Der Ausweg. Gundolf S. Freyermuth

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Название Der Ausweg
Автор произведения Gundolf S. Freyermuth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870219



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Berlin, wo die Hauptstadt der Flippies und der halbseidenen Subventionskünstler jede Dumpfheits-Konkurrenz mit der fernsten Provinz im fernen Wessieland gewann.

      Nicht gerade Manns Milieu. Je näher er seinem Ziel kam, desto mehr versprach es einer dieser Abende zu werden, die man am besten überstand, indem man immer mehr trank und immer weniger Worte machte.

      „Bla-bla-bla“ ging es durch seinen Kopf, bis ihm die Melodie dazu einfiel und er es leise in die heiße Abendluft sang: „Bla-bla-bla, Ba-Bar-bra-Ann, I love you more than you ever can.“

      Das war natürlich Stuss.

      Eine Barbara hatte er nie gekannt, Anne liebte er schon lange nicht mehr, und auf das Bla-Bla, das Kelling über ihn ergießen würde, hatte er verdammt wenig Lust.

      Keine Ahnung, was der Alte von ihm wollte. Nur dass er etwas im Schilde führte, daran konnte es keinen Zweifel geben. Mit seinem mal großmäuligen, mal verschwörerischen, immer aber gönnerhaften Gerede war er ihm so lange auf die Nerven gefallen, bis Mann den geplanten Wochenendtrip nach Hamburg verschoben und Kellings Einladung angenommen hatte.

      Allmählich wurden die Häuser größer und die Auffahrten länger. Unter zwei Garagen bekam man hier wahrscheinlich keine Baugenehmigung.

      Harry Mann war von ganzem Herzen unzufrieden.

      Anfang der Woche hatte er in der weisen Einsicht, dass es so nicht weiterging, den ersten Arbeitsvertrag seines langen arbeitslosen Lebens unterzeichnet. Fünf Tage später wurde ihm bereits die Rechnung präsentiert. Von heute an würde er nicht mehr drum herum kommen, zu öden Abendgesellschaften in neudeutsche Nobelvorstädte zu pilgern und zwischen Flachbungalows, Bonsai-Gärtchen, Rasensprengern und Hollywoodschaukeln für den Verrat an den Idealen seiner Jugend zu büßen.

      Derlei Horrortrips gehörten nunmehr zu seinen erweiterten Berufspflichten.

      Je länger er darüber nachdachte, desto mehr begann er sich selbst auf die Nerven zu gehen, also drehte er das Radio an und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Suche nach dem richtigen Straßenschild zu. Bis jetzt hatte der Freitagabend nach Holzkohlenfeuer und gegrilltem Fleisch gerochen. Die Gegend hier stank nach Geld. Was zumindest jeden ärgern musste, der keins besaß.

      Es wurde neun Uhr, eine nölige Stimme verlas die Nachrichten. In Spanien hatte eine Chartermaschine den Kamikaze gemacht, woran man sehen konnte, dass immer noch Urlaubszeit war, und in Afghanistan spielten die Russen halbherzig Vietnam, wie um zu beweisen, dass sie auch wirklich in allem zwanzig Jahre hinter den Amis herhinkten.

      Die Katastrophen dieser Welt interessierten Harry Mann herzlich wenig. Seine eigenen Schwierigkeiten reichten ihm vollauf.

      Die zweite Hälfte der Nachrichten nahmen langatmige Meldungen über die Bonner Korruptions-Arie ein. Selbst die Skandale waren langweilig. Er erklärte dem Radio-Heini in Gedanken zum xten Mal, dass er damit nichts zu tun haben wollte, weshalb er ihn mal könne, schaltete aus und sah im Rückspiegel zu, wie die elektrische Antenne im Heck des Cabrios versank.

      Alle drei-, vierhundert Meter ging eine weitere saubere Teerstraße ab. Ein Weg namens Am Rehwinkel war schon seit einer Viertelstunde nicht dabei.

      „Also, wir sehen Sie um acht“, hatte Kelling gesagt, bevor er heute Mittag direkt vom Arbeitsessen in die Freizeit geglitten war. „Meine Frau freut sich, Sie kennenzulernen. Und nicht nur sie kann’s kaum erwarten ...“

      Harry Mann hasste den aufgeräumten Ton seines zukünftigen Chefs, diese immer etwas zu laute Mischung aus Stabsoffizier und Feldwebel. Wie viele Leute kamen, hatte Kelling nicht verraten, und er hatte versäumt, danach zu fragen. Er war spät dran. Wenn es eine kleine Einladung war, schlichen alle schon eine Weile mit gierigen Blicken um den gedeckten Tisch herum und verfluchten den säumigen Gast.

      Ein paar Sekunden spielte er mit dem Gedanken, einfach umzukehren. Auf seinem zerfledderten und verfalteten Faltplan ließ sich der Winz-Weg, in dem Kelling wohnte, nicht finden. Zudem war Wochenende, und er würde wenig Mühe haben, in einer der Bafög-Discos eine Frau für die Nacht aufzutun. Am Montag konnte er dann Kelling im Büro anrufen und behaupten, den Zettel mit der Adresse verloren zu haben; im ordinären Telefonbuch stand der wichtige Herr ja nicht.

