Leipzig. Hartmut Zwahr

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Название Leipzig
Автор произведения Hartmut Zwahr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867295680



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zeichnete Pockrandt aus.

      Wenn Johannes an diesen Menschen dachte, war es, als hätte der heiße Juni, der auf sie zukam, schon angefangen, ein Juni, in dem sie sich an den Augen erkennen werden, am Widerwort, dem Schweigen.

      Alles Mögliche war ihm durch den Kopf gegangen. Im Traum hatte er mit Irina den Park umrundet. Am Schießstand der GST waren sie stehn geblieben. Noch nie in meinem Leben habe ich geschossen, du, als Mann, bestimmt. Ich auch nicht, was sie wunderte. Bloß einen Dolch haben sie mir geschenkt, den ein Junge anbrachte, aber das sagte er nicht. Das musste Irina nicht wissen, wie das war, als die Jungs aus dem Sägewerk, die Rüger kommandierte, den Bahndamm stürmten.

      Pockrandt, sagte Irina, das ist ein Gedankensprung von mir, hab ich auf der Wanderung erkannt, keine Kraft, der spritzt mit dem Füller. Nichts Doppeldeutiges war in ihren Mandelaugen, als sie das sagte. Gernitz lästerte, Pockrandt solle nicht so faul sein, bist schon schlapp, ehe der Wald anfängt, aus dir wird nie ein Sportler. Pockrandt, schweißüberrieselt, wehrte sich. Klaus ist ein Schreibekünstler, was Brigitta imponiert. Sie denkt vielleicht, als Gruppensekretär hat sie die Partei hinter sich und wird in Ruhe gelassen.

      Die Sprungfedermatratze knarrte. Kein Laut war von der Lützner Straße zu hören. Wird kalt werden, wenn der Winter kommt. Das Zimmer lag überm Durchgang zum Innenhof.

      Reden können die, sagt Irina. Rudi redet dich besoffen. Wie er von Italien erzählte, von den Kämpfen dort, schlief ich ein. Regina hat zugehört. »Und da kracht aus dem Dunkel eine Eisenstange in die Wand, die Kanone. Nie wieder!« So redete der. Wie ich mir erleichtert die Augen reibe, ich unter meiner Decke, zündet sich Rudi eine Zigarette an.

      Die qualmten was zusammen in der schönen Natur, Friedhelm mit, der am Mönch Hugo, das waren solche Geschichten, strickte. Dem Friedhelm fällt dazu immer Neues ein. Zum Beispiel. »Junge, werde Bergmann, die Kohle ist das Brot der Industrie, sagt Petrus zu Hugo, der will aber nicht zur »Wismut«, sondern Bibliothekar werden. Weise dich aus, sagt Petrus, und wie Hugo vom Vorbereitungslehrgang das Zwischenzeugnis vorzeigt, das wir noch gar nicht haben, sagt Petrus, nein, das genügt nicht.« Hat der eine Phantasie, der Friedhelm. Fressen dich auf, die Biester, ruft er dazwischen und springt auf, vertreibt die Mücken mit Rauchen.

      Im Waldgasthaus hat er sich ans Klavier gesetzt. Lady Be Good. Oh, himmlisch! Anfangs wollte die Wirtin nicht, danach stellte sie ihm sogar ein Bier hin. Hast wirklich was verpasst, du unbeschriebnes Blatt, ich habe mir ein Bild gemacht über jeden, der mit war, von dir konnte ich mir leider keins machen.

      3

      Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten? Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.Wenn es die Ausnahme nicht gibt, ist die Regel falsch

      Johannes und Böckler hatten ihren Platz im Seitengiebel vom Dachraum, ein bisschen versteckt. Wenn Gernitz zu spät kam, fast regelmäßig, was ihn nicht störte, sah er sie von der Seite. Hochkonzentriert zählte er Gründe für sein Zuspätkommen auf, benannte Hindernisse, Unvorhersehbares, strich übers schwarze Haar und nahm dann Platz. Über Eck Walter, neben ihm Harry Matter und so weiter.

      In der Schule stellten die Mädchen die Mehrheit. Langweilige Stunden gabs auch. Wenn die Wolken trieben, der Wind die Äste zum Dachfenster herüberbog und die an der Villa kratzten, die keine mehr war, hingen sie ihren Gedanken nach. Solche Unterrichtsstunden hatten das Gesicht wie Herr Boden oder Frau Pelikan. Manche Stunden bestanden nur aus Stoff, mit Deutsch, Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, Gesellschaftskunde, Methoden des Lernens, einmal die Woche sechs Stunden.

      Die Bücherei hatte geschrieben. Wenn du Lust hast, könntest du auf dem Dorf Büchereileiter werden, schrieben sie. »Wollen in Deiner Klasse alle im Büchereifach bleiben? Daß wir im Wettbewerb stehen, kannst Du nicht wissen. Bei uns ist morgen FDJ-Überprüfung, der feierliche Dokumentenumtausch, da sind alle Jugendlichen eingespannt, kannst Dir denken, wie es bei uns zugeht. Die ersten Leser strömen in die Ausleihe. Du fehlst eben an allen Ecken und Kanten.«

      In die Bücherei zurück wollte er nicht. Was ich verpasst habe, schreibe ich nach, berichtete er Ruth.

