Leipzig. Hartmut Zwahr

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Название Leipzig
Автор произведения Hartmut Zwahr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867295680



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Läuse hat oder sonstige Sachen. Heute muß ich Bücher für 450.– DM einkaufen. Wenn es mehr Geld wäre, würde ich damit vielleicht abhauen.«

      Ob ich nun wissenschaftlicher Bibliothekar werde, fragt sie zum Schluss. »Dann müßtest Du ein viertel Jahr länger in Leipzig bleiben.« So weit denkt sie. »Schreibst Du mir bald? Sei mir bitte nicht böse, dass ich so geschmiert habe, aber wenn man auf dem Bauch liegt, geht es eben nicht besser. Viele Grüße von Regine.«

      Er schrieb zurück. Dass er auf Zulassung zur Prüfung wartete, nicht. Wenn ich studieren werde, muss ichs sagen.

      Als der Termin der schriftlichen Prüfung feststand, entschied er sich für Geschichte des Mittelalters, Ostexpansion. Er baute ein Tatsachengerüst, las, exzerpierte. Der Stoff kam ihm riesig vor.

      Was sie zur Lagerbücherei schrieb, läuft ab wie in Prerow. Da gabs die Kim-Ir-Sen-Lagerbücherei der Volkswerft Stralsund. Vorm Tisch die Warteschlange. Alter abschätzen, damit fings an. Dann fragen. Es blinkt ein einsam Segel. Kenn ich. Timur und sein Trupp? Nee, das nicht, was von Seeräubern. Die Schatz­insel. Ja. geben Sie das.

      Der nächste. Tom Sawyer? Gelesen. Paarmal. Huckleburry Finn? Kennst du die Fortsetzung auch? Wie die den Fluss runterfahren? Den Ohio, sagte der schmächtige Junge.

      Ich hab schlecht geträumt, Gießwasser zu den Tomaten geschleppt, Regine gesehen, die ihr Kleid drüber deckte. Post, ruft die Briefträgerin, und ich habe Regines Brief von gestern in der Hand.

      »Unser Kulturknopp ist der Meinung, ich wäre hochmütig. Das kam so. In einer Sitzung wurde mir gesagt, ich möchte eine Buchbesprechung ausarbeiten, eine über Ernst Thälmann. Weißt Du, wie? Daß die Pionierleiter das Buch nicht lesen brauchen und trotzdem eine Vorlesestunde halten können, so eine. Ich habe der Polit­abteilung klarzumachen versucht, daß, wenn man das Buch nicht kennt, auch keine Vorlesestunde stattfinden kann. Was denkst du, was da los war? Ich dachte, die fressen mich. Das Ferienlager ist am Sechsundzwanzigsten zu Ende, ich bleibe keine Minute länger und werde am Neunundzwanzigsten wahrscheinlich nach München fahren, da sehn wir uns nicht nochmal.« Auf einem Zettel stand: »Vielleicht sehen wir uns doch noch, wenns klappt. Du schreibst, im kommenden Semester hättest Du Zeit zum Fortgehen usw. Weil die Prüfung ja erst nach Weihnachten ist. Wann willst Du denn lernen? Aber Du weißt ja alles! Na, jetzt muß ich Schluß machen, mein Bett (Strohsack) ist noch in Unordnung. Es grüßt herzlich Regine.

      Entschuldige bitte, daß ich mit Bleistift geschrieben habe, meine Tinte ist alle und im ganzen Lager keine vorhanden.«

      Bestehe ich die Prüfung, entscheidet sich alles neu.

      23

      Ist das nun alles, was bleibt? Im Untergang des Ganzen war auch die Leistung des Einzelnen untergegangen

      Am Morgen lag die Julihitze noch auf den Feldern, als sie zum Bahnhof gingen. Die Vögel lärmten. Vater hatte Johannes den Pappkoffer abgenommen. Er dachte an Schubert, den er vor einiger Zeit unter gänzlich gewandelten Verhältnissen aufgesucht hatte. Sie hatten sich gegenüber gesessen, wie damals, wenn der, den er mit Herr Oberregierungsrat anredete, ihn einbestellte, vor dem wuchtigen Schreibtisch, an dem der Regierungsrat inzwischen nicht mehr saß. Der Blick auf die Türme der Stadt war geblieben, der Abstand zu früher, wie die untergegangene Zeit inzwischen hieß, irgendwie auch.

      Ja, wollen Sie denn wirklich weg? Er hatte die Frage sogar wiederholt: Für diesen Fall wolle er ihm ein Zeugnis ausstellen.

      Es kam zu einem Gespräch, und nebenher hatte Georg gefragt: Mit den Juden – glauben Sie das?

      Schubert sagte nicht ja, nicht nein, nickte bloß. Vorsicht stand zwischen ihnen wie ein Fliegenfenster. Auf ein persönliches Gespräch schien er sich nicht einlassen zu wollen, dazu hätten sie sich näher treten müssen, näher als früher, und Schubert brach ab, als das Gespräch dahin abzugleiten drohte. Sobald ich das Zeugnis ausgefertigt habe, sende ich es Ihnen auf dem Postweg zu.

