Vicky Victory. Barbara Sichtermann

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Название Vicky Victory
Автор произведения Barbara Sichtermann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870912



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geschlossen habe.

      »Diese Schweine«, heult er. »Meine Hand. Ich glaub, die ist gebrochen.«

      Es macht mir nichts aus, dass er mit neunzig Sachen bei scharfem Gegenwind durch Pankow rast.

       2. Kapitel

       Isaacs Kinder

      Ich öffne meine Fenster: Glocken läuten. Was für Glocken? Die der Melanchthon-Gemeinde, der Erlöser-Kirche, der Paulus-Kapelle? Die Stadt ist voll von Gemein­den, aber die Berliner sind kein frommes Volk, Gott sei Dank, sie lassen die Kirchen veröden. Ob Loreley verlan­gen wird, dass ich sie vor einen Altar führe, um ihr dort mein Ja-Wort zu geben? Hochzeit kommt wieder in Mode. Meine Braut ist höchstens 25, rosablond, mit einer Haut wie Erdbeermilch. Noch sitzt sie auf dem Drehstuhl und erhebt ihre singende Stimme, um »49 Mark 80« oder »fuffzich retour für Sie« zu sagen, aber nicht mehr lange. Heute Abend wird sie abgeschleppt.

      Warum bloß bin ich hinter dieser Tussi her? Wird es ein schlimmes Erwachen geben, wenn sie das erste Wort zu mir spricht? Ob sie aus dem Osten ist?

      Deshalb muss sie ja nicht blöd sein. Gezeugt auf dem Zentralfriedhof Herzberge, aufgewachsen in der Leninal­lee 87 und entjungfert unterm Tulpenbaum im Volkspark Wuhlheide, hat sie am 9. November ’89 mit ihrem kurzen, dicken Freund am Brandenburger Tor auf der Mauer gesessen und Westbier aus Dosen in ihren Schlund und über ihre wattierte Fliegerjacke gegossen. Warum er kurz und dicklich war, ihr Freund? Weil es einen Grund gege­ben haben muss, dass sie ihn verlassen hat. Der Platz an ihrer Seite ist leer, und ich erscheine im idealen Augenblick.

      »Kommen Sie, Frau Rosinski, ja, ich weiß Ihren Namen, weil ich meine Ohren aufmache, wenn ich einkaufe, und weil mich alles interessiert, was Sie betrifft. Nehmen wir doch diesen Tisch am Fenster. Warten Sie, ich zünde die Kerze an. Rauchen Sie? Ich auch nicht. Aber ich trage die­ses Feuerzeug bei mir, weil es ein Andenken an meinen verstorbenen Großvater ist.«

      Sie wird nicht wissen, was sie dazu sagen soll, und obendrein kriegt die Stimmung zwischen uns zweien, diese von vorgreifendem Jubel durchwärmte starke Stim­mung einen Schock, wenn von Tod die Rede ist. Wir wer­den beide verlegen auf das Tischtuch glotzen und nur zu bald nach Hause gehn. »Mein Opa«, werde ich stammeln, »besaß ein Öllämpchen, das er sehr liebte und mit diesem Feuerzeug …« Aber es ist schon zu spät, sie lässt mich stehen.

      Man soll die Wahrheit in Ruhe lassen, wenn man eine Frau jagt. Macht sie was her, die Wahrheit, bediene man sich ihrer, macht sie nichts her, kehre man sie unter den Teppich. Schließlich sage ich auch nicht, dass ich arbeitslos und verlobt bin, da hüte ich mich. Wozu habe ich meine Verstellungsgabe und meine Art, interessant, vielseitig und ungebunden zu wirken? Die Wahrheit! Jeder ernst zu nehmende Philosoph sagt uns heute, dass es sie nicht gibt. Warum sollen wir in Liebessachen unter das Niveau des Jahrhunderts fallen?

      Also: Gehen wir nochmal zurück zum Platznehmen am Cafétisch und ziehen wir das Feuerzeug elegant aus dem Gesprächsverkehr:

      »Wennse nich roochen, wozu ham Sie dann ’n Feuer­zeug mit?«

      »Um an einem gesegneten Dienstagabend im Café mit Frau Rosinski - endlich, endlich im Cafe mit Frau Rosinski - die Kerze auf dem Tischchen anzuzünden, damit ihre Augen was zum Widerspiegeln haben.«

      Eine komplette Antwort. Da muss das Herzchen lä­cheln. Steht ihr gut. Alles tritt hervor: das edle Kinn mit der Kerbe darin, die Lücke zwischen den oberen Schnei­dezähnen, die weiße Nasenspitze mit den rosa Nüstern und der Glanz in ihren Augen, die jetzt, erlöst von Tastatur und Scanner, einen Blick versenden. Und der gilt mir.

