornischen Ideologie« geworden. Sie setzt sich aus freisinniger Experimentierlust, unkonventionellem Lebensstil, Computerbesessenheit und Unternehmertum zusammen. Sie hat ihre Wurzeln einerseits in der Hippiekultur, andererseits in dem militärisch-industriellen Komplex, der seit den 1950er-Jahren im Silicon Valley einen wichtigen Stützpunkt hat.59
Diese Verschmelzung von Flower Power und Mikroprozessor, von Erleuchtung und Technologie wurde von Steve Jobs verkörpert, der morgens zunächst meditierte, dann Physikvorlesungen besuchte und nachts bei Atari arbeitete und davon träumte, seine eigene Firma zu gründen.60
Eine Ideologie, soll sie anziehend wirken und ihre Mitglieder langfristig binden, muss unter anderem verschiedene Formen von Ritualen bereitstellen. Neben zahlreichen konzerninternen Events und Spektakeln findet im Silicon Valley jährlich ein Event der Superlative statt: das »Burning Man-Festival«. In der Wüste Nevadas feiern Zehntausende von Menschen sieben Tage lang eine ekstatische, in jeder Hinsicht unkonventionelle Party. Das Festival steht für eine der spektakulärsten Manifestationen des Glaubens an das unerschöpfliche Befreiungspotenzial der Technik – die Feiernden zelebrieren einen Zukunftskult, in dem soziale und technische Schranken schon heute überwunden scheinen.61 Für die Teilnahme an diesem Event geben die meisten Firmen ihren Mitarbeitern frei, manche organisieren sogar Fahrten auf das Gelände. Seine Strahlkraft zieht nicht nur die Angestellten der jeweiligen Unternehmen an, sondern auch deren Bosse. So treffen sich dort die wichtigsten Persönlichkeiten von Google, Facebook, Twitter, Zynga und Uber, wenn auch in abgeschiedenen Arealen. Das Festival hinterfragt bestehende Konventionen und bricht bewusst Regeln – genau diese Mentalität wird von den Inhabern der Konzerne gutgeheißen.
Für ständigen Nachschub an Nachwuchstalenten sorgt nicht nur das lockere, offene, aber dennoch elitäre Image des Silicon Valley, sondern auch eine dort ansässige Talentschmiede: die Privatuniversität Stanford. Stanford gilt als eine der besten Universitäten der Welt – zu ihren Laureaten zählen 21 Nobelpreisträgerinnen. Je nach Fakultät rangiert sie auf Platz 1 oder 2 in den USA, verfügt über ein Jahresbudget von über fünf Milliarden Dollar, fast zehnmal so viel wie die größte Universität Deutschlands in Köln. Zusätzlich erhält sie jährlich etwa eine Milliarde Dollar an Spenden, meist von ehemaligen Abgängern, die seither Karriere machten. Die Universität prosperierte nicht zuletzt deshalb, weil sie per Verfügung an allen Erfindungen, die auf dem Campus entwickelt werden, beteiligt ist. So haben die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin für das Entwickeln ihrer Software Einrichtungen der Hochschule in Anspruch genommen. Da sie der Universität dafür keine Entschädigung zahlen konnten, erhielt Stanford im Gegenzug Aktien. Mitglieder des Lehrkörpers wurden Beraterinnen, einige sogar Aktionäre – und der Rektor, John Hennessy, sitzt bis heute im Verwaltungsrat.62 Stanford genießt somit nicht nur den Ruf einer exzellenten Universität. Sie wird auch mit wirtschaftlichen Interessen, ausgehend von den Professorinnen, in Verbindung gebracht, die ihren Studentinnen nicht selten den Rat geben, ihr Studium abzubrechen und gleich eine Firma zu gründen, an welcher die Professoren beteiligt werden. Angesichts der Studiengebühren, die bei durchschnittlich 40.000 Dollar pro Studienjahr liegen, ist das ein attraktiver Vorschlag, der jedoch nur noch schwer mit den konventionellen Werten einer Universität in Einklang gebracht werden kann.
