Название | Leipzig |
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Автор произведения | Hartmut Zwahr |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295680 |
Stimmt, sagte Irina, die Lastwagen fuhren Kurven, um die Menschen an der Zusammenballung zu hindern. Jedes Mal, wenn ein Motor anlief, berichtete ihre Schwester, rannten Leute hin, umstellten das Fahrzeug, verhinderten das Weiterfahren. Wieder welche fluteten über die Gleise. Jemand nahm den Bügel von der Oberleitung. Den hätten sie abschießen können. Gefährlich wurde es, als Russensoldaten mit vorgehaltnem Gewehr, Messer dran, in Kette ankamen. Die haben den Postplatz geräumt, bestätigt meine Mutter. Mein Bruder ist schnell in die Straßenbahn und nach Weinböhla, wer weiß, was ihm passiert wäre.
Wolfram fährt auf dem Hauptbahnhof Rollkarren, er hats am Markt brennen sehen, der Pavillon der »Nationalen Front« brannte lichterloh, die Propagandabude, sagt Wolfram. Die Leute gucken, manche lachten. Welche sind mit dem Fahrrad ganz nahe dran vorbei an den Russen. Vom Bahnhof aus zogen die Leute in die Innenstadt, mit einer schwarz-rot-goldnen Fahne, vielleicht an einer Wäschestange. Wolframs sind gleich im Garten geblieben.
Gertraude, vorsichtig: Hast du wirklich gelesen?
Ja, wirklich.
Irina blieb skeptisch, ob bei den Leuten in den Augenwinkeln Schadenfreude zu sehen war, als Johannes das sagte, der Pavillon wäre abgebrannt. In Augenwinkeln siehst du nicht viel.
Mir hats genügt, Irina. Im Haus der FDJ auf der Ritterstraße hatte er Gardinen aus den Fenstern hängen sehn, die hingen wie weiße Fahnen. Panzer hatten die Rohre stadtauswärts gedreht, waren an der Elsterbrücke aufgefahren, und tagelang rollten die Straßenbahnen dran vorbei.
Klaus Pockrandt wohnte bei einem von der Kasernierten Volkspolizei, bei Familie Krannich, Liebknechtstraße. Dem hatten sie ins Gesicht gespuckt. Gesindel, sagte Pockrandt. Statt den zu erschießen, hat der Kamerad ihm eine geklatscht. Unsre Genossen sind als Russenknechte beschimpft worden. »Hier wohnt Krannich – er schießt auf Deutsche.« Den Zettel bringe ich mit.
Nichts hat er mitgebracht.
Wolfgang Böckler befielen Zweifel, ob die Russen gezielt geschossen haben.
Herr Wolfram, schon im Nachthemd, erzählte von dem Zugbegleiter, den kenne er von Halle, der würde nicht sagen, dass sie welche erschossen haben, wenns nicht so wäre. In der Dimitroffstraße am Amtsgericht ist geschossen worden, am Untersuchungsgefängnis, darüber wollte er mit Wolfgang Böckler nicht reden. »Ihr werdet vom Ausnahmezustand gelesen haben, der über Leipzig verhängt ist. Ihr müsst Euch keine Sorgen um mich machen. Den Brief schreibe ich in Verwaltungskunde«, schrieb er nach Hause.
Schreibst heim?
Vorn spielt die Musik, Herr Böckler!
»Ab 21.00 und vor 5.00 darf niemand auf der Straße sein. Es waren gestern fast alle Leipziger auf den Beinen, und die Arbeit ruhte. Viele öffentliche Gebäude sind demoliert, die Scheiben eingeschlagen, das Gefängnis aufgebrochen, Gefangene raus, die Akten verbrannt.« Herr Boden fing an, die Kataloge zu behandeln, die Bestandsgliederung, Bestandsübersichten. »An allen wichtigen Punkten in der Stadt stehen die Panzer unserer sowjetischen Freunde und unserer Volkspolizei. Sie haben gestern auch einige der Radaubrüder und Westberliner Agenten erschossen.« Wird Vater verstehen, warum ich so schreibe? »Heute fuhren in der Stadt einige schwarze Wagen, durch deren weißes Milchglasfenster schwarze Särge leuchteten. In der Stadt sind leider auch einige große Friedenspavillons niedergebrannt, das größte Aufklärungslokal der Nationalen Front ebenfalls, die Transparente abgerissen. Gestern gab es regelrechte Schlachten zwischen Polizei und Randalisten. Man warf mit Steinen, das Pflaster ist aufgewühlt, mit Holzknüppeln und Milchflaschen.«
Die Post ist nicht sicher, behauptet Friedhelm.