      »Wer sind Sie eigentlich?« wird sie sagen, »erzählen Sie von sich.«

      So was sollte ich sagen. Muss versuchen, schneller zu sein als sie. Oder so kontern:

      »Was gibt’s von mir schon zu erzählen! Ich möchte alles über Sie wissen!«

      Nein, das ist ungeschickt. Erstens gibt es über mich eine ganze Menge zu erzählen, und zweitens klingt es reichlich abgeschmackt, dieses: »Ich möchte alles über Sie wissen.«

      Nie wird so ein Schmus über meine Lippen flie­ßen. Geschworen! Stattdessen:

      »Okay. Ich erzähle von mir. Aber nur, wenn danach Sie …«

      »Jaja, danach ich. - Sind Sie von drüben?«

      »Sieht man das?«

      Sie zuckt die Schultern. Augenglanz wird runtergefah­ren, Blick schweift davon, die Enttäuschung ist offensicht­lich. Sie wollte keinen Ostkavalier kennenlernen, von de­nen hat sie die Schnauze voll.

      »Ich bin aber schon seit bald neun Jahren im Westen.«

      Augenglanz wird wieder hochgefahren, Nasenspitze ei­nen ganzen Zoll angehoben und die blonde Aureole über der Stirn mit allen zehn Fingern anmutig, aber effektlos zurechtgedrückt.

      »Ehrlich?«

      »Ich bin ganz legal ausgereist. War persona non grata.«

      »Wieviel?«

      Ein bisschen Latein macht sich gut bei den Damen. Diese Sprache mit ihrer klanglich faszinierenden Vokalfül­le betört das Ohr einer jungen Frau am Feierabend. Es sei denn, sie heißt Loreley und reagiert auf Angeberei mit Verachtung. Besser ich bringe die Persona non grata sofort in Ordnung, sonst ruft sie den Kellner.

      Überhaupt der Kellner. Ist er schon an unsren Tisch ge­treten?. Und wenn ja, was haben wir bestellt? Egal. Es gibt Wichtigeres. Zum Beispiel:

      »Wie ist ihr Vorname?«

      »Petra.«

      So bin ich. Immer auf das Schlimmste gefasst.

      ☆

      Wie sie auch heißen mag - für mich bleibt sie die wieder­geborene Evelyn. Jaja, in die Rosinski hab ich mich ver­guckt, weil sie einer anderen Blondine ähnelt, Evelyn Mölcharetz, einer kleinen femme fatale, die ich die Ehre habe, seit ihren Kinderjahren zu kennen, als sie zwar auch schon fatal war, aber nicht auf Grund von Weiblichkeit, sondern von abnormer Rotzigkeit. Sie wohnte ebenfalls in der Cecilienstraße, im selben Haus wie ich, uns gegen­über. Sie nannte mich, der ich zwei Jahre älter war und ihr immer an Würden voraus (Schulranzen, junge Pioniere, er­ste russische Wörter) beharrlich »Stinkstiefel«, schüttete mir Kaninchenköttel in die Anorakkapuze und klaute mei­ne rot-weiß-grünen Nabenputzer. Ich nahm alles gelassen hin, ich brachte es nicht fertig, mich zu wehren. Großvater nannte sie »der kleine Lausbub« und Omi Lenau vom Par­terre sagte nur »der Fratz«.

      Als sie vierzehn geworden war, verlieh ihr die Natur über Nacht die Aura einer märkischen Diana. Großvater stellte sich auf »die kleine Evelyn von nebenan« um, und Omi Lenau steigerte zu »Fräulein Mölcharetz«. Evelyn hörte auf, mich zu beleidigen, und als wir eines Abends im Hof plauderten, während sie, wie so oft, ein Stückchen bei sich trug, eine Gerte, die sie im Park aus dem Gesträuch riss und mit ihrem Taschenmesser beschnitzte, als wir also plauderten und sie dabei rhythmisch mit ihrer Gerte an die Mülltonnen klopfte und mir - ich hatte etwas gesagt, was ihr passte - auf die Beine schlug, verliebte ich mich in sie. Ich tat es in demselben Augenblick, in dem der leichte Hieb auf meine Oberschenkel niederging. Ich ließ mir nichts anmerken und quasselte fort wie ein alter Freund. In Wahrheit hatte ich mich binnen einer Sekunde vom Nachbarskind zum Liebhaber raus gemacht. Als ich aber gleich darauf versuchte, den Stock zu fangen, um meine frisch erwachte Jagdlust zu befriedigen, warf sie mir einen kalten Blick zu, hob das Kinn und schritt mit ihrer Gerte ins Haus.

      ☆

      Heute tut der Rücken kaum noch weh. Ein bisschen hohl fühlt sich die Nierengegend an, doch Haut, Fleisch und Organe, sie wollen heilen. Juni hat es schlimmer erwischt. Seine Hand ist immer noch verbunden. Zwar war sie nicht gebrochen, aber gequetscht, geprellt, gestaucht, geschwol­len und was sonst zum Nachteil einer Hand noch möglich ist. Seine Mutter hat drei Weißkohlköpfe für kühlende Kompressen verbraucht. Und alle unsere Freunde glaub­ten an die Sterne! Konnte das ein Zufall sein -