Man mag zweifellos behaupten, dass das Silicon Valley eine zumindest zum Teil in sich geschlossene Einheit bildet, die sich aus einer eigenen Geschichte (der beschriebenen Synthese zwischen dem Hippiekult als Gegenbewegung und dem bereits ansässigen militärisch-industriellen Komplex), dem Glauben an die ubiquitäre Machbarkeit via Technik und der Stanford University als Kaderschmiede zusammensetzt. Aufgrund seines fast magischen Nimbus wirkt das Wüstental überaus anziehend für junge Menschen, die ihre ambitionierten Vorstellungen verwirklichen wollen. Greifen diese Elemente synergetisch ineinander, reproduziert sich diese Kultur kontinuierlich weiter. Möglicherweise sind Abkapselungstendenzen (ähnlich wie im Circle-Roman) gegenüber der »äußeren Welt« vorhanden. Scheint der kritische Gedanke so abwegig, dass sich viele der dort tätigen Personen – die hauptsächlich unter 30 sind – in einer Art Blase befinden? Sie forschen naiv, teilweise unreflektiert – geblendet von dem Charisma des Silicon Valley und dem dort herrschenden technischen Fortschrittsgedanken – und in der Hoffnung, Karriere zu machen, an technischen Anwendungen, die zwar prima facie progressiv zu sein scheinen, für die gegenwärtige Ordnung der Gesellschaft und damit unseren Lebensstil jedoch irreversible Folgen haben können.
Vielleicht sollten wir in Zukunft genauer differenzieren zwischen Berufsfeldern, die traditionellen Zielen dienen, und solchen, deren Tätigkeiten unser Leben auf bislang unbekannte Weise beeinflussen könnten – in letzteren schlummert ein gehöriges Macht- und Gestaltungspotenzial, das mit Aufmerksamkeit und Skepsis behandelt werden sollte, denn sie greifen massiv in unser alltägliches Leben ein, ja verwandeln sogar unsere Perspektive auf das Leben überhaupt. Wir sollten uns immer wieder die grundsätzliche Frage stellen, was wir tatsächlich wollen, wie wir leben möchten und was für uns persönlich richtig sein könnte – Fragen, denen viele von uns gerne aus dem Weg gehen. Denn alle Technologien stiften Abhängigkeiten – pragmatischer, sozialer oder kognitiver Natur.
Vor diesem Hintergrund möchte ich eine These formulieren, die sich mit der Lebensführung junger Menschen in Symbiose mit der Technik auseinandersetzt.
Jeder von uns erhält durch die Art und Weise, wie er sein Leben gestaltet, durch ständige Rückmeldungen von anderen soziale Bestätigung. Um eine positive Rückmeldung zu bekommen, müssen wir uns häufig an die Erwartungshaltung anderer anpassen. Kritische Gedanken, politische Meinungen und Sachverhalte, die ein Konfliktpotenzial beinhalten, werden dabei so weit wie möglich ausgeklammert. Meistens ziehen wir es vor, uns auf einen still vereinbarten gemeinsamen Nenner zu berufen. Auf diese Weise bestätigen wir uns zwar gegenseitig innerhalb der sozialen Gruppe, tendieren aber zugleich dazu, individuelle Zweifel kollektiv auszuräumen. Wir verschwinden mitsamt unserer Skepsis in der Masse. Im Fall der kalifornischen Ideologie scheinen genau diese Mechanismen ineinanderzugreifen. Die herrschende Rolle der Technik unterstützt diesen Mechanismus insofern, als sie den Menschen stets an seine Unvollkommenheit erinnert und ihm zugleich technische »Vervollkommnungsmöglichkeiten« anbietet, die letztlich Abhängigkeiten hervorrufen. Auf diese Weise wird ein Prozess in Gang gesetzt, in dem wir uns als selbstbestimmte und souveräne Wesen zunehmend infrage stellen und wichtige Entscheidungsprozesse der Maschine überantworten.
In dieser These werden vor allem zwei Aspekte hervorgehoben. Erstens: Der Mensch ist ein auf andere Menschen angewiesenes, unvollständiges Wesen, das seine Bestätigung, ja sogar manchmal den Beweis seiner Existenz durch andere »Leidensgenossen« sucht und erfährt.