Название | Der Mensch als Rohstoff |
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Автор произведения | Christian Blasge |
Жанр | Математика |
Серия | |
Издательство | Математика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853718872 |
Der Autor des Circle, Dave Eggers, hat seinen Roman bewusst auf der Basis einer womöglich baldigen Realität konzipiert – doch liegt er mit seiner Warnung, ein Konzern könnte mächtiger als die Politik werden, ja diese sogar vereinnahmen, richtig? Betrachten wir Alphabet, das 2015 – und damit zwei Jahre nach Eggers’ Roman – gegründet wurde und den Zusammenschluss der oben erwähnten Forschungsabteilungen darstellt, müssen wir einräumen, dass sich in dieser Dachorganisation von Anfang an eine große intellektuelle, aber auch politische Macht in den Händen weniger Personen konzentriert hat. Im Januar 2017 ließ Dänemark diesbezüglich verlautbaren, als erstes Land der Welt einen digitalen Botschafter zu ernennen, der die Beziehungen zu den Magnaten Apple, Microsoft und zum Tochterunternehmen von Alphabet, Google, pflegen wird. Die Wirtschaftskraft dieser Firmen hat einen derart hohen Börsenwert erreicht, dass sie nur knapp den Einzug in die Gruppe der 20 weltweit größten Volkswirtschaften (G-20) verpassen dürften. Eine Aussage des dänischen Außenministers Anders Samuelsen bringt den politischen Einfluss der digitalen Großkonzerne auf den Punkt:
Diese Konzerne sind eine Art neue Nationen geworden, und dazu müssen wir uns verhalten. […] Das sind Firmen, die Dänemark genauso beeinflussen wie ganze Länder.54
Dänemark erhofft sich bei neuen technologischen Entwicklungen sowie den darauffolgenden politischen und ethischen Herausforderungen die Nase vorn zu haben und für digitale Investoren ein attraktives Land zu werden. Die Anbiederung der Politik an die großen Hightechkonzerne lässt tief blicken – erste Anzeichen eines Abhängigkeitsverhältnisses sind deutlich zu erkennen. Gegenwärtig haben viele europäische Regierungen eigene Ministerien eingerichtet, die sich ausschließlich mit der Digitalisierung beschäftigen.
Jedes Teilunternehmen von Alphabet stellt an sich schon ein Ballungszentrum an Know-how bzw. Brainpower dar. Es ist aber die Synthese aller neun Töchter, die sich gegenseitig befruchten, unterstützen und ihre Daten zusammenfügen, die dem Unternehmen erst das Fundament verleihen, weitreichende Veränderungen unseres Lebens zu bewirken. Google bzw. Alphabet verfügt über ausreichend flüssiges Kapital – 2017 betrug der reine Gewinn des Unternehmens 16,6 Milliarden Dollar –, um aufstrebende Start-up-Unternehmen mit ihren revolutionären Ideen aufzukaufen. Mit Stichtag 31. Dezember 2019 arbeiteten 118.899 Personen für Alphabet und im Geldspeicher des Unternehmens liegen heute ca. 120 Milliarden Dollar. Die Liste der seit der Gründung von Google 1998 gekauften Unternehmen wäre zu lang, um sie hier abzudrucken. Heute, im Jahr 2020, rangiert Alphabet auf Platz vier der größten börsennotierten Unternehmen nach Marktkapitalisierung – davor liegen Microsoft, Apple und Amazon. Fraglich bleibt, ob der Börsenwert eines Unternehmens mit seiner faktischen Macht und seinem politischen Gestaltungspotenzial gleichzusetzen ist.
Auf einen zentralen Aspekt muss in diesem Kontext noch hingewiesen werden: Google kann durch seine Suchmaschine und seine Videoplattform (YouTube) den weltweiten Prozess der Meinungsbildung durch inhaltliche Selektion beeinflussen. So musste sich der Konzern gegenüber der Kritik verteidigen, bei Suchanfragen bezüglich der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton im Wahlkampf 2016 die Ergebnisse manipuliert zu haben, um Clinton in einem besseren Licht erscheinen zu lassen.55 In seinem Transparenzbericht dokumentiert Google Anfragen von Regierungen, gezielt bestimmte Inhalte aus der Suchmaschine, YouTube oder anderen Google-Produkten zu löschen.56 Ohne einen Einzelfall untersucht zu haben – diese Fälle sind öffentlich nicht zugänglich –, kann es einen Laien verwundern, dass Regierungen mit ihren Staatsanwälten bei Google entscheiden, welcher Inhalt als glaubwürdig bezeichnet werden kann und welcher nicht. Selbstverständlich sollten staatliche Behörden ein Interesse daran haben, den Jugendschutz ernst zu nehmen, die Privatsphäre seiner Bürgerinnen und Bürger zu achten oder hetzerische Beiträge bzw. Videos gegenüber Minderheiten beim Betreiber zu melden. Jedoch geht in der Kategorie der nationalen Sicherheit jegliche Transparenz verloren. Wenn laut Google eine Regierung per gerichtlicher Anordnung verfügen kann, dass bestimmte Inhalte, die gegen sie selbst gerichtet sind, gelöscht werden sollen, muss man als mündige Bürgerin für das Recht der Meinungsfreiheit eintreten. Ohne irgendeiner Institution Boshaftigkeit oder Zensur unterstellen zu wollen – das Missbrauchspotenzial von Instrumenten der Meinungsbildung ist immer zu bedenken.
