Der Mensch als Rohstoff. Christian Blasge

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Название Der Mensch als Rohstoff
Автор произведения Christian Blasge
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783853718872



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zwar auf eine positive Weise. Der Weg in die Politik scheint offenbar an Reiz verloren zu haben. Bei vielen Menschen besteht diesbezüglich der Konsens, dass das politische System in den USA bis in seine Grundfesten beschädigt ist und größtenteils durch Interessen der Großkonzerne, großzügige Wahlkampfspenden und Mechanismen des Lobbyismus regiert wird. Der politische Diskurs ist geprägt von Intrigen, Propaganda und wechselseitigen Anfeindungen der jeweiligen Parteien. Allem Anschein nach dreht man sich im Kreis und in der Bevölkerung macht sich zunehmend ein Gefühl der Ohnmacht breit. Eine wirkliche Veränderung lässt sich daher nur schleppend bewirken. Viel leichter kann ein junger Mensch versuchen, seine Zukunftsvorstellungen gemeinsam mit anderen durch die Entwicklung neuer technologischer Anwendungen, ohne Einschränkungen und ohne Rücksichtnahme auf die politische Korrektheit, zu realisieren. Es liegt daher nahe, das Wirken im Silicon Valley auch als ein politisches Statement, nämlich als eines der stillen Rebellion gegenüber dem System zu verstehen. Die ablehnende Haltung gegenüber der Politik kann folgendes Beispiel illustrieren: Als der damalige US-Präsident Barack Obama 2013 den Campus eines Hightechunternehmens besuchte, soll sich ein Mitarbeiter anlässlich des hohen Besuchs mit folgenden Worten geweigert haben, den Arbeitsplatz zu verlassen: »Ich verändere mehr, als irgendjemand in der Regierung es jemals könnte.«58

      Man mag zweifellos behaupten, dass das Silicon Valley eine zumindest zum Teil in sich geschlossene Einheit bildet, die sich aus einer eigenen Geschichte (der beschriebenen Synthese zwischen dem Hippiekult als Gegenbewegung und dem bereits ansässigen militärisch-industriellen Komplex), dem Glauben an die ubiquitäre Machbarkeit via Technik und der Stanford University als Kaderschmiede zusammensetzt. Aufgrund seines fast magischen Nimbus wirkt das Wüstental überaus anziehend für junge Menschen, die ihre ambitionierten Vorstellungen verwirklichen wollen. Greifen diese Elemente synergetisch ineinander, reproduziert sich diese Kultur kontinuierlich weiter. Möglicherweise sind Abkapselungstendenzen (ähnlich wie im Circle-Roman) gegenüber der »äußeren Welt« vorhanden. Scheint der kritische Gedanke so abwegig, dass sich viele der dort tätigen Personen – die hauptsächlich unter 30 sind – in einer Art Blase befinden? Sie forschen naiv, teilweise unreflektiert – geblendet von dem Charisma des Silicon Valley und dem dort herrschenden technischen Fortschrittsgedanken – und in der Hoffnung, Karriere zu machen, an technischen Anwendungen, die zwar prima facie progressiv zu sein scheinen, für die gegenwärtige Ordnung der Gesellschaft und damit unseren Lebensstil jedoch irreversible Folgen haben können.

      Vielleicht sollten wir in Zukunft genauer differenzieren zwischen Berufsfeldern, die traditionellen Zielen dienen, und solchen, deren Tätigkeiten unser Leben auf bislang unbekannte Weise beeinflussen könnten – in letzteren schlummert ein gehöriges Macht- und Gestaltungspotenzial, das mit Aufmerksamkeit und Skepsis behandelt werden sollte, denn sie greifen massiv in unser alltägliches Leben ein, ja verwandeln sogar unsere Perspektive auf das Leben überhaupt. Wir sollten uns immer wieder die grundsätzliche Frage stellen, was wir tatsächlich wollen, wie wir leben möchten und was für uns persönlich richtig sein könnte – Fragen, denen viele von uns gerne aus dem Weg gehen. Denn alle Technologien stiften Abhängigkeiten – pragmatischer, sozialer oder kognitiver Natur.

      Vor diesem Hintergrund möchte ich eine These formulieren, die sich mit der Lebensführung junger Menschen in Symbiose mit der Technik auseinandersetzt.

      Jeder von uns erhält durch die Art und Weise, wie er sein Leben gestaltet, durch ständige Rückmeldungen von anderen soziale Bestätigung. Um eine positive Rückmeldung zu bekommen, müssen wir uns häufig an die Erwartungshaltung anderer anpassen. Kritische Gedanken, politische Meinungen und Sachverhalte, die ein Konfliktpotenzial beinhalten, werden dabei so weit wie möglich ausgeklammert. Meistens ziehen wir es vor, uns auf einen still vereinbarten gemeinsamen Nenner zu berufen. Auf diese Weise bestätigen wir uns zwar gegenseitig innerhalb der sozialen Gruppe, tendieren aber zugleich dazu, individuelle Zweifel kollektiv auszuräumen. Wir verschwinden mitsamt unserer Skepsis in der Masse. Im Fall der kalifornischen Ideologie scheinen genau diese Mechanismen ineinanderzugreifen. Die herrschende Rolle der Technik unterstützt diesen Mechanismus insofern, als sie den Menschen stets an seine Unvollkommenheit erinnert und ihm zugleich technische »Vervollkommnungsmöglichkeiten« anbietet, die letztlich Abhängigkeiten hervorrufen. Auf diese Weise wird ein Prozess in Gang gesetzt, in dem wir uns als selbstbestimmte und souveräne Wesen zunehmend infrage stellen und wichtige Entscheidungsprozesse der Maschine überantworten.

      In dieser These werden vor allem zwei Aspekte hervorgehoben. Erstens: Der Mensch ist ein auf andere Menschen angewiesenes, unvollständiges Wesen, das seine Bestätigung, ja sogar manchmal den Beweis seiner Existenz durch andere »Leidensgenossen« sucht und erfährt.