Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

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Название Symphonie der Toten
Автор произведения Abbas Maroufi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962026165



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mit den schönen schwarzen Augen, trieb er sich bei den Lastträgern herum.

      „Wo ist Aidin?“, fragte auch meine Frau.

      Als Vater noch lebte, trug Aidin einen dunkelbraunen Anzug, er stutzte seinen Schnurrbart und hielt ein paar Bücher in der Hand.

      Er sagte: „Vater, ich bin nicht hinter Euren Besitztümern her. Ich gehe.“

      „Wenn der mal nicht zurückkommt und bittet und bettelt ...“, meinte Vater.

      Beide waren sie starrsinnige Dickköpfe. Vater hatte besonders ihn unter moralischen Druck gesetzt.

      Er hatte gefragt: „Aidin, warum hast du dein Gebet versäumt?“

      „Ich war bis spät in die Nacht wach.“

      „Warum, mein Sohn?“

      „Ich habe Aufgaben gemacht.“

      Da polterte Vater los: „Das Gebet fällt also deinen Sperenzchen zum Opfer!“

      Seine Stimme klang kalt wie ein Peitschenknall. „Es ist Donnerstagabend. Führt die religiösen Waschungen durch und sprecht eine Sure aus dem Koran!“

      Ich rannte schnell zum Waschbecken, führte die Waschungen aus und sprach laut und vernehmlich im Zimmer des Vaters mein Gebet.

      „Wo ist dieser Tunichtgut hingegangen?“, fragte Vater.

      „Er ist in seinem Zimmer“, sagte Mutter

      Vater schaute böse drein. Er konnte einfach nicht ruhig sitzen bleiben, ging im Zimmer herum.

      Er fragte: „Was tut er denn da?“

      „Er wird wohl beten“, antwortete Mutter.

      „Verflucht, warum betet er nicht hier?“

      „Aidin stellt sich nicht gerne zur Schau!“

      Da sagte ich: „Komisch, ich dachte immer, er betet nicht gern.“

      „Was geht das dich denn an?“, erwiderte Mutter.

      Und sie sprach das ‚geht – das – dich – an‘ so klar und deutlich aus, wie ich es bisher noch bei keinem gehört hatte. Vater lachte und stellte sich zum Gebet hin.

      Mutter sagte zu mir: „Was auch immer sein mag, er ist auf jeden Fall älter als du. Schäm dich!“

      Sie war aufgebracht. Mager und aufbrausend. Sie wusste, dass sich Vater auch beim Beten nichts entgehen ließ und alles beobachtete.

      „Wenn euer Vater seiner Zunge freien Lauf lässt, was kann man da von dir erwarten?“, meinte sie.

      Ich ging dann auf unser Zimmer. Aidin lag bäuchlings auf dem Bett und las „Vater Goriot“. Vater betrat eigentlich nie unser Zimmer, aber an jenem Abend kam er. Er klopfte ein paarmal an die Tür und trat dann ein.

      „Was liest du da?“, fragte er.

      Aidin sprang auf. Das Buch hielt er in der Hand. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er aufrecht da. Ich sah deutlich, wie seine Hand zitterte.

      „Ich hab dich gefragt, was du da liest?“, wiederholte Vater. Er kniff die Augen zusammen und ließ den Blick durchs Zimmer wandern.

      „Vater Goriot“, antwortete Aidin.

      „Was ist das, dieser ‚Vater Goriot‘?“

      Aidin hatte einen Finger in dem Buch stecken, die übrigen zitterten. „Es ist die Lebensgeschichte eines alten Mannes.“

      „Und wer ist der?“

      „Vater Goriot.“

      Ich lachte.

      „Halt’s Maul!“, herrschte mich Vater an. Und zu Aidin: „Was tut denn dieser Vater Soundso?“

      „Er macht Pasta.“

      „Was?“

      „Pasta.“

      „Was?“

      „Er macht Nudeln.“

      „Und was tust du eigentlich?“, fragte Vater.

      Aidin schwieg.