      Aber bevor er sich zu einem Entschluss aufraffte, der sein vertrautes Dasein hätte retten können, entdeckte Harry Mann das richtige Straßenschild.

      Natürlich war es eine kleine Einladung. Vor dem Haus Am Rehwinkel Numero sieben, einem beige verputzten Flachbau, der von einem überraschend weitläufigen Grundstück umgeben war, parkte nur ein Wagen, ein dunkelblauer Jaguar mit US-Kennzeichen.

      Auf den Vordersitzen der Limousine lümmelte sich ein dottergelbhaariger Punkjunge. Er hatte die Fenster heruntergelassen und beschallte das ausgestorbene Villenviertel mit englischsprachigem Lärm. Seine hochhackigen Schuhe bearbeiteten das Armaturenbrett. Jemand stellte unmelodisch die Frage, wer Bambi abgeknallt habe. Auch nicht mehr das Neueste vom Neuen, aber die Begeisterung des Punkie war ungebrochen.

      Den Golf parkte Mann bescheiden hinter dem Jaguar. Das Verdeck ließ er offen. Mit ziemlicher Sicherheit war heute einer der zehn Tage, an denen es in diesem Jahr östlich der Elbe nicht regnete.

      Im Vorbeigehen nickte er dem Punkie in der Limo zu, was der geflissentlich nicht bemerkte. Er trug eine blaugrüne Chauffeursuniform im strengen Military-Stil, garantiert nach Maß geschneidert.

      Aus den Augenwinkeln beobachtete Mann den abschätzigen Blick, mit dem der Junge seine Durchschnittsklamotten streifte. Das Urteil konnte Mann ihm ansehen: Opa hatte einfach nicht die richtige Klasse, zu schluffig und zu billig. Für die In-Kids war hartes Styling angesagt, die brutale Schlichtheit des Luxus.

      Das schmiedeeiserne Gittertor zu Kellings Grundstück stand offen. Irgendwie beleidigt ging Mann den leicht geschwungenen Weg hinauf zur Eingangstür. Um den künstlichen Goldfischteich im Vorgarten flirrte die Luft noch in Erinnerung an die Hitze des Tages. Die Missachtung des Punkies ärgerte Harry Mann, und dies umso mehr, als er sich in seiner Stoffhaut selbst unwohl fühlte. Er hatte die helle Sommerhose mit der ekelhaft geraden Bügelfalte angezogen, dazu das dunkelblaue Jackett mit den dicken Goldknöpfen à la Admiral. Eine Kombination, wie er sie, im Einklang mit seinem sorgfältig gestutzten schwarzen Kinnbart, den er seit einem halben Jahr kultivierte, nicht hätte spießiger wählen können.

      Genau der richtige Aufzug für diese Einladung, hatte er sich ausgerechnet, und zumindest die Architektur des Viertels gab ihm recht. Die Häuser zeugten von der erlesenen Einfallslosigkeit ihrer Bewohner, Rudolf Kellings mittelriesiges Eigenheim, komplett mit drei Garagen, machte da keine Ausnahme. Viel Glas und viele Meter teure Gardinen, hinter denen sich das Treiben der Nachbarn unauffällig beobachten ließ. Antike Muster zierten die bronzene Haustür und kündigten teure Stilmöbel an, die Mann fast mehr noch verabscheute als die billigen Bowlen, die in solchem Ambiente unweigerlich serviert wurden.

      In Erwartung viel neureichen Elends drückte er den breiten Klingelschalter eher zart. Über die Lebensart der Aufsteiger hatte er einiges gehört, seit seine besten Freunde Karriere machten. Noch war ihm keiner untergekommen, der es nicht bereut hätte, dass er seinen Langzeit-Protestmarsch durch die Billig-Szene abgebrochen hatte und der Verlockung eines regelmäßigen Einkommens erlegen war.

      Kelling konnte die Existenz, die Harry Mann bisher geführt hatte, nicht verborgen geblieben sein. Warum zum Teufel stellte er ihn dann ein, warum hatte er einen Narren an ihm gefressen? Eine halbwegs plausible Antwort auf diese Frage suchte Mann seit seinem ersten Vorstellungsgespräch vergeblich.

      Niemand kam, um ihn hereinzulassen.

      Nach einer Weile drückte er wieder den breiten Schalter, diesmal mit mehr Gewalt und Ausdauer. Im Innern des Bungalows brach ein Getöse los, das an afrikanische Fruchtbarkeitstänze erinnerte. Der erste Eindruck ließ Schlimmstes befürchten. Wer so wohnte, besaß den Geschmack eines Kaufhausdekorateurs.

      In das elektronische Tamtam hinein wurde geöffnet. Im selben Augenblick fiel ihm der Blumenstrauß ein, den er nicht gekauft hatte.

      „Harry Mann“, sagte er und verbeugte sich leicht. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin ...“