Название | Symphonie der Toten |
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Автор произведения | Abbas Maroufi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962026165 |
„Ist es das, was du gewollt hast?“, fragte Mutter nochmals.
„Lass ein paar Tage vergehen, der Hunger wird ihn schon wieder hertreiben.“
„Entweder du suchst ihn noch heute Abend und bringst ihn zurück, oder ich gehe von hier weg.“
„Ist er denn nicht auch mein Kind?“, meinte Vater. „Glaubst du, er tut mir nicht leid? Wenn du mich nur lässt, werd ich ihn schon noch zur Vernunft bringen.“
So sehr hatte Aidin jener Brand zugesetzt, dass er sich nicht sehen ließ, als Vater und ich ihn ein paar Tage später aufsuchten. Mutter flehte Vater an, ihn zurückzuholen, und wir machten uns wieder auf den Weg nach Ram-Assbi. Die Sägerei lag an einem Engpass. Unten floss ein Bach durch, oben hantierten die Arbeiter.
Schließlich überwand Vater seinen Stolz, und als Aidin gerade einen Baumstamm durchsägte, stellte er sich vor ihn hin und sagte: „Aidin, vergiss, was geschehen ist!“
Doch Aidin antwortete nur, ohne den Kopf zu heben: „Vergiss du mich, Vater!“
Und wir kehrten um; Vater voller Wut und Hass, aber auch voller Hochachtung. Von da an sprach er Aidins Namen auf eine ganz besondere Art und Weise aus.
Aidin arbeitete ungefähr ein Jahr lang dort. Mutter erkundigte sich immer wieder nach ihm, und ich besuchte ihn ab und zu. Doch er nahm nichts an. Ich überbrachte ihm Essen und Kleidung, er wies es zurück. Ich brachte ihm Bücher, er wies sie zurück. Sogar was die Mutter ihm schickte, nahm er nicht an.
Wenn ich ihn drängte, sagte er nur: „Meine Schulzeugnisse, die Bücher, meine eigenen Gedichte ...“, und Tränen schossen ihm in die Augen.
Allmählich verlor er sein fröhliches Wesen ganz. Er war wie ausgebrannt. Auch finanziell ging es ihm wohl nicht gut. Ich hatte bemerkt, dass seine einfachen schwarzen Schuhe ganz zerrissen waren. Er trug immer diesen langen schwarzen Mantel und die schwarze Tuchhose. Ein Bein auf den Stamm gestellt sägte er, sägte, bis das Holz rauchte und auseinanderbrach. Dann wischte er sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und machte sich an die nächste Bohle. Ich stand dabei und wartete, bis er mit der Arbeit fertig war. Dann zogen wir zusammen los Richtung Salzsee. Seine schwarzen Schuhe waren zerfetzt, er konnte nur mit Mühe gehen.
„Aidin“, fragte ich ihn, „kriegst du denn keinen Lohn?“
Er war ganz verstört. Er glaubte wohl, ich wollte etwas von ihm leihen, und antwortete: „Ich hab schon Geld, brauchst du was?“
Er wollte schon mit der Hand in die Hosentasche fahren, um das Geld herauszuholen, als ich fragte: „Warum kaufst du dir dann keine Schuhe?“
Er warf einen Blick auf sein Schuhwerk und meinte: „Jetzt regnet und schneit’s noch nicht. Ich hab auch schon dran gedacht. Lass es erst mal Herbst werden, dann ...“
Von den Höhen der Hügel aus betrachtete er die Salzpfanne und den Salzsee.
„Wie sehr ich doch den Salzsee liebe!“, rief er aus.
Drüben lag die Salzpfanne mit ihrem welligen, mit Salzkrusten bedeckten Boden. Und diese Wellen schienen zu jeder Jahreszeit ihre Form zu verändern.
„Genau wie das Meer“, meinte Aidin.
Und wieder standen wir auf den Hügeln in der Nähe des Salzsees, eine sanfte Brise wehte, und unbeweglich lag unter uns das Gewässer mit seinem von weither sichtbaren Schilfgürtel. Auf einer Seite des Sees wuchsen dort, wo Hügel und Wasser sich trafen, hohe Schilfrohre mit spitzen Blättern.
Ganz in diesen Anblick versunken sagte Aidin mit leuchtenden Augen: „Wie das UNO-Gebäude!“
„Wo denn?“, fragte ich. Er zeigte mit der Hand hinüber.