      Immer noch untersuchte Vater das Zimmer mit den Augen. Er war klein von Gestalt, und mit dieser runden Brille mit den Hornbügeln und mit der gefurchten Stirn wirkte er so respekteinflößend, dass man zu Eis erstarrte, das heißt, Aidin sagte immer, dass er eine Respektsperson sei.

      „Man ist wie festgefroren“, meinte er. „Ich weiß auch nicht, warum ich vor Vater Angst habe. Hast du denn keine Angst vor ihm, Urhan?“

      „Nein, der Vater ist der Vater. Da gibt’s nichts zu fürchten.“

      Das hatte er gesagt, als wir im Süden der Stadt herumbummelten, dort, wo die Frauen zum Waschen hingehen.

      „Hast du ihn je lachen sehen?“, fragte er.

      „Im Geschäft macht er von früh bis spät Späße und lacht.“

      „Ich hab ihn ja auch gern, aber ich fürchte mich vor ihm.“

      Er schaute den Schwalben nach, die über uns hinwegflogen. Wie sollte er wissen, was diese hübschen, kleinen Vögel einem Menschen antun können? Als die Frauen mit der Wäsche fertig waren und weggingen, machten wir uns auf den Weg zur Stadt. Sie trugen die Wäsche auf dem Kopf, und wir schauten sorg- und gedankenlos zu.

      Vater warf einen Blick auf die anderen Bücher im Regal und drehte sich dann plötzlich um.

      „Hundesohn, liest du wieder solchen Quatsch?“

      Er nahm ihm das Buch aus der Hand und riss den Umschlag ab. Dann riss er den Rücken durch und zerriss die Seiten in so kleine Fetzen, dass der ganze Boden davon bedeckt war. Er riss und ließ die Schnipsel flattern.

      Und brüllte: „Bring mir bloß kein solches Gefasel mehr ins Haus!“

      Als er rausging, warf er einen Blick auf Aidins dünnen Schnurrbart, der auf seiner Oberlippe spross, und fragte: „Wen willst du damit nur rumkriegen?“

      Ich konnte deutlich sehen, wie es unter Aidins Lidern zuckte. Während ich die beiden beobachtete, klopfte ich mit den Fingerspitzen gegen die Zimmertür, wie es so meine Gewohnheit ist.

      Vater deutete auf meine Hand, die hinter dem Rücken versteckt einen hübschen Rhythmus trommelte, und schrie: „Hör auf damit!“

      Noch am selben Abend bekam Aidin ein anderes Zimmer.

      „Jetzt sofort“, sagte Vater, „und keine Widerrede!“

      „Warum?“, fragte Mutter.

      „Weil man einen faulen Zahn ausreißen und wegwerfen muss, damit die gesunden Zähne gesund bleiben.“

      Mutter fegte lustlos das Souterrain aus. Sie sagte: „Am Abend – das ist kein gutes Vorzeichen.“

      „Kehre!“, sagte Vater. „Diskutier nicht!“

      Mutter breitete einen Teppich aus, und wir schlugen Aidins Bett dort auf. Noch am selben Abend. Vom Hof führten sieben Stufen zu dem Zimmer hinunter. Es war dunkel und roch nach Essig und dem Saft von sauren Trauben.

      Vater hatte gesagt: „Wenn sich eine Gelegenheit bietet, muss man sie wahrnehmen.“

      Und deshalb schob ich auch noch am selben Abend mein Bett ans Fenster und war ganz versunken in den Anblick des unermesslichen Himmels. Die Sterne schienen sich vermehrt zu haben, der Rauch des Ofens ringelte sich in die Luft. Sicherlich würden morgen die Raben ihr ‚kalt, kalt‘ krächzen.

      In jener Nacht träumte ich von einem Garten mit goldenen Bäumen. Unsere Gasse war breiter geworden, die Ventilatorenfabrik mit ihren roten Dächern hatte sich aus ihrer Mulde erhoben und lag nun auf einer Ebene mit der Umgebung. Und ich ging zur Schule. Dann sah ich, dass ich tot war.

      Als ich morgens Mutter diesen Traum erzählte, meinte