Название | Vom guten Tod |
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Автор произведения | Reiner Sörries |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766642837 |
Konsequent war das Bestreben, in der Friedhofskultur das individuelle Einzel- oder Familiengrab durch kollektive Bestattungen in Urnengemeinschaftsanlagen zu ersetzen. Gleichermaßen versuchte man, anstelle individueller Trauerfeiern kollektive Gemeinschaftstrauerfeiern anzubieten, bei denen jeweils mehrere Verstorbene gleichzeitig verabschiedet und beigesetzt wurden. Mit der Ausarbeitung einer inhaltlichen und gestalterischen Grundlage einer sozialistischen Friedhofskultur war das Institut für Kommunalwirtschaft beauftragt worden.
Freilich musste man sich auch mit dem Problem auseinandersetzen, dass Kinder und junge Menschen starben, dass Menschen mitten aus dem Leben gerissen wurden, deren Tod einer Erklärung bedurfte. Hier griff die Grundüberzeugung des Materialismus, dass der Mensch ein Teil der Natur ist, die an sich keine Erklärung erlaubt: „Als Materialisten wissen wir: Natur hat keinen Sinn. Tod und Leben ,an sich‘ sind sinnlos wie Sonne oder der Schnee. Kein Gott, kein Geist ist Schöpfer der Welt. Aber Gesetze halten Sterne und Atome widersprüchlich in Bewegung. Nicht ,Gottes unerforschlicher Ratschluss‘, sondern das Wirken objektiver Gesetzmäßigkeiten bestimmt Werden und Vergehen in der Natur, also auch Leben und Sterben des Menschen.“5
Im materialistischen Denken ist zwar der Einzelne wichtig als Teil der permanenten Entwicklung der guten, sozialistischen Ordnung, die seinen ganzen Einsatz erfordert, sein Leben wertvoll macht und über seinen Tod hinaus wirksam bleibt, doch zugleich ist er Teil der Natur, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. In seiner Rede am Grab von Karl Marx sagte Friedrich Engels: „Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk.“6 Karl Liebknecht wurde mit den Worten zitiert: „Und wenn wir nicht mehr leben werden, leben wird unser Programm. Es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem.“7 Nicht das Individuum mit seinem Leben und Sterben ist das Maß aller Dinge, sondern der Fortbestand der Menschengemeinschaft.
Das Weib triumphiert über den Tod
In einer christlich dominierten Gesellschaft war es natürlich undenkbar, der durch die Evolution bedingten Sterblichkeit des Menschen den Vorrang gegenüber dem göttlichen Willen einzuräumen. Es durfte nicht sein, dass im Sinne von Charles Darwin (1809–1882) und Alfred Russel Wallace (1823–1913) der Mensch nichts anderes ist als ein weiterer Spielball auf dem großen Experimentierfeld der Evolution: Der Mensch wird geboren, lebt, liebt und stirbt: Was soll daran Besonderes sein?8
Die Kirche predigte, der Tod sei der Sünde Sold9, und der mittelalterliche Inbegriff der Sünde war die Frau, woraus sich das ikonografische Sujet von Tod und Frau oder Tod und Mädchen entwickelte, das gleichsam die Botschaft von der Ursache des Todes transportierte. Künstler der Renaissance wie Hans Baldung Grien (1517) oder Niklas Manuel Deutsch ergötzten sich an diesem ebenso morbiden wie erotischen Thema, das schon in die Reihe der mittelalterlichen Totentänze gehörte. Erst Edvard Munch drehte den Spieß um und ließ in seiner 1894 entstandenen Radierung Das Mädchen und der Tod die Frau über den Tod triumphieren. Zwar hatte sich bildlich die erotische Komposition kaum verändert, und die unbekleidete Frau schien den Nachstellungen des Todes zu erliegen, doch auf der Rahmung des Bildes sprechen Spermien und Embryonen eine andere Sprache. Auch wenn die Frau stirbt, gibt sie das Leben weiter und lebt in ihren Nachkommen fort. Zwar stirbt das Individuum, aber die Gattung lebt weiter. In kaum einem anderen Bild der Kunstgeschichte wird die evolutionäre Deutung des Todes deutlicher als hier.
