Verfallen. Dorothea Renckhoff

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Название Verfallen
Автор произведения Dorothea Renckhoff
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862800766



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und schaute einen Augenblick lang still herüber, und ich erkannte die Spiegelung meiner Blume auf ihrem Gesicht, ein Leuchten aus der Tiefe der Augen, und dann drehten sich alle zu mir um und starrten mich an und das, was ich in der Hand hielt. Bei einigen spürte ich etwas wie Verblüffung, beinahe Neid, fast hörte ich sie denken, wie kommt der Bengel auf einmal an so etwas, nach all den Rosenstängeln und Albernheiten, aber Anna löste sich aus dem Kreis und kam mir entgegen, sie umarmte mich vor allen anderen, und dann ging sie die wenigen Schritte zu ihrer Mutter mit mir und hielt mich am Arm dabei, und ihre Mutter lächelte mich an wie nie zuvor und nahm die Blume aus meiner Hand.

      Sonst wurden auch die üppigsten Gebinde zur Versorgung an die Haushälterin weitergereicht, ihr blieb auch die Auswahl von Vase und Standort überlassen, doch jetzt gab die Gastgeberin selbst Anweisung, und alle Anwesenden wurden Zeuge, wie meiner Gabe eine bisher nie dagewesene Ehre zu Teil wurde: Mit größter Vorsicht hob man den Marmorfuß von der Kommode, ein gläserner Krug tauchte auf, und dann stand meine Blume strahlend im Licht und beherrschte den Raum.

      Ein Kunstwerk, eine Kostbarkeit. Manche flüsterten, viele dachten, alle bemerkten es. Während das bewundernde Gemurmel noch anhielt, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Annas Mutter ins Speisezimmer huschte und die Tischordnung änderte. Zwei der kleinen Geschenke auf den Tellern wurden miteinander vertauscht, und dann fand ich mich tatsächlich auf dem Ehrenplatz, zwischen ihr und meiner Freundin.

      Alle Gäste betrachteten mich mit anderen, freundlicheren Augen; es war, als sei der etwas unpassende junge Mann von bisher auf wundersame Weise gegen einen vielversprechenden Hoffnungsträger ausgetauscht worden. Und so fühlte ich mich auch. Die anerkennenden Blicke, die gesteigerte Aufmerksamkeit verliehen mir Schwung, ich war witzig, ich war geistreich, ich war mit einem Mal der glänzende junge Mann, der ich schon immer so gerne gewesen wäre. Die zauberische Blume hatte mich auf eine höhere Daseinsebene gehoben, und ich fühlte mich getragen von Liebe und Begeisterung.

      Noch nie hatte Anna mich so angesehen wie jetzt, und als wir nach Stunden vom Tisch aufstanden, bat sie ihre Mutter mit lauter Stimme, mich zum Heiligen Abend einzuladen. Jeder konnte es hören, auch die zustimmende Antwort konnte jeder hören. Ich war in die Familie aufgenommen, in diese wunderbare, unglaubliche Familie; ich war akzeptiert, als Freund, Geliebter, Bräutigam… Während wir mit den anderen Gästen in das getäfelte Zimmer zurückgingen, wo der Kaffee genommen werden sollte, zerriss mir das Glück fast die Brust.

      Im nächsten Augenblick war es zerbrochen.

      Ich spürte eine Bewegung in der Gruppe um Annas Mutter, die den Raum vor mir betreten hatte, hörte einen leisen Schreckenslaut, ich weiß nicht, aus wessen Mund. Dann wichen die vor mir Stehenden auseinander; einige wandten sich um und sahen mich an. Plötzlich war etwas wie Abscheu in ihrem Blick. Ich sah zu Anna hinüber; sie starrte in das Zimmer vor uns und stand einen Moment lang ganz still, und dann ließ sie meinen Arm los und trat zwei Schritte von mir fort. Und dann sah ich es selbst.

      Meine Blume stand wie zuvor auf der edlen Kommode, in Licht gebadet, noch immer an jenem Punkt im Raum, der sämtliche Blicke auf sich zog. Darum sah jeder, was geschehen war, und sofort.

      Die Blüte war verwelkt. Aber was sich hier abgespielt hatte, das war nicht das einfache Erschlaffen einer sterbenden Pflanze, sondern ein Vorgang, wie ich ihn nie zuvor in meiner Nähe erlebt hatte und nie wieder zu erleben hoffte. Was da in der Vase vor aller Augen kraftlos herabhing, hatte nichts mehr zu tun mit der glühenden Wunderblume, die vor einigen Stunden an derselben Stelle gestanden hatte. Jedes Strahlen, jede Farbe war geschwunden, das ganze leuchtende Gebilde war geschrumpft zu einem gallertartigen, grauen Etwas, und die schimmernden Staubgefäße lagen zu kleinen Klumpen zerbröselt auf dem Holz der Kommode und machten klebrige Flecken auf die Politur. Selbst der Stiel der Pflanze sah durch die gläserne Wand des Kruges schleimig aus, und merkwürdige Farbschlieren zogen sich durch das Wasser.

