Der Ausweg. Gundolf S. Freyermuth

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Название Der Ausweg
Автор произведения Gundolf S. Freyermuth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870219



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das Gegenteil. Erst als er genauer hinsah, änderte er seine Ansicht.

      2

      Die Frau war seit zwei Dutzend Jahren kein Teenager mehr, und sie sah aus, als wüsste sie das Beste daraus zu machen. Die hohen Wangenknochen waren gerötet, von Rouge und von Alkohol und von Lust nach mehr. Sie streckte ihm ihre Hand hin.

      „Ich bin Gallathea Kelling“, sagten ihre karmesinroten Lippen dazu.

      Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, um ihren Körper besser taxieren zu können. Weit kam er damit nicht. Schon zwei Handbreit unter dem Kinn blieben seine Augen hängen, da, wo nur weiße Haut war und gewölbtes Fleisch . Erst knapp vor den Brustwarzen, deren harte Erhebungen sie als Spitzen der darunterliegenden Eisberge verrieten, schwebten halbdurchsichtige Fetzen schwarzen Musselins. Sie wurden allem zum Trotz, was man Harry Mann in der Schule über Naturgesetze erzählt hatte, von einem Nichts gehalten, das sich in Richtung Rücken ahnen ließ.

      „Sie wollen doch reinkommen, oder?“

      Der spöttische Unterton in ihrer Stimme drang nur schwach durch den Schleier seiner Gedanken. Die Frau war schön, entschieden zu schön. Wenn es auf der Welt gerecht zuginge, wäre sie Kellings Tochter und nicht seine Ehefrau. Harry Mann stand da, starrte sie an und nickte mechanisch. Gallathea Kelling schüttelte ihr halblanges gelocktes Haar, das tiefschwarz ihr weißes, leicht slawisches Gesicht einrahmte, und ihre Zähne lächelten dazu so grell und einladend wie eine frische Schneelandschaft.

      „Wie wär’s, wenn Sie’s dann jetzt täten? Reinkommen, meine ich.“ Sie lehnte sich zurück an die Tür und kreuzte die Beine.

      „Tut mir leid“, sagte er und setzte unwillkürlich zu einer seiner weitschweifigen Entschuldigungen an, ohne den Blick von Gallathea Kelling abwenden zu können.

      „Mein Mann erwartet Sie im Esszimmer“, unterbrach ihn die Frau in der Tür. Und Harry Mann, Idiot, der er war, stellte sich gleich vor, wie es wäre, wenn nicht nur ihr Mann sich etwas von diesem Abend erwartete.

      Gallathea Kelling ging ein paar Schritte voraus. Sie war eher klein, um die einssechzig, und balancierte leicht schwankend auf extrem teuren und extrem hochhackigen Schuhen. Ihren straffen, durchtrainierten Körper hatte sie in einen signalroten Rock von unglaublicher Enge gezaubert.

      Mann folgte ihr und bewunderte die üppige Rückseite seiner Gastgeberin. Sie hatte einen kräftigen Hintern, und der Rücken darüber war bis auf zwei Muttermale und einen millimeterdünnen Faden, der die dürftige Bedeckung der Vorderseite in Schwebe hielt, vom Nacken bis zum tiefen Ansatz des Rockes nackt.

      Als hätte sie seinen Blick auf ihrer Haut gespürt, drehte sie sich zu ihm um und wartete, bis er neben ihr war.

      „Hatten Sie Schwierigkeiten, zu uns herauszufinden?“

      „Natürlich.“

      Kellings Frau machte ihn auf Anhieb unsicher, und wie immer wenn er unsicher war, wurde er schroff. Ein wenig zu demonstrativ schaute er sich um.

      Das Haus war in den sechziger Jahren gebaut worden, als alle Welt unbedingt einen Bungalow im Grünen wollte. Die Halle war groß, mit grünem Velours ausgelegt und von afrikanischer Kunst umstellt. Die primitiven Kultgegenstände passten hervorragend zum übersinnlichen Hüftschwung der Frau neben ihm. Alles in diesem Haus war zu schön und zu teuer. Allein das Wenige, was die Gastgeberin am Leibe trug, hatte soviel Geld gekostet, dass es Kelling bei aller Liebe jedes Mal leid tun musste, wenn sie sich auszog.

      Woher, überlegte Harry Mann, nahm der kleine Abteilungsleiter einer kleinen Import-Export-Firma mit seinen, wenn’s hochkam, zehn brutto im Monat das Geld für so ein Haus und für so eine Frau?

      Neid, der gute, verlässliche Neid und beste Ratgeber in allen kitzligen Lebensfragen, stieg in ihm auf.

      Sie hatten die gut zehn Meter lange Halle durchquert, und Kellings Frau öffnete die Tür zu einem Raum, der mühelos als Operationssaal durchgegangen wäre. Auf dem Boden lagen weiße Kacheln, an den Wänden glänzte weißlackierte Raufaser. In dem angeblichen Esszimmer war nicht gedeckt.