      Über die Philipp-Müller-Gedenkfeier schrieb er: »Alle hauen tüchtig auf die Pauke. In meiner Klasse guckten sie, als hätten sie Fischgräten verschluckt.« Johannes strich den Namen. Ruth fragte zurück: Was für eine Gedenkfeier? In Trauerbalken der Erschossene. Habt Ihr zu Hause keine Zeitung? fragte er Ruth.

      Vater mahnte: »Daß Du zum Monatsende die Lebensmittelkarten nicht verfallen läßt, hole, was Du zu bekommen hast. Fett!!« Max Schneiders Zettel lag bei. »Schmierpapier kaufe Dir ja keins, das hebe ich auf, denn das wär ja Wasser in die Pleiße getragen. Ich hoffe, daß wir uns hier mal paar vergnügte Stunden machen können. Dein Arbeitskamerad Max Schneider.«

      Mutter mahnend: »Laß es nicht am Essen fehlen, ist falsche Sparsamkeit, es gibt auch Buttermilch auf die Karte. Laß keine Marke verfallen. Kann Deine Wirtin nicht mal was Grünes zubereiten? Denk dran, den Tee kochen, Salbeitee ist überall zu haben. Nimm viel Zucker. Sollst viel an die Luft gehen.« Vater fragte: »Bekommst Du die bessere Lebensmittelkarte oder nur die Grundkarte? Hier las ich, die Fischkarte a.) und Fischkarte b.) verfällt am 5. Juni. Achte drauf, daß Du nichts einbüßt. Die Milchkarte muß in einem Milchgeschäft angemeldet werden. Vielleicht die Milch dort gleich trinken.«

      »Meine Wirtsleute sind in Ordnung«, schrieb er zurück, »mit der Verpflegung komme ich aus. Wenn Ihr wollt, schickt Gemüse und die Trainingshose. Stipendium gibt es am Sechzehnten. Ob ich Pfingsten kommen kann, weiß ich noch nicht. Verschiedenes wäre zu besprechen, mir fehlt die Zeit. Natürlich gehe ich an die Luft.«

      Die Eltern warteten auf Post, nicht nur auf die schmutzige Wäsche. Vater warnte vor Überanstrengung, kannte jemand, der Straßengräben ausräumte und lateinische Wörter schrie. Diese Zeit war untergegangen, eine neue hatte begonnen, Zukunft, die noch nicht angefangen hatte, als er am Elsterflutbecken wartete und Möwen über flaches träges Wasser segelten. Regina suchte den Mann zum Heiraten und Kinderkriegen, wie sich herausstellte, und fand ihn. Die ist ein tiefes Wasser, Hannes, meinte Friedhelm, ich wäre ihr zu unsolide. Beim Ausflug zur Domholzschänke hatte sie den hell­blauen Pullover an. Die sucht was Festes, die solltest du dir nehmen. Küsse, später am Flutbecken, waren alles. Sie sagte nicht, ich liebe dich, höchstens, ich denke, dass du nicht plauderst.

      Friedhelm hatte schmale Lippen, der Mund war bissel breit geraten, hatte das Haar angefettet, damit die Locken anliegen, die Hosen waren durchgesessen, das Jackett ramponiert. Du flunkerst, Friedhelm, sagte Regina mal, als sie am Flügel stand, dir glaub ich nur die Hälfte. Die reicht mir, sagte er und zog mit dem Daumen einen Strich über die Tasten. Dein Pullover gefällt mir, sagte er, um sie zu ärgern.

      Johannes hatte Versäumtes aufgeholt, und Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten?

      Bei Wolfgang Böckler hatte die Zangengeburt einen Sprachfehler zurückgelassen, er kam damit zurecht, nuschelte zwar, aber im Unterricht war es manchmal einfacher, beim Nuscheln eine halb­richtige noch brauchbare Antwort zu geben. Im Stillen nannte Friedhelm den Böckler Pomuchelskopp, weil der bei Fritz Reuter vorkam. Böckler werde ich nicht vergessen, dachte Johannes, ausgeschlossen.

      Vater suchte manchmal verzweifelt nach Namen, weil er dachte, er könnte wegen Altersschwachheit Namen vergessen haben, wie den Namen des Kameraden, mit dem er in Gefangenschaft auf einundderselben Pritsche gelegen hatte und der so fürchterlich schnarchte. Beim Hauptmann Ostermann passiert mir das Namensvergessen nicht, niemals, unmöglich, was der Ostermann mich gepeinigt hat, erzähl ich dir mal später, für den Fall, dass du die Geschichte brauchst, wenn du drüber schreiben willst. Der Ostermann war in Schriftsachen vollkommen hilflos, zum Glück, die hätten mich vielleicht sonst an die Front geschickt.

      Im Kabuff hatte Rudi Gernitz von einem Schriftsteller erzählt, den er glühend bewunderte, und jetzt ging es ihm genauso, er vergaß den Namen, und fragen wollte Johannes nicht, die Unterrichtsstunde schleppte sich hin, bis ihm der Name einfiel, Curzio Malaparte, vielleicht war der auch Panzerfahrer gewesen. Langweilige Stunden vergingen so.

      Beim Skaten nuschelte Wolfgang nicht. »Denn man tau!« Mit links hob er ab. Die