„Wieso?“
„Diese Schilfrohre erinnern mich an die Fahnenmasten vor dem UNO-Gebäude.“
Früher einmal hatte Vater gesagt: „Ihr solltet den Salzsee zu schätzen wissen! Nach vielen Jahren wird auch hier nur noch eine Salzpfanne sein, ein wertloser, bitterer Salzsumpf.“
Wir waren damals noch bartlose Buben. Ich nahm den roten Eimer in die Hand, Aidin den grünen. Vater ging hinter uns her. Am Salzsee angekommen, zog er sich aus und sprang ins Wasser. Im Wasser sah er viel älter aus. Wir zogen uns auch aus und tauchten kopfüber in den See. Die Sonne schien warm, das Wasser schmeckte salzig und bitter. Schwärme von Wiedehopfen strichen über uns hinweg und verloren sich in der Ferne. Vater hatte die Arme weit ausgebreitet, nur sein dünn behaarter Kopf war noch zu sehen.
„Geht ein bisschen weiter rein und holt Schlamm rauf!“, sagte er zu uns.
Die Russen pumpten damals den Schlamm aus dem See und fuhren ihn tankerweise ab.
Vater pflegte zu sagen: „Dieser Schlamm da ist die beste Medizin gegen Rheumatismus.“
Er rieb sich mit den Händen ab, stieg aus dem Wasser und streckte sich am Ufer in der Sonne aus. Die stark behaarten, mageren Beine schlug er übereinander, stützte sich auf die Unterarme und schaute um sich.
„Bringt mir schnell ein bisschen Schlamm“, rief er, „bevor mir kalt wird.“
Aidin atmete tief ein, öffnete den Mund und tauchte unter. Kleine Luftbläschen stiegen hinter ihm auf. Dann tauchte er wieder über der Wasseroberfläche auf. Den Eimer hatte er zur Hälfte mit Schlamm gefüllt.
„Nimm!“, rief er und schwamm auf mich zu.
Ich nahm ihm den Eimer ab und brachte ihn Vater, der sich jetzt lang auf dem Boden ausgestreckt hatte. Wartend stand ich da. Aidin war wieder in der Tiefe des Sees verschwunden.
„Gut gemacht, mein Sohn“, sagte da Vater. „Reib mich ein, das tut gut!“
Ein mildes Lüftchen wehte und ließ die Schilfrohre drüben auf der anderen Seite tanzen. Ich beschmierte Vater mit einer Handvoll Schlamm nach der anderen. An den Beinen fing ich an.
„Schrubb mich nur tüchtig!“, sagte Vater.
Er war jetzt von oben bis unten schwarz. Als ob man eine Figur aus Teer von ihm angefertigt hätte. So verharrte er, dass der Schlamm auf seinem Körper antrocknen konnte. Wir rieben uns nur die Beine ein, setzten uns hin, bis die Schmiere erstarrte, und sprangen dann ins Wasser und wuschen uns ab.
„Nehmt auch was für Yussof mit!“, meinte Vater.
Yussof hatte sich nach seinem Sturz damals in ein nutzloses Stück Fleisch verwandelt, das von morgens bis abends pausenlos aß und sich entleerte. Er lag in einer Ecke in dem Zimmer unten, bewegungslos und stumm, den starren Blick auf die Tür gerichtet, immer etwas kauend. Es stank dort bestialisch und Mutter war stets damit beschäftigt, im Hof seine Laken zu waschen.
Aida hatte gesagt: „Wenn ihr im Hof einen Verschlag für ihn baut, haben wir alle unsere Ruhe.“
Aber keiner hörte auf sie. Um dem Durst vorzubeugen, biss Vater in eine Gurke. Es war ein schöner Sommer, und die Sonne brannte heiß. Der Schlamm auf Vaters Körper war jetzt getrocknet, und ein paar große Ameisen liefen über seinen Bauch.
Da stand er auf, sprang ins Wasser, wusch sich ab und rief: „Da seht ihr, wie die Medizin wirkt!“ Seine ganze Haut hatte sich gerötet. „Das macht Durst!“, sagte er und biss wieder in die Gurke.
Ganz gedankenlos hatte sich Urhan eine zweite Zigarette von dem Alten genommen und sie an der Glut der ersten angesteckt. Er nahm tiefe Züge. Seine Bein- und Armknochen ächzten unter unsäglichen Schmerzen.
„Was soll ich denn jetzt nur tun?“, fragte er. Er schaute sich um, von irgendwoher in der Dunkelheit kam ein monotones Geräusch. So wie das Ticken von Mutters Uhr auf dem Wandbrett.
„Woher kommt dieses Geräusch?“, wollte er wissen.
„Da tropft Wasser“, sagte der Alte und zeigte auf eine Stelle über den