Auf den letzten Seiten wurde eine Entwicklung dokumentiert, die aufzeigt, dass aus der Symbiose zwischen Regierungen, die an der Macht bleiben und ihre Fehltritte kaschieren wollen und Großkonzernen, welche prinzipiell in gewissen Sparten über Monopolstellungen verfügen und diese lukrativ nützen wollen, gefährliche Szenarien entwachsen können. Der Zwiespalt zwischen Privatsphäre und Sicherheit spielt gegenwärtig eine wichtige Rolle. Aufgrund der Vielzahl an terroristischen Anschlägen wird der Aspekt der Sicherheit zunehmend an Bedeutung gewinnen – auf Kosten der Privatsphäre.
Die neuen Technologien von Alphabet, aber auch von anderen Hightechunternehmen bieten faszinierende Möglichkeiten und Chancen für die Zukunft. Gleichzeitig bergen manche von ihnen die Gefahr, unsere zwischenmenschliche Kommunikation zu verändern, uns von ihren Produkten abhängig zu machen, jeden Mausklick auf unbestimmte Zeit zu dokumentieren und Regierungen Instrumente der Kontrolle in die Hände zu geben. Wir sollten diesen Trend also mit Argusaugen beobachten.
Die kalifornische Ideologie: Gegenkultur, Silicon Valley und Stanford
»Am Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht sich schließlich die lange prophezeite Konvergenz der Medien, der Computer und der Telekommunikation zu einem Hypermedium. Wieder einmal ist die unermüdliche Begierde des Kapitalismus, die kreativen Kräfte des Menschen zu diversifizieren und zu intensivieren, auf dem Sprung, die Weise, wie wir arbeiten, spielen und zusammen leben, qualitativ zu verändern. Durch die Integration verschiedener Technologien mittels gemeinsamer Protokolle wird etwas erzeugt, was mehr als die Summe seiner Teile ist. […] In diesem entscheidenden Augenblick hat ein loses Bündnis von Autoren, Hackern, Kapitalisten und Künstlern die Definition einer heterogenen Orthodoxie für das kommende Informationszeitalter geschaffen: die kalifornische Ideologie.«57
Richard Barbrook (*1956) und Andy Cameron
Die kalifornische Ideologie hat ihren Ursprung in den späten 1960er-Jahren. Sie kann als eine Art Gegenbewegung zum konservativen Establishment aufgefasst werden – auch wenn Google, Facebook, Apple und Co. mittlerweile selbst eine Art Establishment repräsentieren. Damals gingen hauptsächlich junge Menschen gegen den US-Imperialismus, der sich durch den Krieg gegen das kommunistische Nordvietnam (1964−1975) äußerte, gegen Rassismus, Sexismus, geistlosen Konsum und Umweltverschmutzung auf die Straße. Sie forderten eine soziale Revolution und propagierten einen Lebensstil frei von bürgerlichen Tabus und Zwängen. Diese Gegenkultur hatte großen Einfluss auf die damalige Musikszene, auf die Filmindustrie und auf die Kunst. Komplettiert wurde die Rebellion durch den Gebrauch psychedelischer Substanzen wie LSD, was ihr in der öffentlichen Wahrnehmung und ihrer Authentizität nachweislich geschadet hat. Dennoch ist diese revolutionäre Gegenbewegung, die abschätzig als Hippiekultur bezeichnet wurde, nicht verschwunden – sie hat sich lediglich emanzipiert. Die aus ihr entstandene kalifornische Ideologie zeigt, dass die Ambitionen jener jungen Menschen, die heute im Silicon Valley die Welt zu verändern versuchen, mehr sind als lediglich die Aussicht auf monetären Reichtum und Anerkennung.
In einer Welt, in der das Streben nach materiellem Wohlstand im Vordergrund steht und als ein zentrales Merkmal von Erfolg gilt, stellt die Akkumulation von Geld ein entscheidendes Motiv für die berufliche Tätigkeit dar. Aber Geld und Wohlstand allein dürften