In einer Folge von sechs Holzschnitten hat der weit weniger bekannte, ostpreußische Künstler Robert Budzinski (1874–1955) ganz ähnliche Gedanken zum Ausdruck gebracht. In seiner Der Sieg des Lebens (Auch ein Totentanz) genannten, 1924 entstandenen Holzschnittmappe orientierte er sich am Vorbild der Totentänze: Der Tod fordert eine junge, im Kornfeld sitzende nackte Frau zum Tanz auf, er ergreift die Fidel und beginnt den scheinbar ungleichen Tanz, der immer wilder wird. Doch schließlich erliegt der Tod dem furiosen Geschehen, löst sich auf, und sein Gerippe zerfällt. Am Schluss steht die Frau, die Hände in die Taille gestützt, triumphierend über dem Häufchen Gebeine, die einmal der Tod waren. Im Sinne einer Melioration des etwas in Misskredit geratenen Wortes darf man diese Frau wahrlich Weib nennen in der ursprünglichen Bedeutung als Pendant zum Mann und als Inbegriff des Weiblichen, das sich letztlich in seiner Gabe ausdrückt, Leben schenken zu können. Indem Budzinski im letzten Bild seines Totentanzes die breiten Hüften der Frau betont, stellt er ihre Gebärfähigkeit bildkompositorisch und damit auch inhaltlich so in den Mittelpunkt, dass sich genau daraus ihre Kraft speist, über den Tod zu triumphieren. Die Begegnung mit dem Tod endet nicht mehr tödlich, sondern das Leben behält die Oberhand. In der Einführung zum Mappenwerk schrieb der Verleger Hanns Heeren: „Diese sechs Holzschnitte des Ostpreußen Robert Budzinski sind kein Totentanz im üblichen Sinne, der uns die Allgewalt des Todes über das Leben vor Augen führt, wie es mehr oder weniger alle Totentänze von Dürer bis auf unsere Zeit taten – diese sechs Holzschnitte sind ein einziges Bekenntnis zur Kraft und zum Siege des Lebens über den sonst so gefürchteten Herrscher Tod. Der einzelne Mensch zwar unterliegt ihm, aber das kraftvoll blühende Leben nimmt den Kampf immer wieder auf und bezwingt den Tod: Der Einzelne stirbt – die Menschheit lebt!“
Diese schlichte Betrachtungsweise stieß jedoch nicht nur auf den Widerstand der kirchlichen Lehrmeinung, sondern sie ging auch am Wollen und Sehnen der Menschen, ob gläubig oder nicht, vorbei, die ihren individuellen Tod nicht nur eingebettet sehen wollten in das Große und Ganze, sondern doch von ihren Fragen nach dem Sinn des Lebens – und des Todes – nicht ablassen wollen. Unter dieser Voraussetzung kann die evolutionäre Sinngebung des Todes, der an sich weder gut noch schlecht, sondern einfach nur notwendig ist, nicht weiterhelfen. Die allermeisten Menschen suchen eine Antwort auf die Frage, warum sie leben und warum sie sterben, und viel mehr noch wie sie sterben, wodurch und wann und wofür.
III. „Es hat Gott gefallen …“
Braucht also der Tod eine Erklärung? Und ist er nicht erst sinnvoll, wenn nicht nur sein Faktum, sondern auch das Wie, Wo und Wann von einer höheren Macht bestimmt werden? Stand es nicht lange in unseren Agenden zur kirchlichen Bestattung: „Nachdem es dem allmächtigen Gott gefallen hat, unseren Bruder / Schwester N. N. aus diesem Leben abzurufen …“? Es mag eine unzeitgemäße Formulierung sein, dass Gott am Tod eines Menschen seinen Gefallen hat, aber als Christ darf man durchaus glauben, dass Anfang und Ende des Lebens in seinem großen Ratschluss ge- und verborgen sind. Im Alten Testament ist zu lesen, dass Gott das Lebensalter begrenzt: „Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen.“ (Genesis 6,3) Somit ist biblisch ausgeschlossen, dass der Mensch ewig lebt. Aber auch die individuelle Lebensspanne wird von Gott bestimmt. Im Alten Testament bekennt der fromme Beter: „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (Psalm 31,16), und im Neuen Testament wird folgender Satz von Jesus überliefert: „Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“ (Matthäus 6,27)
Biblisch wurzelt die Bestimmung des Menschen zum Tode im Sündenfall, und sie dürfte zunächst auch nicht hinterfragt werden, wenngleich man ihr statt der religiösen Begründung auch eine biologische zugrunde legen kann. Allerdings müssen wir zu einem späteren Zeitpunkt auf das posthumane Menschenbild des Trans- oder Posthumanismus zu sprechen kommen. Unterschiedlich kann jedoch beurteilt werden, ob Gottes Wille auch den Zeitpunkt des Ablebens bestimmt und dieser gewissermaßen vorbestimmt ist. Bemühen wir das Alte Testament, so kann man dieser Auffassung durchaus zustimmen, wenn es etwa heißt: „Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf.“ (1 Samuel 2,6) Im Prinzip teilen die christlichen Kirchen die Auffassung, dass allein Gott Herr über Leben und Tod ist, wenngleich theologisch kontrovers diskutiert wird, wie konkret man sich die Bestimmung des Todeszeitpunktes durch Gott vorstellen soll. Gott will das Leben, weshalb etwa die Selbsttötung einerseits, die Todesstrafe andererseits von vielen Theologen und Gläubigen abgelehnt werden. Immerhin kollidiert die göttliche Vorsehung mit dem postulierten freien Willen des Menschen, der sich selbst oder andere