Mycrofts Auftrag. Beate Baum

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Название Mycrofts Auftrag
Автор произведения Beate Baum
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946938392



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verließ, dachte John, dass der Entzug jeglicher Fälle als Drohung, als erzieherische Maßnahme, vermutlich wirkungsvoller war als alles andere. Gleichzeitig packte ihn die nackte Angst: Es gab keinen Weg, den Freund zur Rehabilitation zu zwingen, und ein Sherlock Holmes ohne Arbeit, ohne zu lösende Fälle, würde vollkommen hemmungslos Drogen konsumieren.

      2. Kapitel

      »Ich wollte dich bei diesem Fall dabeihaben«, begann Sherlock, kaum dass die Tür hinter seinem Bruder ins Schloss gefallen war, als wäre das im Augenblick wichtig. »Aber du warst so verletzt bei meinem Auftauchen, dass ich dachte, du bist nicht scharf darauf, wieder mit mir zusammenzuarbeiten.«

      Das durfte doch nicht wahr sein, dachte John. Sherlock hatte sich Gedanken über seine Gefühle gemacht, die einzige Konsequenz für ihn war jedoch gewesen, den aktuellen Fall allein zu lösen. Was aber auch wieder keinen rechten Sinn ergab, denn niemand wusste besser als Sherlock, wie sehr er die aufregenden und gefährlichen gemeinsamen Einsätze geliebt hatte. Und niemand sollte besser wissen, wie er sie vermisste.

      Dennoch reagierte er nicht darauf. Hier und jetzt ging es nicht um ihn. »Also in Afghanistan bist du heroinsüchtig geworden?«, fragte er stattdessen so sachlich wie möglich zurück.

      »Ich bin nicht heroinsüchtig.« Sherlock legte Gewicht auf jede einzelne Silbe, schaute dann zu der Tür, die wieder geöffnet worden war.

      »Dr. Watson, der Schichtwechsel steht an.« Unschlüssig verstummte die Krankenschwester.

      John nickte. »Natürlich, vielen Dank noch einmal. Ich gehe davon aus, dass es keine besonderen Vorkommnisse in der Nacht gab?«

      Die junge, hübsche Frau schüttelte den Kopf, schien dann zu realisieren, dass die Antwort nicht eindeutig war und murmelte etwas, das alles in Ordnung gewesen sei.

      »Bitte sagen Sie ihm, dass ich nicht um eine Spritze gefleht und mich in Qualen hier herumgewälzt habe«, verlangte Sherlock.

      John reichte ihm die Tasche, die er für den Freund gepackt hatte. »Mach dich fertig, damit wir den anonymen Patienten entlassen können.«

      *

      »Wenn du solche Schlafprobleme hast, bekommst du keinen Kaffee«, bestimmte John, als sie den kleinen Selbstbedienungs-Imbiss in einer Seitenstraße hinter dem Krankenhaus betraten. »Und du wirst etwas essen.«

      »Nicht dein Ernst«, gab Sherlock mit Blick auf die beschlagene Theke mit der wenig appetitlich wirkenden Auslage zurück. In dem dunklen Hemd zur Anzughose sah er zwar immer noch sehr bleich aus, wirkte aber fast wie immer.

      Obwohl John lachen musste, entgegnete er: »Mein voller Ernst.« Leise, damit der Pakistani hinter der Theke ihn nicht hören konnte, fuhr er fort: »Nimm ein abgepacktes Sandwich, das wird schon in Ordnung sein«, wartete keine Antwort ab, sondern fragte den Mann, ob er Kräutertee habe.

      Sherlocks Protesten zum Trotz holte er für ihn einen Becher Kamillentee und ein Truthahnsandwich, für sich selbst nur einen schwarzen Kaffee.

      »Fünf Pfund«, sagte sein Freund, als sie sich an einen der schmierigen Resopaltische setzten.

      »Was, fünf Pfund?«

      »Fünf Pfund hast du zugelegt.«

      »Höchstens drei.«

      Sherlock musterte ihn noch einmal eingehend und schüttelte den Kopf.

      Johns Eitelkeit war gekränkt, etwas anderes war ihm jedoch wichtiger: »Damit das klar ist: Wenn ich dich nicht in eine der Kliniken bringe, gelten dennoch knallharte Regeln. Keinerlei Drogen, nichts, was eine Kindergärtnerin nicht auch ihren Schützlingen geben würde.«

      Sherlock seufzte übertrieben. »Ich bin mir nicht sicher, ob das auf dieses Sandwich zutrifft.«

      John grinste, ging jedoch nicht darauf ein. »Das ist ein anderes Stichwort: Mindestens eine vernünftige Mahlzeit pro Tag. Du könntest die fünf oder wenigstens die drei Pfund gebrauchen, die ich jetzt mehr auf den Rippen habe.« Bevor Sherlock, der sein Sandwich bereits wieder auf den angeschlagenen Teller gelegt hatte, etwas sagen konnte, fuhr er fort: »Dir ist schon klar, dass die Schlafstörungen mit dem Entzug erst mal noch schlimmer werden?« Er trank einen Schluck von dem Kaffee, der nicht annähernd stark genug war, um die Müdigkeit zu vertreiben.