      Als Georg eines Sonnabends von der Arbeit kam, lag das Papier auf dem Tisch, engzeilig mit Maschine geschrieben. »Er ist ein eifriger, pflichttreuer, ziel- und verantwortungsbewußter, vielseitig verwendbarer Beamter gewesen, geschickt im Verkehr mit dem Publikum und durch sein ruhiges, offenes Wesen beliebt bei seinen Mitarbeitern. Seine Tätigkeit wurde am 26. 8. 1939 durch Militärdienst bis 1942 unterbrochen und nach nochmaliger militärischer Einberufung im Februar 1943 und Kriegsgefangenschaft beendet.«

      Edith hatte den Brief geöffnet, als befürchte sie, der Inhalt werde noch einmal in ihr und sein Leben eingreifen. Edith, sag was! Ist das nun alles, was bleibt? Er fuhr sich über die Augen, schluckte. Im Untergang des Ganzen war auch die Leistung des Einzelnen untergegangen. Wie eine Todesanzeige nahm er das am 21. September 1954 Geschriebene entgegen, wie eine Grabinschrift, die für ihn verfasst war.

      Es hätte schlimmer kommen können, Georg, und du wärst wie Alfred, verzeih mir, dass ich so rede, irgendwo zu Staub zerfallen. War das nicht Grund genug, dankbar zu sein, dass er zurückgekehrt war, dorthin, wo alles begann? Gestellungsbefehl in der Tasche, die Siebensachen gepackt, zum Albertgarten. In der Kaserne hatte er die Uniform übergezogen, war in viel zu große Stiefel gestiegen, setzte das Käppi auf.

      In einer abgerissenen Offiziershose war Georg aus der Gefangenschaft heimgekommen. Alfred, der in der Uniform eines Oberzahlmeisters steckte, weil er als Lehrer ein Stück höher stand, die Pistole gehörte dazu, starb in einem Schusswechsel, nachdem die Panzerdivision Müncheberg in Spandau kapituliert hatte und die vier Zahlmeister der Verpflegungskompanie in Richtung Westen losfuhren, wo sie vor Falkensee auf Russen stießen. Der Fahrer überlebte und teilte Alfreds Tod in Gefangenschaft einem Dritten mit. Georg war das erspart geblieben, auch Schubert.

      Geboren Null Zwei, wohnhaft dort und dort, manches war in Georgs Beurteilung unterstrichen. »Ist nach zwanzigjähriger Tätigkeit zunächst in der Bezirkssteuereinnahme und dann in der städtischen Verwaltung hier am 1. Januar 1938 in die Reichsfinanzverwaltung als Steuerinspektor im Finanzamt übernommen worden, wo er erst in der Bewertungsstelle mit allen vorkommenden Arbeiten und dann in der Veranlagungsabteilung als Bearbeiter eines Steuerbezirks tätig gewesen ist.« Gezeichnet Georg Schubert, Oberregierungsrat a. D., Vorsteher des Finanzamtes bis 1945. Diese Feststellung war die Hauptsache. Mit diesem Zeugnis ließ sich das vergangene Leben, wenn man überlebte, fortsetzen, wo es aufgehört hatte. Schuberts gabs viele. Ohne Partei, mit Partei. Georg könnte nach getaner Arbeit am Rhein spazieren. Wer bin ich? In Baracken hatte er gelebt, Kohlrübensuppe im Leib, bis Wärme in die Gesichter gestiegen war und der Streit anfing über Kochrezepte, wessen Frau oder Mutter, deine oder meine, am besten kochte, gestritten wurde bis aufs Messer, bis der Hunger zurückkehrte. Sinnlos alles, die Sinnlosigkeit nahm kein Ende.

      Manchmal denke ich an die Ärztin, die mir das Leben gerettet hat, die dort saß, als ich aufwachte und deutsch mit mir redete.

      Georg erinnerte sich, wie er bei Schnee und Sonne den Weg vom Bahnhof heruntergekommen war, in dieser knielangen schwarzen Wattejacke, die vielleicht einem russischen Panzersoldaten gehört hatte, unendlich müde, vor sich die leere Straße. Die schweren Schuhe mit angegossener Gummisohle, Kriegshilfsgut, amerikanisches, hinterließen Tritte im feuchten Schnee. Er hatte im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen und mit einem Mal den Jungen erblickt. Jetzt brachte er Johannes, auf den sich seine Hoffnung richtete, zum Bahnhof.

      Georg hatte sich entschieden zu bleiben. Es wäre ihm schwer gefallen, aus einer Vielzahl von Gründen dafür den Hauptgrund herauszufinden. Ediths Gründe waren nicht seine. Sich trennen? Wer würde die Gräber pflegen, wenn nicht sie? Alles aufgeben? Für welche Zukunft? Georg konnte nicht einmal seine Wattejacke wegwerfen. Die Anzüge, mit denen er ins Finanzamt gegangen war, waren in seinem Schrank hängen geblieben. Er hätte den Anzug nur wieder anziehen müssen, den Hut aufsetzen und auf der anderen Seite in einem Finanzamt mit dem Zeugnis von Schubert vorsprechen.

      Dass sich der Junge der Sonderreifeprüfung stellte, war Teil der Entscheidung hierzubleiben. Sie spürten die Kühle in dem Wäldchen, in das sie eingetreten waren. Georg wusste, dass Johannes aus ihrer Welt wird heraustreten müssen, wenn er die Studienzulassung bekommt.

      Sie bemerkten vor sich die Verwandten, Adele und Erwin, die auch zum Bahnhof gingen,