      Annas Mutter hielt den Blick auf dieses Wasser gerichtet. ‚Ach ja,’ sagte sie mit einem ganz dünnen Lächeln, ‚ich erinnere mich. Als Kinder haben wir Knoblauchblüten in rote Tinte gestellt, es sah wunderschön aus, wenn sie die Farbe aufgesaugt hatten, ein paar Stunden lang…’ Damit war ich auf das Niveau eines albernen, dummen Jungen zurückgestuft. Schlagartig hatte sich auch die Haltung der Gäste mir gegenüber geändert. Jetzt sah mich niemand mehr freundlich an. Spott, Schadenfreude, Verachtung und sogar Abscheu schlugen mir entgegen. Annas Augen aber waren das Schlimmste. Groß und zornig schauten sie mir entgegen. Ich spürte fast körperlich, wie sie sich für mich schämte.

      Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund füllte sich mit Staub und meine Kehle mit Sand. Ich sah, wie die Gastgeberin eine winzige Handbewegung machte; stumm stand ich dabei, wie daraufhin die Vase mit ihrem scheußlichen Inhalt weggetragen wurde und wie man das antike Stück wieder auf die Kommode hob. Die Sohle der marmornen Sandale näherte sich der hölzernen Platte, und zugleich trampelte der steinerne Fuß mir in die Brust. Ich machte eine Verbeugung, so ungeschickt wie nie zuvor, und floh.

      Zuerst rannte ich nur durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin. Dann fiel mir das Mädchen mit dem goldenen Ring in den Augen ein. Sie hatte mir die Unglücksblume verkauft, sie war schuld, sie musste die Sache wieder gut machen. Wie rasend begann ich, nach der kleinen Straße zu suchen, wo sie gestanden hatte mit ihrem Gurkeneimer. Ich fand sie nicht. Sollte es mir gehen wie den Leuten in diesen schlechten Märchen, wo einer etwas Merkwürdiges kaufen soll und es nicht tut, und wie er sich besinnt, da findet er den Händler nicht wieder, und der Weg, an dem er stand, ist versunken?

      Ich lief auf und ab zwischen den hellen Schaufenstern. Die Weihnachtsbeleuchtung schien mir grell ins Gesicht, nur für mich all die Lichterketten, all die Glühbirnen, die Girlanden. Ich starrte verzweifelt hin und her, suchte nach einer dämmerigen Lücke in all der Glitzerfolie. Und mit einem Mal tat sie sich auf. Da lag die stille Straße wieder vor mir, mit dem kleinen Antiquitätenladen, mit dem erleuchteten Zimmer einen Meter über dem Bürgersteig. In meiner Erregung hatte ich sie lange Zeit in der falschen Richtung gesucht. Die Autos schliefen noch immer, die Straßenlaternen waren für die Nacht heruntergeschaltet und leuchteten schwächer, und der Besitzer von Ledersesseln und Stehlampen war nicht gekommen.

      Auch das Mädchen im grünlichen Mantel war nicht da. Kein Blumenstand, kein Gurkeneimer. Was sollte sie auch hier, jetzt, Stunden nach Mitternacht. Ich hatte keinen Grund, mich über ihre Abwesenheit zu wundern. Aber das leere Straßenpflaster, dort, wo sie gestanden hatte, schien sich zu heben und sich in stummem Wirbel zu einem riesigen, steinernen Fuß zu fügen, der mir krachend in die Brust trat.

      Es fiel mir nicht leicht, Anna zu versöhnen. Ich schämte mich, und sie schämte sich für mich. Ich brauchte einige Tage, bis ich sie anzurufen wagte; noch mehr Zeit verging, bis wir einander wiedersahen. Meine Mutter hoffte schon, es wäre ganz vorbei mit uns. Aber Anna liebte mich, und wenige Tage vor Weihnachten versöhnten wir uns, ohne ein Geschenk von mir, denn ich hatte noch immer kein Geld. Eine leise Verstimmung aber blieb zurück, auch wenn wir so taten, als wäre alles wie vorher.

      Die Einladung zum Heiligen Abend blieb bestehen, Annas Mutter mochte sie nicht zurücknehmen, auch wenn sie ihr sicherlich lästig war. Damit stand ich vor einem noch größeren Problem als am Nikolausabend: Woher sollte ich nehmen, was von mir erwartet wurde? Eine passende Aufmerksamkeit für die Gastgeberin? Ein Weihnachtsgeschenk für Anna? Noch einmal versuchte ich es bei meiner Mutter. Doch sie war schon so erbost, weil ich diesen Tag nicht mit ihr, sondern mit Annas Familie feiern wollte, dass sie mir ihren abgenutzten Handfeger für die Mutter und den verfärbten, alten Plastikmülleimer aus der Küche für die Tochter anbot.

      Am vorletzten Schultag kam frühmorgens ein Anruf von einem Warenhaus, wo ich wiederholt nach einer Arbeit als Aushilfe gefragt hatte. Jemand war ausgefallen, ob ich bis Heiligabend am Packtisch einspringen könnte. Ich sagte sofort zu. Es bestand keinerlei Aussicht, in der kurzen Zeit auch nur annähernd das zu verdienen, was ich gebraucht hätte, aber für einen Strauß, ein paar besondere Kerzen, ein Buch würde es vielleicht reichen. Ich brauchte nicht mit völlig leeren Händen zur Bescherung in das schöne Haus zu gehen. Am Weihnachtsabend würde man, so hoffte ich, über die Bescheidenheit der Gabe hinwegsehen.

      Auf Schulbesuch musste verzichtet werden. In diesen Tagen beschränkte der Unterricht sich ohnehin auf gemeinsames Frühstück