      »Es ist kein Entzug!«

      »Natürlich ist es einer. Stell dich nicht dumm, das steht dir nicht! Dein Körper reagiert auf das fehlende Gift, ob du dich nun in Zuckungen auf dem Boden wälzt oder es schaffst, hier entspannt zu sitzen. Und erzähl mir nicht, dass ein Teil von dir nicht genau in diesem Moment an deinen Vorrat zwischen deinen Socken, in dem marokkanischen Pantoffel und der Kleingeldtasse oder unter dem falschen Boden der antiken Schmuck-Schatulle denkt.« An dem winzigen Zucken des linken Auges merkte er, dass er ins Schwarze getroffen hatte. »Ich gehe davon aus, dass ich alle deine Verstecke aufgespürt habe. Auf jeden Fall habe ich beängstigend viel Stoff gefunden. Dennoch werde ich Lestrade bitten, noch einmal jemanden mit Drogenhunden in die Wohnung zu schicken.«

      John fiel es immer schwer, die Mimik seines Freundes zu deuten. Wenn er es darauf anlegte, war Sherlock ein dermaßen guter Schauspieler, dass er auch ihn mühelos aufs Eis führen konnte. Jetzt hätte John schwören können, der Jüngere sei froh über seine Entschlossenheit, das passte aber so wenig zu Sherlock Holmes, dass er dem Eindruck misstraute.

      »Wenn du noch in der Giftbox am Mikroskop nachschaust, müsstest du alles haben«, sagte Sherlock mit neutralem Gesichtsausdruck. Er probierte den Tee und stellte den Steingutbecher mit angeekelter Miene wieder hin.

      Natürlich, der logischste Ort, dachte John und sagte: »Die Hunde gehen trotzdem noch mal durch«, um gleich darauf laut auszubrechen: »Verdammt, Sherlock, das ist mehr als jeder Hardcore-Fixer in einer Woche braucht!« Als er den Blick des Imbissbetreibers registrierte, fuhr er leiser fort: »Wenn ich dann noch daran denke, wie ich dich gestern gefunden habe …«

      Er musste den Satz nicht beenden, sein Freund wusste, was er meinte: Dass er ihn doch in eine der Kliniken auf Mycrofts Liste bringen sollte.

      Sherlock sagte nichts. Ganz aufrecht saß er da, die langen, schmalen Hände aneinanderlegt, das Kinn auf den Fingerspitzen, und sah ihn an. John trank seinen Kaffee aus, machte sich selbst noch einmal klar, dass er bloß ein ganz normaler Allgemeinmediziner war, kein Experte für Suchtkrankheiten, vor allem aber, dass kein Arzt jemals Familienmitglieder oder Freunde behandeln sollte.

      »Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass es für einen Fall war?«, fragte Sherlock schließlich ruhig.

      »Ach! Du dröhnst dich für eine Ermittlung zu?« Es klang nicht so kühl und zynisch, wie es sollte. Zu gekränkt war John über diesen plumpen Versuch, ihn zu manipulieren. Hatte nicht gerade doch der Fuß des Freundes unter dem Tisch unkontrolliert gezuckt? Definitiv litt er unter Kopfschmerzen, er rieb sich die Schläfen und kniff die Augen zu.

      »Nein, das nicht. Es ist eine Kombination – zugegebenermaßen eine nicht gerade glückliche Kombination – von meinen Angewohnheiten und einem Fall. Gestern ist das danebengegangen. Ich war nachmittags für meine Klientin unterwegs und gezwungen, etwas zu konsumieren, und habe mir dann trotzdem mein Schlafmittel gegönnt.« Er ließ die Hände sinken. »Es tut mir leid, dass du mich so gefunden hast. Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein.«

      »Warum sollte ich dir glauben?«, fragte John müde und überlegte, ob ein zweiter Kaffee helfen würde, griff stattdessen nach Sherlocks Sandwich und biss ein Stück ab.

      »Weil ich nicht nur keine – gut, kaum – Entzugserscheinungen habe, sondern auch noch all meine Fähigkeiten? Weil ich dir sagen kann, dass der Mann hinter der Theke, den du für einen Pakistani hältst, in Wirklichkeit Syrer ist, ein Augenarzt, der hier in England aber keine Arbeitserlaubnis bekommt, weswegen er, anstatt Grauen Star zu operieren, dieses ungenießbare Essen verkauft?«

      »Zumindest mit dem letzten Adjektiv hast du recht.« John legte das Sandwich zurück. Der Detektiv saß mit dem Rücken zum Imbissbetreiber und vermutlich stimmte trotzdem wieder einmal alles, was er hergeleitet hatte – deduziert,