»Ich kann abschließend nur sagen, daß die Regierung diese Mißstände bald beseitigen möge, um diesen Radaubrüdern und amerikanischen Agenten das Handwerk zu legen. Heute ist alles wieder ruhig, und fast alle arbeiten wieder.« Herr Boden behandelte den Schlagwortkatalog. »Nur an den Läden stehen Hunderte von Menschen. Es gibt daher kein Brot. Die Menschen hamstern ungeheuer.« Er klebte den Brief zu. Pausenklingeln.
Sei in allem sehr vorsichtig, schrieb Vater zurück.
Ich brauche Wäsche, deshalb schreibe ich.
Sie warteten auf den Russischlehrer.
Pockrandt zweckte was an die Wandzeitung. »Russisch fällt aus, Herr Döhler dolmetscht.« Walter war damit zufrieden, er brachte russisch kein Wort richtig heraus.
Willi Zschiedert erschien. Also Zuckmayer.
Pockrandts Finger ging hoch.
Ich denke, wir bleiben bei Zuckmayer.
Wieder Pockrandt.
Sie, ja, bitte, Sie.
Ich heiße Pockrandt.
Zschiedert beugte sich übers Pult, strich die dunkle Mähne aus der Stirn. Wie schallend er lachen konnte. Bei solcher Begeisterung ließ er die Hand auch mal auf dem Kopf liegen, um das Haar zu bändigen. Der Hauptmann von Köpenick.
Pockrandt aufstehend: Wie stehen Sie zum »Tag X«, Herr Zschiedert, »Nicht Worte – Taten entscheiden«, und zeigte zur Wandzeitung. Heftiges Nicken bei Gernitz.
Was der 17. Juni war, Herr Pockrandt, wenn Sie das meinen, sagte Zschiedert endlich, dazu hat mein verehrter akademischer Lehrer, Hans Mayer, sich vor Assistenten und Gästen so geäußert, dass wir jetzt miteinander sprechen müssen. Dem schließe er sich an.
Zwischen den schiefen Wänden bemerkten sie mit einem Mal, wie heiß es war.
Das sagt uns ein Emigrant. Zschiedert suchte sein Taschentuch. Ich wiederhole ihn. Am 17. Juni ging es in Wahrheit um Faschismus oder Antifaschismus. Ich möchte ihn so verstehen, wir alle müssen Lehren ziehen. Erst wenn ein echtes Vertrauensverhältnis besteht, ist der Faschismus endgültig geschlagen.
Unsereinen betrifft die Literatur, meinte Zschiedert, da liegt vieles im Argen. Irina schob der Freundin einen Zettel zu. Wer redete da? Zschiedert oder sein akademischer Lehrer vom Germanistischen Institut.
Die Älteren unter uns haben gewisse Bilder in Erinnerung, gewisse Klänge im Ohr, klirrende Fensterscheiben, die Verbrennung von Büchern und Papieren, was an die Tage nach dem Reichstagsbrand erinnere, die Zschiedert nicht gesehen haben konnte. »Wir in Deutschland kennen die Weise, den Text und die Herren Verfasser.«
Böckler schnipste, fragte, wer? Was?
Weiß es jemand, fragte Zschiedert. Wer noch außer Herrn Eichler? Fräulein Großmann. Heine. Genauer?
Wintermärchen.
Sollte ein angehender Bibliothekar wissen. Vieles liegt im Argen. Zschiedert erinnerte an die große politische Rede, die Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag gehalten hat, in der er über die Sowjetunion sagte, wenn nichts anderes ihm Achtung geböte, so wäre es diese Gegenstellung zum Faschismus italienischer oder deutscher Färbung.
Gertraude Schubert unterbrach. Meine Wirtin sagt, die Arbeiter waren es, die Leute selber hab ich nicht gesehn, wir durften ja nicht raus.
Wer durfte nicht raus?
Du warst vielleicht draußen, ich nicht, Rudi, ich hatte nicht mal ’ne Decke beim In-der-Schule-schlafen.
Musst du doch zugeben, dass wir ziemlich eingesperrt waren, sagte Waltraud Arlt.
Dafür wart ihr in Sicherheit.
Die Diskussion lief auseinander. Nicht alle durcheinander.
Arbeiter, richtige Arbeiter? fragte Pockrandt. Mehr konnte er nicht sagen, Zschiedert kam ihm zuvor: Darüber sollte man sich nicht täuschen.
Mitläufer gab es auch, Unentschlossene, sagte Evelyne Fehrmann.
Arbeiter sind gegen unsere Staatsmacht aufmarschiert. Die Partei schätzt ein, dass sozialdemokratische Losungen aus faschistischen Händen in einer faschistisch gelenkten Bewegung vorangetragen worden sind, erklärte