Das pathologische Leiden der Bella Jolie. Ramona Raabe

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Название Das pathologische Leiden der Bella Jolie
Автор произведения Ramona Raabe
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947373246



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und auch von den Nachbarn nicht. Das befand er für ein gutes Zeichen. Zumindest, das kann man nun sagen, hat diese wohlerzogene junge Frau zu Lebzeiten niemandem jemals Probleme bereitet.

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      In seiner linken Brust schmerzt ihn etwas, ein unangenehmes Ziehen, womöglich das Herz. Das beunruhigt ihn nicht weiter, doch es hält ihn davon ab, sich auf das Material zu konzentrieren. Je tiefer er einatmet, desto unangenehmer spürt er es. Vielleicht doch nur ein eingeklemmter Muskel. Das Buch liegt auf seinem Schoß. Die Größe überrascht ihn noch immer: ein opulenter Bildband mit unendlich vielen Fotos, von denen die meisten ihn langweilen, zeigen sie doch immer wieder dasselbe Gesicht, das in der Zeit zwischen diesen Fotos offenbar zu wenig Erfahrung sammelte, um einen neuen Ausdruck zu finden. Ihn interessieren vielmehr die Videos und Abschriften der Gespräche, die in ihnen gezeigt werden. Margot Wilhelms war in ihrem unerschöpflichen journalistischen Eifer und ausgestattet mit ihrer Kamera von Wohnung zu Wohnung marschiert, um Wegbegleiter Bella Jolies zu der verlorenen Freundin und Tochter zu befragen. Immerhin, es sollte tatsächlich ihr größter und lang erarbeiteter kommerzieller Erfolg werden, und er hat sich ehrlich für sie darüber gefreut. Wachter vertieft sich in Texte und Bilder und ordnet sie zunächst in willkürlicher Reihenfolge an, so, wie es sich für ein richtiges Puzzle gehört. Es sprechen in separaten Wohnungen und separaten Erinnerungen die als »beste« betitelte Freundin Tamara Markow und die Mutter Renate Ast. Die Kamera zeigt sie in einer Halbtotale und zoomt immer wieder amateurhaft ganz nah an die Gesichter, sobald sich Emotionen in ihnen regen. Mit ihrer feurigen und motivierten Art, ihrem Bestreben, innovativen und investigativen Journalismus zu betreiben, war Margot eine gewitzte und ausdauernde Fragestellerin und eine mittelprächtige Autorin, aber für die dokumentarische Schönheit, die sich erst durch die Zurückhaltung der Kameralinse entfalten kann, fehlte ihr das Gespür.

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      Als die Schwester wenig später in sein Zimmer kommt, um ihn für die Filmvorführung abzuholen, ist er in einen Schlaf gefallen, aus dem auch ihr unsanftes Klopfen an die Schranktür ihn nicht holt. Das bringt die junge Frau in eine befangene Lage: Es behagt ihr ganz und gar nicht, für einen der Bewohner entscheiden zu müssen, ob er die gemeinschaftliche Aktivität nun verpasst oder nicht, indem sie ihn entweder aufweckt oder es unterlässt. Weckt sie ihn aber, um ihn darauf hinzuweisen, könnte er ungehalten werden. Sie will es dennoch versuchen. Er wird wütend, aber nicht richtig wach, ruft Nein, nein, nein!, schlägt um sich und murmelt wirres Zeug mit klarer Stimme, murmelt auf uneindeutige, aber phonetisch unmissverständliche Weise: Eine Schönheit wie ein grauer Wasserfall im November bei zwei Grad Celsius, wie ein grauer Wasserfall im November, gerade überm Gefrierpunkt! Schön, schön, schön sind alle deine Augen!

      Wortlos und ohne den Ausfall persönlich nehmen zu müssen, zieht die Schwester sich zurück.

      Die beste Freundin

      Tamara.

      Ehrlich gesagt, manchmal verstehe ich dieses ganze Brimborium nicht. Dieses Interesse an ihrer Persönlichkeit. Man könnte meinen, sie hätte Leute abgeschlachtet. Hat sie ja nicht. Sie hat etwas getan, was mittlerweile die meisten Menschen tun. Manche schämen sich, aber fast alle tun es – und sie hat damit übertrieben. Es heißt, ein Mensch, sie, sei nachweislich daran verstorben. Dabei ist auch das natürlich Schwachsinn. So können Sie das nicht stehen lassen. Sie ist letztlich nicht anders gestorben als jemand, der völlig überarbeitet tot zusammenklappt. Ihr braucht gar nicht so zu tun, als würden aus dem Gerät Kügelchen schießen, die uns den Garaus machen.

      Und jetzt? Klar ist es schlimm. Es ist sogar richtig beschissen und es tut unfassbar weh. Sie und ich waren jahrelang engste Freundinnen, und manchmal fang ich aus dem Nichts an zu flennen und kann nicht, kann nicht stoppen, kann die Tränen nicht stoppen – aber was geht euch meine private Trauer an? Was interessieren sich die Journale und TV-Reportagen, Promi-Magazine, Uniprofessoren und Haste-nicht-gesehen für Janina? Was fragt ihr mich?