      Der Raum war so gut wie leer. Außer einem Glastisch mit weißen Metallfüßen, sechs schwarzweißen Lederstühlen in der unbequemen Bauhaus-Tradition, einer klobigen Bodenvase mit Schachbrettmuster und einer bunten Neonröhre sah Mann lediglich einen schlechten Chagall sowie einen hageren, leicht gebückten Herrn an der Grenze zum Greis, der sich beim Geräusch der Tür umdrehte.

      „Ah, Harry, gut, dass Sie doch noch gekommen sind!“

      Kelling wirkte aufgekratzt. Er hatte sich in einen tropenhellen Kolonial-Einreiher geworfen, garniert mit einem blaurotgrüngestreiften Schlips aus dem Diners-Club-Sonderangebot, dazu ockerfarbene italienische Schuhe mit eingelegtem Strohgeflecht und weißen Spitzen. Der typische Nordland-Gigolo mit einem Hauch von Adria.

      Mann sprach die notwendigen Floskeln und wich dem musternden Blick des Gastgebers vorsichtig aus. Der Alte überprüfte als erstes die Kleidung seines künftigen Stellvertreters, pingelig wie sonst kaum, aber wohl mit positivem Abschluss. Entlastung gewährt.

      Die Frau des Hauses stand dabei und lächelte arrogant. Mann musste sich alle Mühe geben, nicht auf ihr Dekolleté zu starren.

      „Schön haben Sie’s hier“, sagte er, um sich abzulenken. Da er altdeutsche Eichenmöbel erwartet hatte, betrachtete er die Einrichtung mit kaum geheuchelter Bewunderung.

      „Meine Frau ...“, sagte Kelling ungewöhnlich kraftlos und lächelte ihr zu. „Sie hat ihr Talent zur Innenarchitektin entdeckt.“

      „Ich kümmere mich um Irene.“ Die Stimme der schönen Gallathea hatte einen bösen Unterton, als sie sich zum Gehen wandte.

      „Hmmh“, murmelte Kelling, „mach das.“

      Der alte Kraftmeier fühlte sich in seinen eigenen vier Wänden sichtlich unwohl. Und er schien, zu Manns ziemlicher Überraschung, unter der Fuchtel zu stehen.

      Mit einer bedauernden Geste wies Kelling quer durch den Raum, während sein Blick dem nackten Rücken mit den zwei Muttermalen auf dem Weg durch den Wintergarten hinaus auf die Terrasse folgte. Erst als seine Frau außer Hörweite war, verzog er den Mund zu einem überlegenen Lächeln und zeigte auf den Kachelboden.

      „Letztes Jahr lag hier noch flauschiger Teppichboden, und wir lümmelten uns auf einer kackbraunen, knapp kniehohen Sitzlandschaft.“ Kellings Stimme war jetzt wieder zu laut wie immer. „Ein Schlückchen Champagner?“

      Mann nickte.

      „Tja“, sagte Kelling, „heute ist ein wichtiger Abend.“

      „Sie haben etwas zu feiern?“ Mann gab seiner Stimme einen leicht empörten Unterton. „Das hätten Sie mir sagen müssen ...“

      Kelling winkte ab und grinste wie Kater Karlo. „Es geht nicht um uns, es geht um Sie, mein Lieber. Wenn Sie wollen und sich nicht allzu blöd anstellen ...“

      Befriedigt über seine verworrenen Andeutungen, stiefelte er zu einem Tisch mit einer improvisierten Bar, der im Wintergarten stand.

      Mann wusste nicht, was er dem alten Mann antworten sollte. Wie immer, wenn er mit ihm sprach, beschlich ihn das Gefühl, in einen großdeutschen Spielfilm geraten zu sein. Kelling hatte eine fatale Neigung, diese vierschrötigen Helden-Jungs zu imitieren: sexy wie Kruppstahl und dumm wie die Sünde. Oder umgekehrt. Es kam nicht so genau drauf an bei Männern wie Kelling, bei diesen Psycho-Krüppeln aus der großen Vergangenheit, schneidig und servil, vielseitig verwendbar und von ihrer Hitlerjugend an missbraucht.

      Spannender war seine Frau. Mann schätzte sie auf drei, vier Jahre älter als er selbst, also Anfang Vierzig.

      „Geheiratet haben wir erst“, hatte Kelling ihm bei ihrem ersten Abendessen mit Lüstlingszwinkern anvertraut, „als die Sozis die neuen Scheidungsgesetze machten.“

      Bestimmt hatte der alte Knabe damals, in den frühen siebziger Jahren, bunte Nyltesthemden getragen und einen roten Sportwagen mit weißen Ledersitzen gefahren, ein toller Fang für eine Sekretärin