      Ihr habt doch diese Sitzungsprotokolle, wenn man das überhaupt so nennen kann, von ihr und ihrem Psycho-Doktor. Übrigens, mit dem fing das Unheil erst an. Ich habe ihr abgeraten, sich auf den einzulassen. Hab ihr geraten, eine richtige Behandlung zu machen. Eine systemische Therapie, oder noch besser eine Verhaltenstherapie. Da war sie stinksauer. War ja der Meinung, dass sie kein Problem habe. War aber stets extrem gereizt, wenn sie nur darauf angesprochen wurde. Sie fand die Therapie hingegen angeblich einfach nur lustig … amüsant, das hat sie, glaube ich, gesagt, ja genau, amüsant, dass dieser Kerl so viel Interesse an ihr zeige. Er unterhalte sie prima, das meinte sie noch. Er habe viel Geist und sei total komisch. Da habe ich ihr zugestimmt, aber ich meinte dabei komisch wie seltsam, nicht komisch wie lustig.

      Was wissen Sie über Florian Kramer? Zu dumm, dass Sie ihn nicht mehr befragen können. Wenn Sie mich fragen, hat der sich selbst angezündet. Versehentlich. Das trau ich ihm zu. Bin ihm aber nur einmal persönlich begegnet. In der Stadt, als Janina und ich unterwegs waren und ein paar Einkäufe erledigt haben, wie so häufig. Es war eine unserer letzten gemeinsamen Unternehmungen. Da ist er plötzlich aufgetaucht, wir saßen gerade am Main und haben Frozen Yoghurt gegessen – sie mit Beeren und Bananen, ich mit Keksstücken und Karamellsauce. Sie trug an diesem Tag eine beigefarbene Bluse, die dazu einen wunderschönen Kontrast gegeben hat. Das sah bei dem fantastischen Wetter an dem Tag einfach aus wie aus einer abnormal gelungenen Werbung, in der einfach alles zusammenpasst … einfach … einfach p-p-perfekt … Ist ja auch egal, Entschuldigung, diese Erinnerung kam mir gerade nur hoch, ich … puh … haben Sie vielleicht ein Taschentuch oder … danke … […] schon gut, es geht schon wieder, es geht schon … Jedenfalls … jedenfalls habe ich gleich gemerkt, dass der nicht mehr alle Latten am Zaun hat. Wir saßen gerade am Main mit unserem Eis, und plötzlich stand er da und hat so getan, als wärs ein Zufall.

       - ACH, du auch hier! Dich kenne ich doch von instagreet! -

      Sie kennen doch diese Nummer. Wir hatten uns gerade mal zwanzig Minuten vorher in dem Café online eingecheckt. Ich habe mal nachgesehen, wie weit entfernt das von seiner privaten Adresse ist. Ist ja dieselbe wie die seiner »Praxis«. Kommt zeitlich jedenfalls hin. Letztlich hat er Janina davon überzeugen können, diese Sitzungen mit ihm zu machen. Er forsche an interessanten Persönlichkeiten, meinte er. Hat ihr natürlich irrsinnig geschmeichelt, hätte sie aber nie zugegeben.

      Die »Selfie-Sucht« – so hat er es damals schon ganz ernsthaft genannt – »unserer Generation« sei medizinisch relevant und er habe ein großes Erkenntnisinteresse daran. Dabei war er gar kein richtiger Arzt. Hat abgebrochen – Entschuldigung – unterbrochen, wie er, und später auch Janina, diesen angeblich so strategisch klugen Karriereschritt nannte, um auf eigene Faust über Gespräche und Fallbeispiele Theorien zu entwickeln. Ich find’ das ziemlich dilettantisch, aber Janina war ganz begeistert, dass er sie zu einem seiner Fälle machen wollte. Die Blendefrau wollte er sie nennen. Natürlich wusste er damals noch nicht, wie berühmt sie werden würde. Dass er so einen anonymen Code-Namen nicht mehr brauchen würde. Dass sie sich selbst einen geben würde. Oder dass er sowieso nicht mehr lang zu leben hatte. Wenn ich sage, dass mit ihm das ganze Unheil erst anfing, dann meine ich damit, dass Janina zwar vorher schon ein paar Schlieren auf der Spule hatte, dass sie definitiv irgendeinem Zwang unterlag, sich ständig selbst zu fotografieren, aber dass es so schlimm wurde, das habe ich nicht kommen sehen. Dieser Grad des Desaströsen wurde durch das Interesse an ihrer Persönlichkeit überhaupt erst erwirkt, diese Idee hat erst der Pseudo-Doktor ihr eingepflanzt, und diese Idee hat Wurzeln geschlagen und schlimme Früchte getragen. Die Gerüchte, dass die beiden was miteinander hatten, glaube ich nicht. Das ist nichts als seine kranke Fan-Fiction.

      Wie auch immer. Was fragt ihr uns, wer sie war? Was für eine naive Frage ist das bitte? Wie soll ich das über jemand anderen beantworten, wenn ich das kaum für mich selbst kann? Aber so macht ihr das. Wenn irgendjemand etwas Ungeheuerliches angestellt hat, dann stapft ihr los und fragt die Nachbarn. Habt ihr auch diesmal gemacht, hab ich mitbekommen. Ihre Nachbarn von der Inselwohnung.